VORBILDER DER TREUE
ABDU’L-BAHÁ
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Vorbilder der Treue
[2]
Portrait: Schwarzweiß ganzseitig
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‚Abdu’l-Bahá
Vorbilder der Treue
Erinnerungen an frühe Gläubige
Bahá’í-Verlag
[4]
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Nach der englischen Vorlage „Memorials of the Faithful“
translated from the original Persian text and annotated by Marzieh Gail.
Copyright 1971 by the NSA of the Bahá’ís of USA
ins Deutsche übertragen.
(c) BAHÁ’Í-VERLAG GMBH D-6238 Hofheim-Langenhain 1987-144
ISBN 3-87037-195-1 (422-5)
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort Marzieh Gails
1 p.13 Nabíl-i-Akbar
2 p.19 Ismu’lláhu’l-Asdaq
3 p.23 Mullá ‚Alí-Akbar
4 p.27 Shaykh Salmán
5 p.31 Mirzá Muhammad-‚Alí, Afnán
6 p.37 Hájí Mirzá Hasan, Afnán
7 p.40 Muhammad-‚Alíy-i-Isfahání
8 p.43 ‚Abdu’s-Sálih, der Gärtner
9 p.46 Ustád Ismá’íl
10 p.50 Nabíl-i-Zarandí
11 p.55 Darvísh Sidq-‚Alí
12 p.58 Áqá Mírzá Mahmúd und Áqá Risá
13 p.61 Pidar-Ján von Qazvín
14 p.63 Shaykh Sádiq-i-Yazdí
15 p.65 Sháh-Muhammad-Amín
16 p.68 Mashhadí Fattáh
17 p.70 Nabíl von Qá’in
18 p.76 Siyyid Muhammad-Taqí Manshádí
19 p.80 Muhammad-‚Alí Sabbáq von Yazd
20 p.83 ‚Abdu’l-Ghaffár von Isfahán
21 p.85 ‚Alí Najaf-Ábádí
22 p.87 Mashhadí Husayn und Mashhadí Muhammad-i-Ádhirbáyjání
23 p.89 Hájí ‚Abdu’r-Rahím-i-Yazdí
24 p.92 Hájí ‚Abdu’lláh Najaf-Ábádi
25 p.93 Muhammad-Hádíy-i-Sahháf
26 p.96 Mirzá Muhammad-Qulí
27 p.98 Ustád Báqir und Ustád Ahmad
28 p.100 Muhammad Haná-Sáb
29 p.102 Hájí Faraju’lláh Tafríshí
30 p.104 Áqá Ibráhím-i-Isfahání und seine Brüder
31 p.108 Áqá Mubammad-Ibráhím
32 p.110 Zaynu’l-‚Ábidín Yazdí
33 p.112 Hájí Mullá Mihdíy-i-Yazdí
34 p.115 Seine Ehren Kalím (Mírzá Músá)
35 p.120 Hájí Muhammad Khán
36 p.123 Áqá Muhammad-Ibráhím Amír
37 p.124 Mírzá Mihdíy-i-Káshání
38 p.127 Mishkín-Qalam
39 p.132 Ustád ‚Alí-Akbar-i-Najjár
40 p.134 Shaykh ‚Alí-Akbar-i-Mázgání
41 p.136 Mírzá Muhammad, der Diener in der Herberge
42 p.138 Mírzá Muhammad-i-Vakíl
43 p.147 Hájí Muhammad-Ridáy-i-Shírází
44 p.149 Husayn Effendi Tabrízí
45 p.151 Jamshíd-i-Gurjí
46 p.154 Hájí Ja’far-i-Tabrízí und seine Brüder
47 p.158 Hájí Mírzá Muhammad-Taqí, Afnán
48 p.162 ‚Abdu’lláh Bagbhádí
49 p.164 Muhammad-Musjafá Baghdádí
50 p.168 Sulaymán Khán-i-Tunukábání
51 p.173 ‚Abdu’r-Rahmán, der Kupferschmied
52 p.174 Muhammad-Ibráhím-i-Tabrízí
53 p.176 Muhammad-‚Alíy-i-Ardikání
54 p.178 Hájí Áqáy-i-Tabrízí
55 p.180 Ustád Qulám-‚Alíy-i-Najjár
56 p.182 Jináb-i-Muníb
57 p.185 Mírzá Mustafá Naráqí
58 p.188 Zaynu’l-Muqarribín
59 p.192 ‚Azím-i-Tafríshí
60 p.194 Mírzá Ja’far-i-Yazdí
61 p.197 Husayn-Áqáy-i-Tabrízí
62 p.200 ‚Alí-‚Askar-i-Tabrízí
63 p.204 Áqá ‚Alíy-i-Qazvíní
64 p.207 Áqá Muhammad-Báqir und Áqá Muhammad-Ismá’íl, der Schneider
65 p.211 Abu’l-Qásim von Sultán-Ábád
66 p.212 Áqá Faraj
67 p.214 Die Gemahlin des Königs der Märtyrer
68 p.217 Shams-í-Duhá
69 p.232 Táhirih
p.246 Zur Aussprache der persisch-arabischen Namen
p.247 Literaturverzeichnis
p.248 Glossar
p.251 Stichwortverzeichnis
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Shoghi Effendi,
dem Hüter des Bahá’í-Glaubens, hat die Übersetzerin
Marzieh Gail die englische Fassung dieses Buches gewidmet.
