Vahid

Vorwort

Wir haben das Glück in einer Zeit und in einem Land zu leben, in dem wir frei sind, unsere Meinung zu äußern und uns für die Dinge einzusetzen, von denen wir überzeugt sind. Doch dieses Privileg ist bei weitem nicht überall auf der Welt und seit jeher gegeben. In den nächsten Kapiteln werden Geschichten von jungen Menschen erzählt, die vor ca. 150 Jahren im heutigen Iran lebten und für ihre Überzeugungen verfolgt wurden. Sie standen, als die ersten Gläubigen einer neuen Religion, gegen die althergebrachten Normen, Traditionen und Wertvorstellungen und lehrten – im krassen Gegensatz zur damaligen patriarchalischen Gesellschaft – die Vision einer geeinten Menschheit, in der die Gleichberechtigung von Mann und Frau und die Harmonie von Religion und Wissenschaft Pfeiler der Gesellschaft sind.

Auch wenn wir heute in einer anderen gesellschaftlichen Situation leben, muss dennoch jeder Einzelne tagtäglich für seine Überzeugungen einstehen. Wir werden zwar nicht mit unserem Leben bedroht, es erfordert aber trotzdem Mut gegen Ungerechtigkeit und Hass einzutreten. Diesen Mut zu beweisen verbindet uns mit den Helden der Vergangenheit und lässt uns verstehen, was sie durchgemacht haben.

Sich dessen bewusst zu werden, dass sie sich nicht mal um Haaresbreite von dem abwandten, was sie als richtig und wahr angesehen haben, hinterlässt uns allen eine bleibende Inspiration und das angewandte Beispiel für aufrichtige Liebe gelebtem Glauben.

 

 

Nachdem der Ruf des Bab weithin für Aufsehen in ganz Persien, auch unter den höchsten Sitzen der Amtsgewalt, erregte, sah sich auch der König von Persien veranlasst, die Richtigkeit der Offenbarung des Bab zu überprüfen und schickte einen Mann nach Shiraz, der ihm über alles, was er gesehen und gehört hatte, berichten sollte.

Dieser Gesandte war Siyyid Yahyáy-i-Dárábí, später bekannt unter Vahid, der gelehrteste, eloquenteste und einflussreichste seiner Untertanen, in den der König sein volles Vertrauen setzte. Vahid wurde im Jahre 1811 in Shiraz geboren und begab sich später nach Tihran , wohin ihm sein Ruf und seine Popularität vorausgeeilt waren. Die Regierung würdigte sein Wissen und seine Verdienste voll und ganz, und mehr als einmal wurde er bei schwierigen Angelegenheiten um Rat gefragt. Unter den führenden Persönlichkeiten in Persien nahm er eine so hervorragende Stellung ein, dass, wo immer er auch in Erscheinung trat, und mochten noch so viele geistliche Führer anwesend sein, er unweigerlich zum Hauptredner wurde. Niemand wagte, in seiner Anwesenheit eigene Ansichten geltend zu machen. Sie alle bewahrten achtungsvolle Stille vor ihm; jeder bestätigte seine Klugheit, sein unschlagbares Wissen und die Tiefe seiner Weisheit. ‘Abdu‘l-Bahá sagte über ihn:

„Dieser bemerkenswerte Mann, diese kostbare Seele hat nicht weniger als dreißigtausend Überlieferungen auswendig gelernt. In allen Schichten der Bevölkerung wurde er hoch geachtet und bewundert. Er hatte in Persien allgemeinen Ruhm erlangt, und seine Autorität und Gelehrsamkeit wurden weit und breit anerkannt.“