[9]
Vorwort
Dieses Buch berichtet von Menschen, die eher ins Gefängnis zu kommen als ihm zu entgehen suchten, denn sie waren Gefangene einer großen Liebe. Ihre Liebe galt Bahá’u’lláh, den die Welt des neunzehnten Jahrhunderts in Ketten legte und zum Schweigen zu bringen suchte, indem sie Ihn schließlich in der Kreuzfahrerfeste ‚Akká einkerkerte. Wie das stille Auge eines Wirbelsturms steht Er im Mittelpunkt dieser Berichte, wenn Er auch kaum in ihnen auftritt – Er bleibt, wie Shoghi Effendi es beschrieben hat, „erhaben in Seiner Majestät, würdevoll, ehrfurchtgebietend, unnahbar herrlich“.
Der Leser wird sich vielleicht in diesen Seiten wiederfinden, in dem Juwelier von Baghdád, in einem Tellerwäscher oder in dem Professor, der den Hochmut seiner Standesgenossen nicht länger tragen konnte. Mystiker, Frauenrechtlerinnen, Geistliche, Künstler, Kaufleute und Priester treten auf. Sogar die westliche Jugend von heute findet man hier, zum Beispiel in den Geschichten über Derwische. Denn dies ist mehr als eine Sammlung kurzer Lebensbeschreibungen früher Bahá’í, es ist gewissermaßen eine Sammlung von Prototypen, eine Art Testament von Werten, die ‚Abdu’l-Bahá, selbst das vollkommene Beispiel, uns anvertraut und hinterlassen hat, Werte, die man heute verlacht, die aber unerläßlich sind, wenn die Erde für die Menschheit bewohnbar und sicher werden soll. Es sind kurze, einfache Berichte, aber sie bilden einen Leitfaden für die Kunst zu leben und zu sterben.
Die Aufgabe, diese Biographien ins Englische zu übersetzen, wurde mir vom Hüter übertragen, als ich vor vielen Jahren auf Pilgerreise im Bahá’í-Weltzentrum in Haifa war. Der Hüter sandte mir bald darauf den Text, aus dem zu übersetzen war, nach Tihrán.
Es war, wie die persische Titelseite zeigt, das erste Bahá’í-Buch, das während der Amtszeit des Hüters in Haifa gedruckt wurde. Der persischen Einleitung zufolge schrieb ‚Abdu’l-Bahá das Buch 1915 und gab M. A. Kahrubá’í die Erlaubnis zur Veröffentlichung. Der Druck ist 1924 datiert und trägt das Siegel der Bahá’í-Gemeinde Haifa. Eine zweite Titelseite auf englisch beschreibt das Buch als „einen Bericht aus der Feder ‚Abdu’l-Bahás über das Leben einiger früher Bahá’í, die zu Seinen Lebzeiten verstarben“, wenngleich das Werk eigentlich nach mündlichen Äußerungen Abdu’l-Bahás aufgezeichnet wurde.
So ist lange nach Seinem Hinscheiden der Welt mit dieser Übersetzung ein neues Buch ‚Abdu’l-Bahás geschenkt. Wer von uns hätte wohl am Ende eines unglaublich schweren, mühseligen Lebens die verbleibende Zeit nicht den persönlichen Erinnerungen, sondern dem Leben von rund siebzig Gefährten, deren viele schon längst gestorben waren, gewidmet, um sie dem Vergessen zu entreißen? Bei vielen der beschriebenen Ereignisse war Abdu’l-Bahá selbst zugegen, aber Er tritt immer wieder zurück, um einen Gefährten ins Licht zu rücken, oftmals einen so demütigen, daß die verstreichende Zeit ihn sicher dem Vergessen anheimgegeben hätte. Und wenn diese Gläubigen dem Spötter bessere Menschen zu sein scheinen als gewöhnliche Sterbliche, sollten wir daran denken, daß es die Gegenwart der Manifestation Gottes war, die sie so werden ließ, und daß sie durch die Augen des Meisters gesehen sind, der sagt, daß das unvollkommene Auge Unvollkommenheiten sieht und daß es leichter ist, Gott wohlzugefallen als den Menschen.
So ist dieses Buch ein weiteres Zeichen für ‚Abdu’l-Bahás Liebe zur Menschheit. Die Liebe, die Er verkörperte, war nicht blind, sondern aufmerksam, nicht unpersönlich, sondern herzlich und zart, sie war die stete Zuwendung einer unaufdringlichen Fürsorge. Solche Liebe einer solchen Persönlichkeit endet nicht mit dem zeitlichen Leben. Er verließ diese Welt vor langer Zeit und viele von denen, die Ihn so liebten, daß Übelwollende sagten, sie seien keine Bahá’í sondern ‚Abdu’l-Bahá’í, sind unseren Blicken entschwunden. ‚Abdu’l-Bahás Liebe aber bleibt; alle können sie finden.
Marzieh Gail
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Vorbilder der Treue
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1 [13] Nabíl-i-Akbar1
1 Nicht zu verwechseln mit Nabíl-i-Zarandí, dem Verfasser von Nabíls Bericht, und Nabíl-i-Qá’iní (aus derselben Heimatstadt wie Nabíl-i-Akbar). Beide werden von ‚Abdu’l-Bahá an anderer Stelle gewürdigt: 10 p.50 und 2 p.17
1:1 In der Stadt Najaf gab es unter den Schülern des bekannten Mujtahid Shaykh Murtadá einen einzigartigen, unvergleichlichen Mann namens Áqá Muhammad-i-Qá’iní, der später von Bahá’u’lláh den Namen Nabíl-i-Akbar erhielt. Bald war diese hervorragende Seele der erste im Schülerkreis des Mujtahid. Als einziger wurde er zum Rang eines Mujtahid erhoben; denn der verstorbene Shaykh Murtadá wollte diesen Titel nie vergeben.
1:2 Nabíl-i-Akbar hatte nicht nur hervorragende Kenntnisse in Theologie, sondern auch in anderen Bereichen wie den Sprachwissenschaften, der Philosophie der Illuminaten, den Lehren der Mystiker und der Shaykhí. Er war ein Universalgelehrter, eine überzeugende Persönlichkeit. Als seine Augen dem Lichte der göttlichen Führung geöffnet wurden, als er die himmlischen Düfte atmete, wurde er zu einer Flamme Gottes. Das Herz erglühte ihm in der Brust, und in freudiger, liebestrunkener Verzückung schrie er auf wie Leviathan in der Tiefe.
1:3 Lob und Preis regneten auf ihn nieder, als er vom Mujtahid seinen neuen Rang erhielt. Er verließ Najaf und kam nach Baghdád, wo er die Ehre hatte, Bahá’u’lláh zu begegnen. Hier schaute er das Licht, das im Heiligen Baume des Sinai leuchtete. Bald war er in einem Zustand, daß er weder bei Tag noch bei Nacht Ruhe fand.
1:4 In den nach außen gelegenen Gemächern, die den Männern vorbehalten waren, kniete der hochgeehrte Nabíl eines Tages ehrfurchtsvoll in der Gegenwart Bahá’u’lláhs, als Hájí Mírzá Hasan-‚Amú, ein vertrauter Gefährte des Mujtahids von Karbilá, in Begleitung von Zaynu’l-‚Ábidín Khán, dem Fakhru’d-Dawlih, eintrat. Der Hájí war sehr verwundert, Nabíl in so demütiger, ehrerbietiger Haltung knien zu sehen.
1:5 „Mein Herr, was tun Sie hier?“ flüsterte er.
1:6 Nabíl antwortete: „Ich kam aus dem gleichen Grund hierher wie Sie.“
1:7 Die beiden Besucher konnten sich vor Erstaunen kaum fassen, stand doch Nabíl unter den Mujtahids einzig da und war der Lieblingsschüler des berühmten Shaykh Murtadá.
1:8 Später reiste Nabíl-i-Akbar nach Persien und zog bis Khurásán. Der Emir von Qá’in, Mir ‚Alam Khán, erwies ihm zuerst jede Höflichkeit und schätzte seine Gesellschaft so offensichtlich, daß die Leute dachten, er sei von Nabíl bezaubert. In der Tat fesselten ihn Nabíls Beredsamkeit, Wissen und Bildung. Man kann daraus ermessen, mit welchen Ehren Nabíl überschüttet wurde, denn „die Menschen folgen dem Glauben ihrer Könige“.
1:9 So verbrachte Nabíl einige Zeit in Gunst und hohem Ansehen. Aber seine Liebe zu Gott war nicht zu verbergen. Sie brach aus seinem Herzen hervor wie eine Flamme, die ihre Hülle verzehrt.
1:10 `Ich versuchte tausend Wege,
Meine Liebe zu verbergen;
Aber wie könnte ich
Auf diesem glühenden Scheiterhaufen stehen,
Ohne Feuer zu fangen?`
1:11 Nabíl brachte Licht in die Gegend um Qá’in und bekehrte eine große Zahl von Menschen. Und als er überall unter diesem neuen Namen bekannt war, stand die Geistlichkeit neidisch und mißgünstig auf und zeigte ihn an. Sie schickten ihre Verleumdungen nach Tihrán, so daß Násiri’d-Dín Sháh in Wut entbrannte. Aus Furcht vor dem Sháh griff der Emir Nabíl mit ganzer Macht an. Bald war die ganze Stadt in Aufruhr, und das aufgereizte Volk fiel wütend über Nabíl her.
1:12 Er jedoch, entflammt in seiner Liebe zu Gott, wich keinen Schritt zurück und widerstand allen. Schließlich jagten sie ihn jedoch aus der Stadt – verjagten einen Mann, der sah, was sie selbst nicht sahen -, und Nabíl ging nach Tihrán, wo er als heimatloser Flüchtling lebte.
1:13 Aber auch in Tihrán fielen seine Feinde über ihn her. Häscher verfolgten ihn, die Wachen suchten ihn allenthalben, forschten nach ihm in Gassen und Straßen, jagten ihm nach, um ihn zu fangen und zu foltern. Aus seinem Versteck schlich er wie der Seufzer des Unterdrückten an ihnen vorbei und stieg hinauf in die Berge, oder er glitt wie die Tränen des Gequälten hinunter ins Tal. Den Turban, ein Zeichen seines Ranges, konnte er nicht länger tragen. Er verkleidete sich, setzte einen gewöhnlichen Hut auf, damit man ihn nicht erkannte und ihn in Ruhe ließe.