Vahíd selbst hatte bereits den Wunsch, aus erster Hand über die Ansprüche des Báb unterrichtet zu werden. Doch widrige Umstände hatten ihm nicht erlaubt, die Reise nach Fárs zu unternehmen. Auf die Botschaft des Königs hin beschloss er, seine lang gehegte Absicht auszuführen. Er versicherte dem Herrscher seine Bereitwilligkeit, seine Aufgabe zu erfüllen und machte sich unverzüglich auf die Reise nach Shíráz, wo er als Ehrengast der persischen Krone residierte. Unterwegs überlegte er sich verschiedenen Fragen, die er dem Báb vorzulegen gedachte. Aus den Antworten, die er auf diese Fragen erhielte, müsste, so dachte er bei sich, die Wahrheit und Glaubwürdigkeit Seiner Sendung hervorgehen. Bei seiner Ankunft in Shíráz traf er einen der bekannten Bábí namens Azím. Er fragte ihn, ob er mit seiner Unterredung mit dem Báb zufrieden sei. Azím erwiderte, dass er Ihm selbst begegnen müsse und sich anschließend unabhängig eine Meinung über Seine Sendung zu bilden habe. Als Freund rate er ihm jedoch, bei seinen Gesprächen mit dem Báb äußerst genau zu überlegen was er sage und sich nicht zu Unhöflichkeiten hinreissen zu lassen.

Der besondere Moment war nun gekommen und Vahíd begegnete dem Báb mit einer jener Haltung der Höflichkeit, zu der ihn Azim geraten hatte. Etwa zwei Stunden lang lenkte Vahid die Aufmerksamkeit des Báb auf die schwer verständlichen und verwirrenden Themen der metaphysischen Lehren des Islam, auf die dunkelsten Kapitel im Qur‘an und die mysteriösen Überlieferungen und Prophezeiungen der heiligen Imáme. Der Báb hörte zunächst seinen gelehrten Ausführungen über Gesetze und Prophezeihungen des Islam zu, nahm all seine Fragen auf und begann dann, auf jede eine kurze, aber überzeugende Antwort zu geben. Die Bündigkeit und Klarheit Seiner Antworten erregten Staunen und Bewunderung in Vahíd. Ein Gefühl der Scham überkam ihn angesichts seines Stolzes. Sein Überlegenheitsgefühl schwand völlig dahin. Als er aufstand, sich zu verabschieden, sprach er zum Báb die Worte: „So Gott will, werde ich im Laufe meiner nächsten Unterredung mit Dir den Rest meiner Fragen vorbringen und damit meine Untersuchung abschließen.“ Sobald er sich zurückgezogen hatte, suchte er ‘Azím auf und berichtete ihm über den Verlauf seiner Unterredung. „Ich habe in Seiner Gegenwart“, sagte er ihm, „übertrieben weitschweifig mein eigenes Wissen ausgebreitet. Er war in der Lage, in wenigen Worten meine Fragen zu beantworten und meine verwirrten Probleme zu lösen. Ich fühlte mich so klein vor Ihm, dass ich schnell bat, mich verabschieden zu dürfen.“ ‘Azím erinnerte ihn an seinen früheren Rat zur Höflichkeit und appellierte an ihn, seinem Ratschlag das nächste Mal nicht zu vergessen. Im Laufe seiner zweiten Unterredung entdeckte Vahíd mit Schrecken, dass ihm sämtliche Fragen, die er dem Báb stellen wollte, entfallen waren. Er erlebte aber zu seiner noch größeren Überraschung, dass der Báb mit derselben Schlüssigkeit und Klarheit, die Seine früheren Erwiderungen auszeichneten, genau auf die Fragen Antwort gab, die er im Augenblick vergessen hatte. „Mir war, als ob ich in tiefen Schlaf gefallen wäre“, sagte er später.