1:14 Im geheimen verbreitete er weiterhin mit allen Kräften den Glauben Gottes, legte seine Beweise dar und war eine Lampe der Führung für viele Seelen. Fortwährend der Gefahr ausgesetzt, mußte er immer wachsam und auf der Hut sein. Die Regierung gab die Suche nach ihm nie auf, und die Leute wurden nicht müde, seinen Fall zu bereden.
1:15 Er zog nach Bukhárá und nach ‚Ishqábád, unaufhörlich den Glauben auch in diesen Gegenden lehrend. Wie eine Kerze brauchte er sein Leben auf, aber trotz aller Leiden war er nie entmutigt, denn sein freudiger Eifer wuchs von Tag zu Tag. Er war ein gewandter Redner, ein geschickter Arzt, eine Arznei für jede Krankheit, ein Balsam für jede Wunde. Die Illuminaten führte er durch ihre eigenen philosophischen Grundsätze, und bei den Mystikern bewies er die göttliche Wiederkehr mit Begriffen wie „Inspiration“ und „Himmlische Schau“. Die Shaykhí-Führer überzeugte er, indem er die Worte der verstorbenen Gründer ihrer Schule, Shaykh Ahmad und Siyyid Kázim, anführte, und islámische Theologen bekehrte er mit Stellen aus dem Qur’án und aus den Überlieferungen der Imáme, die die Menschheit rechtleiten. So war er ein schnell wirkendes Heilmittel für die Kranken, eine reiche Gabe für die Armen.
1:16 In Bukhárá war er zuletzt mittellos und Opfer vieler Schwierigkeiten, bis er fern seiner Heimat starb und zu dem Königreich eilte, in dem es keine Armut gibt.
1:17 Nabíl-i-Akbar war der Verfasser eines meisterhaften Versuchs, die Wahrheit der Sache Gottes zu beweisen. Die Freunde haben dieses Werk zur Zeit nicht. Ich hoffe, es wird bald auftauchen und den Gelehrten zur Mahnung dienen. In dieser schnell vergänglichen Welt war Nabíl wirklich die Zielscheibe zahlloser Leiden; indessen werden Generationen machtvoller Geistlicher, Shaykhs wie Murtadá und Mírzá Habibu’lláh, Áyatu’lláh-i-Khurásání und Mullá Asadu’lláh-i-Mázandarání dahinschwinden ohne jede Spur. Keinen Namen, kein Zeichen, keine Frucht werden sie hinterlassen. Kein Wort wird von ihnen überliefert werden, kein Mensch wird mehr von ihnen reden. Aber Nabíl, der standhaft in diesem heiligen Glauben stand, Nabíl, der die Seelen führte, der Sache Gottes diente und ihren Ruhm verbreitete, der Stern Nabíl wird immer strahlen vom Horizont ewigen Lichtes.
1:18 Jeder außerhalb der Sache Gottes erworbene Ruhm wendet sich am Ende in Erniedrigung. Ruhe und Bequemlichkeit, die nicht auf dem Pfade Gottes gefunden werden, sind letztlich nur Sorge und Kummer, und all solcher Reichtum ist Armut und nichts weiter.
1:19 Ein Zeichen der Führung war Nabíl, ein Sinnbild der Gottesfurcht. Für diesen Glauben gab er sein Leben hin und triumphierte im Sterben. Er ging vorüber an der Welt und all ihrem Lohn, verschloß seine Augen vor Rang und Reichtum, befreite sich von all diesen Ketten und Fesseln und schob jeden weltlichen Gedanken hinweg. Von umfassender Gelehrsamkeit, Mujtahid, Philosoph und Mystiker, begnadet mit einfühlsamer Schau, war er überdies ein ausgezeichneter Schriftsteller und ein unvergleichlicher Redner. Er hatte einen großen, weltumfassenden Geist.
1:20 Preis sei Gott! Am Ende empfing er himmlische Gnade. Auf ihm sei die Herrlichkeit Gottes, des Allherrlichen. Möge Gott den Strahlenglanz des Reiches Abhá über seiner Ruhestatt verströmen. Möge Gott ihn willkommen heißen im Paradies der Wiedervereinigung und ihn ewig beherbergen im Reiche der Rechtschaffenen, versunken in einem Meer von Licht.
2 [19] Ismu’lláha’l-Asdaq
2:1 Eine der Hände der Sache Gottes, welche aus diesem Leben gegangen und zum Horizont des Höchsten aufgestiegen sind, war Jináb-i-Ismu’lláhu’l-Asdaq. Andere Hände der Sache waren Jináb-i-Nabíl-i-Akbar, Jináb-i-Mullá ‚Alí-Akbar und Jináb-i-Shaykh Muhammad-Ridáy-i-Yazdí, ebenso der verehrte Märtyrer Áqá Mírzá Varqá.
2:1 Ismu’lláhu’l-Asdaq war vom ersten bis zum letzten Atemzug ganz gewiß ein echter Diener Gottes. Als er jung war, trat er in den Schülerkreis des Siyyid Kázim ein. In ganz Persien war er bekannt für sein reines Leben, berühmt als Mullá Sádiq, der Heilige. Er war ein begnadeter Mensch, feingebildet, gelehrt und hochverehrt. Das Volk von Khurásán hing sehr an ihm, denn er war ein großer Gelehrter und zählte zu den berühmtesten unter den unvergleichlichen, hervorragenden Theologen. Als Lehrer des Glaubens sprach er so gewandt, so außergewöhnlich machtvoll, daß er die Zuhörer mühelos überzeugte.
2:3 Nach Baghdád und in die Gegenwart Bahá’u’lláhs gelangt, saß er eines Tages im Hof des Männerhauses neben dem kleinen Garten. Ich befand mich über ihm in einem Zimmer, welches auf den Hof hinausging. Da betrat ein persischer Prinz, ein Enkel Fath-‚Alí Sháhs, das Haus und fragte ihn: „Wer bist du?“ Ismu’lláh antwortete: „Ich bin ein Diener an dieser Schwelle. Ich bin einer der Torhüter.“ Und ich hörte, wie er den Glauben zu lehren begann. Anfangs widersprach der Prinz heftig, aber schon nach einer Viertelstunde war es Jináb-i-Ismu’lláh gelungen, ihn freundlich und liebreich zu beruhigen. Nachdem der Prinz zunächst alles Gesagte scharf abgestritten hatte, wobei sein Gesicht deutlich seine Wut widerspiegelte, war jetzt sein Zorn einem Lächeln gewichen, und er äußerte sich entzückt über Ismu’lláhs Rede und über die Begegnung mit ihm.
2:4 Ismu’lláh lehrte immer liebevoll und fröhlich, antwortete liebenswürdig und gutgelaunt, einerlei wieviel leidenschaftlichen Widerstand ihm seine Gesprächspartner entgegenbrachten. Seine Art zu lehren war ausgezeichnet, er war in Wahrheit Ismu’lláh, der Name Gottes, nicht wegen seines Ruhms, sondern weil er eine erwählte Seele war.
2:5 Ismu’lláh kannte eine große Zahl islámischer Überlieferungen und beherrschte die Lehren Shaykh Ahmads und Siyyid Kázims meisterlich. Frühzeitig nahm er den Glauben in Shiráz an und war bald überall als Gläubiger bekannt. Weil er sofort öffentlich und mutig zu lehren begann, legte man ihm einen Strick um und führte ihn in den Straßen und Bazaren der Stadt umher. Sogar in diesem Zustand fuhr er fort, gefaßt und lächelnd zu den Leuten zu reden. Er gab nicht nach, er ließ sich nicht zum Schweigen bringen. Als sie ihn freigaben, verließ er Shiráz, ging nach Khurásán und begann auch dort den Glauben zu verbreiten. Danach reiste er in Gesellschaft des Bábu’l-Báb zur Festung Tabarsí. Hier erduldete er mit der Schar geweihter Opfer große Leiden. Er wurde an der Festung gefangengenommen und den Führern in Mázindarán übergeben, damit sie ihn herumführten und schließlich in einem bestimmten Bezirk der Provinz töteten. Als Ismu’lláh in Ketten an dem festgesetzten Ort eintraf, rührte Gott das Herz eines Mannes, so daß er ihn nachts aus dem Kerker befreite und an einen sicheren Ort führte. Während all dieser Qualen und Prüfungen blieb Ismu’lláh standhaft in seinem Glauben.
2:6 Stellt euch zum Beispiel vor, wie der Feind die Festung ganz eingeschlossen hatte und aus seinen Belagerungsgeschützen pausenlos Kugeln hineinfeuerte. Die Gläubigen, unter ihnen Ismu’lláh, waren achtzehn Tage ohne Nahrung. Sie nährten sich vom Leder ihrer Schuhe. Auch dieses hielt nicht lange vor, und so blieb ihnen nichts als Wasser. Sie tranken jeden Morgen einen Schluck Wasser, dann lagen sie hungrig und erschöpft in ihrem Fort. Griff der Feind jedoch an, sprangen sie sofort auf. Sie legten großartigen Mut und erstaunlichen Widerstandsgeist an den Tag und drängten das Heer von ihren Mauern zurück. Der Hunger dauerte achtzehn Tage. Es war ein schreckliches Gottesgericht. Zum einen waren sie weit weg von Zuhause, umzingelt und eingeschlossen vom Feind. Zum anderen litten sie Hunger. Und schließlich waren da die plötzlichen Angriffe der Heeresmacht und die Bomben, die auf sie niederregneten und mitten im Fort explodierten. Unter solchen Bedingungen einen festen Glauben und Geduld zu wahren, ist ungeheuer schwierig, und daß solch grauenhafte Leiderfahrungen überstanden werden, ist eine seltene Erscheinung.1
1 siehe Nabíls Bericht Bd.2 S.422 Fußnote 26
2:7 Ismu’lláh wankte nicht in dem Feuerregen. Kaum war er frei, lehrte er offener als je zuvor. Jeden wachen Atemzug verbrachte er damit, das Volk zum Reich Gottes zu rufen. Im ‚Iráq gelangte er in die Gegenwart Bahá’u’lláhs, und später empfing er im Größten Gefängnis Seine Gunst und Gnade.
2:8 Er war wie ein wogendes Meer, wie ein hoch sich aufschwingender Falke. Sein Angesicht leuchtete, seine Zunge war beredt, seine Kraft und Standhaftigkeit waren erstaunlich. Öffnete er die Lippen, um zu lehren, dann entströmten ihnen die Beweise; sang er oder betete er, so quollen ihm Tränen aus den Augen wie der Regen aus einer Frühlingswolke. Sein Gesicht war leuchtend, sein Leben geistig, sein Wissen sowohl erworben als auch angeboren, und himmlisch war seine Begeisterung, seine Loslösung von der Welt, seine Rechtschaffenheit, seine Frömmigkeit und Gottesfurcht.