„Seine Worte, Seine Antworten auf Fragen, deren Formulierung ich vergessen hatte, weckten mich auf. Eine Stimme flüsterte mir ins Ohr: ‚Sollte dies nach allem wirklich nur Zufall sein?‘ Ich war zu erregt, um meine Gedanken sammeln zu können. Wieder bat ich, mich verabschieden zu dürfen. ‘Azím, den ich anschließend traf, empfing mich mit kühler Gleichgültigkeit und bemerkte düster: ‚Wenn doch die Schulen alle abgeschafft wären und nie einer von uns eine betreten hätte! Durch unsere Engstirnigkeit und unsere Einbildung halten wir selbst die erlösende Gnade Gottes von uns fern und bereiten Ihm, der ihre Quelle ist, Kummer. Willst du nicht endlich Gott um die Gunst bitten, dass Er dich befähige, mit geziemender Demut und Loslösung vor Ihn zu treten, damit Er vielleicht gnädiglich den Druck der Ungewißheit und des Zweifels von dir nehme?‘ Ich nahm mir vor, bei meiner dritten Unterredung mit dem Báb Ihn in meinem innersten Herzen zu bitten, für mich einen Kommentar zur Sure Kawthar (108. Sure des Qur’an) zu offenbaren. Ich nahm mir vor, in Seiner Gegenwart nichts von dieser Bitte zu äußern. Sollte Er, ohne dass ich danach fragte, diesen Kommentar in einer Weise abgeben, die ihn in meinen Augen eindeutig abhob von den gängigen und für die Ausleger des Koran gültigen Maßstäben, dann wollte ich überzeugt sein von der Göttlichkeit Seiner Sendung und mich gerne zu Seiner Lehre bekennen. Wenn nicht, wollte ich Ihm die Anerkennung verweigern. Kaum stand ich Ihm dann gegenüber, da ergriff mich plötzlich ein unerklärliches Gefühl der Angst. Meine Glieder zitterten, als ich Ihm ins Angesicht sah. Ich, der ich doch zu verschiedenen Anlässen schon dem Sháh gegenübergestanden und nie auch nur die geringste Spur von Schüchternheit an mir bemerkt hatte, fühlte mich nun so von Ehrfurcht erfüllt und so erschüttert, dass ich mich nicht mehr auf den Füßen zu halten vermochte. Der Báb, der meine Not sah, erhob sich von Seinem Sitz, ging auf mich zu, nahm mich bei der Hand und setzte mich neben sich. ‚Verlange von Mir‘, sprach Er, ‚was immer dein Herz wünscht. Ich will es dir gern offenbaren.‘ Ich war sprachlos vor Staunen. Wie ein Säugling, der weder verstehen noch sprechen kann, war ich unfähig, zu antworten. Er lächelte, als Er mich ansah und sprach: ‚Würdest du zugeben, dass Meine Worte aus dem Geiste Gottes geboren sind, wenn Ich dir den Kommentar zur Sure Kawthar offenbaren würde? Würdest du anerkennen, dass Meine Worte in keiner Weise mit Zauberei und Magie in Zusammenhang gebracht werden können?‘ Die Tränen stürzten mir aus den Augen, als ich Ihn diese Worte sprechen hörte. Alles, was ich sagen konnte, war dieser Vers aus dem Koran: ‚O unser Herr, mit uns selbst sind wir ungerecht verfahren: wenn Du uns nicht vergibst und nicht Erbarmen mit uns hast, gehören wir sicherlich zu denen, die umkommen.‘ Es war noch früh am Nachmittag, als der Báb Hájí Mírzá Siyyid Alí bat, Ihm Seinen Federkasten und etwas Papier zu bringen. Dann begann Er, Seinen Kommentar zur Sure Kawthar zu offenbaren. Seiner Feder entströmten Verse mit einer Schnelligkeit, die wahrhaft erstaunlich war. Die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der Er schrieb, das sanfte und leise Murmeln Seiner Stimme, die zwingende Kraft Seines Stils waren erstaunend. Auf diese Weise schrieb Er bis Sonnenuntergang. Er setzte nicht ab, bis der ganze Kommentar fertig war. Dann legte Er Seine Feder nieder und bat um Tee. Danach begann Er gleich, ihn mir laut vorzulesen. Mein Herz klopfte wie rasend, als ich zuhörte, wie Er in Lauten von unaussprechlicher Süße die Schätze ausbreitete, die in jenem erhabenen Kommentar verwahrt sind. Ich war so hingerissen von seiner Schönheit, dass ich dreimal am Rande einer Ohnmacht war. Er versuchte, meine schwindenden Lebensgeister mit einigen Tropfen Rosenwasser wieder zu beleben, die Er mir ins Gesicht sprengen ließ. Dies stellte meine Kräfte wieder her und setzte mich instand, Seiner Lesung bis zum Ende zu folgen.“