2:9 Ismu’lláhs Grab ist in Hamadán. So manches Tablet wurde von der Erhabenen Feder Bahá’u’lláhs für ihn offenbart, darunter ein besonderes Besuchstablet nach seinem Hinscheiden. Er war eine große Persönlichkeit, vollkommen in jeder Hinsicht.
2:10 Solche gesegneten Wesen haben jetzt diese Welt verlassen. Gott sei Dank blieben sie nicht, um der Kämpfe nach Bahá’u’lláhs Hinscheiden, dieser heftigen Heimsuchungen, Zeuge zu werden, denn festgegründete Berge werden dabei zittern und wanken, und hochragende Hügel werden sich neigen.
2:11 Er war gewiß Ismu’lláh, der Name Gottes. Glückselig, wer jenes Grab umschreitet und sich mit seinem Staube segnet. Auf ihm sei der Gruß des Reiches Abhá und sein Lobpreis!
3 [23] Mulláh ‚Alí-Akbar
3:1 Eine weitere Hand der Sache war der verehrte Mullá ‚Alí-Akbar – mit ihm sei die Herrlichkeit Gottes, des Allherrlichen. In jungen Jahren besuchte dieser edle Mann hohe Schulen, Tag und Nacht arbeitete er fleißig, bis er sich die Gelehrsamkeit seiner Zeit – Allgemeinwissen, Philosophie und religiöses Recht – gründlich angeeignet hatte. Er besuchte die Zusammenkünfte von Philosophen, Mystikern und Shaykhí. Nachdenklich durchwanderte er diese Gefilde des Wissens, intuitiver Weisheit und der Erleuchtung. Aber ihn dürstete nach dem Quell der Wahrheit, ihn hungerte nach dem Brot des Himmels. Wie sehr er auch strebte, sich in jenen geistigen Bereichen zu vervollkommnen, nie war er zufrieden. Nie erreichte er das Ziel seiner Sehnsucht. Seine Lippen blieben trocken. Er war verwirrt und bestürzt, fühlte, daß er von seinem Pfade abgekommen war. Der Grund war, daß er in all diesen Kreisen keine Leidenschaft, keine Freude, keine Verzückung, keinen Hauch von Liebe gefunden hatte. Und als er tief bis zum Kern dieser vielfältigen Glaubensformen vordrang, erkannte er, wie seit dem Tag des Propheten Muhammad bis auf unsere Zeit unzählige Sekten entstanden waren: voneinander abweichende Glaubensbekenntnisse, unvereinbare Meinungen, auseinanderlaufende Ziele, zahllose Wege und Pfade. Und er sah, wie sie alle mit diesem oder jenem Anspruch behaupteten, geistige Wahrheit zu enthüllen, alle im Glauben, sie allein folgten dem richtigen Weg, und dies alles, obwohl das Meer der Offenbarung Muhammads mit einer einzigen mächtigen Flutwelle all diese Sekten auf des Meeres Grund hinabspülen könnte. „Keinen Schrei, nicht einmal einen Seufzer, sollst du von ihnen hören.“1
1 vgl. Qur’án 19:98 3:2 Wer über die Lehren der Geschichte nachsinnt, wird erfahren, daß dieses Meer unzählige Wellen aufgeworfen hat, doch am Ende ist jede verlaufen und vergangen, wie ein Schatten vorüberzieht. Die Wellen verschwinden, aber das Meer lebt weiter. Deshalb konnte ‚Alí Qabl-i-Akbar seinen Durst niemals löschen, bis zu dem Tage, da er am Gestade der Wahrheit stand und ausrief:
3:3 `Hier ist ein Meer, randvoll mit Schätzen,
Des Wellen, windgepeitscht, wie Perlen sprühen.
Wirf dein Gewand von dir und spring hinein.!
Versuche nicht zu schwimmen.!
Sei nicht stolz, daß Schwimmen du gelernt!
Kopfüber tauche hinab!`
3:4 Sein Herz wogte und floß über wie ein Springquell. Wie sanft plätscherndes, kristallklares Wasser strömten Sinn und Wahrheit von seinen Lippen. Zuerst fing er in Demut und geistiger Armut das neue Licht ein, um es dann erst auszustrahlen. Denn wie gut ist gesagt worden:
`Soll den anderen das Geschenk des Lebens weitergeben,
Wer selbst nie Anteil daran hatte?`
Ein Lehrer muß auf diese Weise vorgehen: Er muß zuerst sich selbst lehren, dann die anderen. Wenn er selbst auf dem Pfade fleischlicher Wünsche und Gelüste wandelt, wie kann er einen anderen zu Gottes „deutlichen Zeichen“1 führen?
1 vgl. Qur’án 3:91
3:5 Dieser verehrte Mann konnte viele Menschen zum Umdenken bringen. Für Gott stürmte er auf den Pfaden der Liebe voran, alle Vorsicht beiseitelassend. Er wurde ein Rasender, ein Heimatloser, ja, er wurde als verrückt bekannt. Wegen seines neuen Glaubens spottete seiner in Tihrán hoch und niedrig. Wenn er durch die Straßen und die Basare ging, zeigten die Leute mit dem Finger auf ihn und nannten ihn einen Bahá’í. Wann immer Unruhen ausbrachen, wurde er als erster verhaftet. Er war immer bereit und wartete darauf, daß sie kamen, und sie blieben nie aus.
3:6 Immer wieder wurde er in Ketten gelegt, eingekerkert, mit dem Schwert bedroht. Die Photographie, welche diese selige Gestalt zusammen mit dem großen Amín, beide in Ketten, zeigt, wird jedem der Augen hat zu sehen, zum Vorbild dienen. Da sitzen diese beiden ehrwürdigen Männer, mit Ketten behängt, gefesselt und doch ruhig, ergeben, gelassen.
3:7 Es kam so weit, daß immer, wenn Aufruhr entstand, Mullá Alí seinen Turban aufsetzte, sich in seine ‚Abá hüllte und wartete bis seine Feinde ihn hochjagten, die Häscher hereinstürzten, die Wachen ihn ins Gefängnis abführten. Aber sehet die Macht Gottes! Trotz alledem geschah ihm kein Leid. „Einen Wissenden und einen Liebenden erkennt man daran, daß er mitten im Meer trocken bleibt.“ Das traf auch auf ihn zu. Von einem Augenblick zum anderen hing sein Leben nur noch an einem Faden. Die Böswilligen lauerten ihm auf. Er war überall als Bahá’í bekannt – und trotzdem blieb er verschont. Er blieb trocken in den Tiefen des Meeres, kühl und sicher im Herzen des Feuers bis zur Todesstunde.
3:8 Nach dem Hinscheiden Bahá’u’lláhs fuhr Mullá ‚Alí in gewohnter Weise fort, treu dem Letzten Willen des Lichtes der Welt, fest im Bündnis, dem er diente und das er verkündete. Zu Lebzeiten der Manifestation Gottes trieb ihn seine Sehnsucht in die Gegenwart Bahá’u’lláhs, der ihn mit Wohlwollen empfing und ihn mit Gunstbeweisen überhäufte. Anschließend kehrte Mullá ‚Alí in den Irán zurück und widmete seine ganze Zeit dem Dienst für die Sache Gottes. Offen widersetzte er sich seinen tyrannischen Unterdrückern, wie oft sie ihn auch bedrohten, er setzte sich zur Wehr. Nie wurde er besiegt. Was er zu sagen hatte, sagte er. Er war eine der Hände der Sache Gottes, standhaft, unerschütterlich, felsenfest.
3:9 Ich liebte ihn sehr, denn es war eine Lust, sich mit ihm zu unterhalten, und er war ein Gefährte wie kein zweiter. Kürzlich sah ich ihn nachts in der Welt der Träume. Er war immer von wuchtiger Gestalt gewesen. Im Traum erschien er mir breiter und fülliger als je zuvor. Er schien von einer Reise zurückgekehrt zu sein. Ich sagte zu ihm: „Jináb, du bist voll und stattlich geworden.“ „Ja“, antwortete er, „Gott sei gelobt! Ich war an Orten, wo die Luft frisch und süß ist, und das Wasser kristallklar. Die Landschaften dort sind wunderschön anzusehen, und die Speisen sind köstlich. Das alles ist mir natürlich gut bekommen, ich bin kräftiger als je zuvor und fühle mich wieder wohl wie in früher Jugend. Der Odem des Allbarmherzigen wehte über mich, und ich verbrachte all meine Zeit damit, von Gott zu künden. Ich habe Seine Beweise dargelegt und Seinen Glauben gelehrt.“
(Den Glauben lehren bedeutet in der nächsten Welt, die süßen Düfte der Heiligkeit zu verbreiten; diese Tätigkeit ist dasselbe wie Lehren).
Wir plauderten noch ein wenig miteinander. Dann kam jemand, und er entschwand.
3:10 Seine letzte Ruhestätte ist in Tihrán. Obwohl sein Körper unter der Erde liegt, lebt sein reiner Geist weiter „auf dem Sitz der Wahrheit, in der Gegenwart des mächtigen Königs.“1 Ich sehne mich danach, die Grabstätten der Freunde Gottes zu besuchen, wenn dies nur möglich wäre. Sie sind die Diener der Gesegneten Schönheit. Auf Seinem Pfade litten sie Trübsal, begegneten sie Mühe und Leid, ertrugen sie Beleidigungen und erlitten Unrecht. Auf ihnen sei die Herrlichkeit Gottes, des Allherrlichen. Ihnen sei Gruß und Preis. Auf ihnen seien Gottes zarte Gnade und Vergebung.
1 Qur’án 54:55
4 [27] Shaykh Salmán
3:1 Im Jahre 1266 nach der Hijra1 hörte der vertraute Bote Shaykh Salmán, zum erstenmal den Ruf Gottes, und sein Herz hüpfte vor Freude. Er war damals in Hindiyán. Unwiderstehlich angezogen, wanderte er den ganzen langen Weg nach Tihrán, wo er sich in heißer Liebe heimlich den Gläubigen anschloß. Eines Tages ging er in Begleitung von Áqá Muhammad Taqíy-i-Káshání durch den Basar. Die Häscher folgten ihm und fanden so heraus, wo er wohnte. Tags darauf kamen sie mit der Polizei und brachten ihn zum Polizeichef.