Das Herz Vahíds wurde jedenfalls vollkommen erobert von der Liebe zum Báb. Sicherlich musste die Tatsache, in einer unvergleichlichen Geschwindigkeit einen neuen Kommentar über eine Sure zu schreiben, deren Sinn so dunkel ist, Vahíd sehr in Staunen versetzen. Aber was ihn noch mehr überraschte, war, dass er in diesem Kommentar einige Auslegungen wiederfand, auf die er selbst in seinen Meditationen über diese drei Koranverse gekommen war und von der er dachte, dass er sie als einziger entdeckt hätte.
Die lange Abwesenheit Vahíds ließ den Gouverneur Husayn Khán Verdacht schöpfen. Vahíd beschloss daher, sich zu verabschieden und wieder zum Wohnsitz des Gouverneurs zurückzukehren. Bei seiner Ankunft zeigte sich Husayn Khán sehr begierig in Erfahrung zu bringen, ob auch er dem magischen Einfluss des Báb zum Opfer gefallen sei, worauf Vahíd antwortete: „Niemand außer Gott, der einzig und allein die Herzen der Menschen zu wandeln vermag, mein Herz gefangenzunehmen. Wer immer sein Herz einfangen kann, ist von Gott, und Sein Wort ist ohne Zweifel die Stimme der Wahrheit.“ Der Gouverneur schrieb daraufhin an den König und ließ sich bei ihm über Vahíd aus. Es wird berichtet, dass der König selbst einmal bei der Ausübung seiner Amtsgeschäfte in der Hauptstadt zu seinem Minister gesagt habe: „Man hat uns unlängst mitgeteilt, dass Vahíd ein Bábí geworden sei. Wenn das wahr sein sollte, dann wäre es unsere Pflicht, damit aufzuhören, diese Sache herabzusetzen.“ Der Governeur seinerseits erhielt den kaiserlichen Befehl, dass keine Schandtaten und Verleumdungen gegen Vahid aus Achtung ihm gegenüber ausgeübt werden dürfen.

Kurze Zeit danach reiste Vahid in alle Teile Persiens, um in jeder Stadt und bei jedem Aufenthalt die Lehren des Bab zu verkünden und proklamierte, dass nun ein neues Zeitalter angebrochen sei. Als er mit seinem Freund, dem gelehrten Siyyid Ja’far, nach Nayriz gekommen war, führten die Verkündigungen und Vorträge der beiden dazu, dass große Scharen aus der Bevölkerung den Glauben annahmen. Angestachelt durch den grauenvollen Gouverneur der Stadt, Zaynu’l-‘Ábidín, erhoben sich die Behörden in Zusammenarbeit mit der Geistlichkeit, um die Bábí zu bekämpfen, welche sich – angesichts der militärischen Bedrohung – gezwungen sahen, in einer alten Festung vor der Stadt Zuflucht zu suchen. Obwohl ihnen die Armee weit überlegen war und sie selbst keine militärische Ausbildung besaßen, verteidigten sie die Festung mit solchem Heldenmut, dass die Soldaten sie nicht einnehmen konnten. Als der Gouverneur die Ausweglosigkeit eines Waffenganges erkannte, griff er zum Mittel des Verrats und der Täuschung. Er sandte Vahíd und seinen Gefährten eine schriftliche Botschaft, in der er versprach, die Wahrheit der Sache des Báb erforschen zu wollen und alles Blutvergießen zu beenden. Er sandte ihnen zudem einen Koran, in dem er durch sein Siegel seinem Ehrenwort Ausdruck verlieh, die Bábí keinesfalls anzugreifen. Vahíd, ihres Verrats bewusst, beschloss dennoch aus Ehrerbietung gegenüber dem Koran die Festung zu verlassen und sich zum feindlichen Lager zu begeben. Nachdem die anderen Verteidiger, durch eine Intrige des Gouverneurs ebenfalls nach drei Tagen die Festung räumten, wurden die meisten von ihnen, gemeinsam mit Vahíd, schändlich getötet.

 

 

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