1 1849-1850 n.Chr.
4:2 „Wer bist du?“ fragte der Chef.
4:3 „Ich bin aus Hindíyán“, antwortete Salmán. „Ich bin nach Tihrán gekommen auf dem Weg nach Khurásán, auf der Pilgerreise zum Schrein des Imám Ridá.“
4:4 „Was hast du gestern mit diesem Mann im weißen Mantel gemacht?“ fragte der Polizeichef weiter.
4:5 Salmán antwortete: „Ich hatte ihm am Vortag eine ‚Abá verkauft, und gestern sollte er sie mir bezahlen.“
4:6 „Du bist fremd hier“, sagte der Chef, „wie konntest du ihm trauen?“
4:7 „Ein Geldwechsler bürgte für die Zahlung“, erwiderte Salmá. Er hatte dabei den geachteten Gläubigen Áqá Muhammad-i-Sarráf (Geldwechsler) im Sinn.
4:8 Der Polizeichef wandte sich an einen seiner Häscher und sagte: „Bringe ihn zu dem Geldwechsler und untersuche den Fall.“
4:9 Als sie dort ankamen, legte der Häscher los: „Wie war das alles mit dem Verkauf einer ‚Abá, für deren Bezahlung du dich verbürgt hast? Erkläre mir das selber!“
4:10 „Ich weiß von nichts“, antwortete der Geldwechsler.
4:11 „Komm mit!“ sagte der Häscher zu Salmán. „Jetzt ist alles klar. Du bist ein Bábí.“
4:12 Zufälligerweise trug Salmán einen Turban, ähnlich den in Shúshtar getragenen. Als sie eine Kreuzung überquerten, stürzte ein Mann aus Shúshtar aus einem Laden, umarmte Salmán und rief: „Wo kommst du denn her, Khájih Muhammad-‚Alí? Seit wann bist du denn hier? Sei mir willkommen!“
4:13 Salmán antwortete: „Ich bin vor einigen Tagen hier angekommen, und jetzt hat mich die Polizei verhaftet.“
4:14 „Was wollt ihr mit ihm?“ fragte der Händler den Häscher. „Hinter was seid ihr her?“
4:15 „Er ist ein Bábí“, war die Antwort.
4:16 „Gott behüte!“ rief der Mann aus Shúshtar. „Ich kenne ihn gut. Khájih Muhammad-‚Alí ist ein gottesfürchtiger Muslim, ein Shi’ite, ein ergebener Anhänger des Imám ‚Alí. Damit gab er dem Häscher eine Summe Geldes, und Salmán war frei.
4:17 Sie betraten den Laden, und der Händler fragte Salmán, wie es ihm gehe. Salmán sagte: „Ich bin nicht Khájih Muhammad-Alí.“
4:18 Der Mann aus Shúshtar war verblüfft. „Du siehst genau aus wie er“, rief er aus. „Ihr gleicht euch wie ein Ei dem andern. Aber wenn du ein anderer bist, dann gib mir das Geld zurück, das ich dem Häscher gezahlt habe.“
4:19 Salmán händigte ihm sofort das Geld aus, verließ ihn und zog zum Stadttor hinaus in Richtung auf Hindiyán.
4:20 Als Bahá’u’lláh im ‚Iráq ankam, war Salmán der erste Bote, der in Seine heilige Gegenwart gelangte. Anschließend kehrte er mit Sendschreiben an die Freunde in Hindíyán zurück. Einmal in jedem Jahr machte sich dieser gesegnete Gläubige zu Fuß auf den Weg, seinen Vielgeliebten zu sehen. Dann wandte er seine Schritte zurück und trug Sendschreiben für viele Städte, Isfahán, Shiráz, Káshán, Tihrán und die anderen, mit sich.
4:21 Vom Jahr 69 bis zum Hinscheiden Bahá’u’lláhs im Jahre 1309 n.d.H.1 kam Salmán einmal im Jahr mit Briefen und ging mit den Sendschreiben wieder weg. Getreulich stellte er jedes dem Empfänger zu. Jahr für Jahr kam er während dieser langen Zeit zu Fuß von Persien nach dem ‚Iráq oder nach Adrianopel oder in das Größte Gefängnis nach ‚Akká, kam voller Verlangen und Liebe, und ging dann wieder zurück.
1 1853; 1892
4:22 Er hatte ungewöhnliche Ausdauer. Er reiste zu Fuß, aß in der Regel nur Zwiebeln und Brot, und in der ganzen Zeit zog er so geschickt umher, daß er kein einziges Mal aufgehalten wurde, kein einziges Mal einen Brief oder ein Sendschreiben verlor. Jeder Brief wurde sicher abgegeben, jedes Sendschreiben erreichte den vorgesehenen Empfänger. In Isfahán war er immer wieder schlimmen Untersuchungen ausgesetzt, aber in jeder Lage blieb er geduldig und dankbar, so daß Nicht-Bahá’í ihn den „Engel Gabriel der Bábí“ nannten.
4:23 Sein ganzes Leben hindurch leistete Salmán der Sache Gottes diesen bedeutsamen Dienst, wurde zum Werkzeug für ihre Verbreitung und trug zur Glückseligkeit der Gläubigen bei, indem er Jahr für Jahr die frohen Botschaften Gottes in die Städte und Dörfer Persiens brachte. Dem Herzen Bahá’u’lláhs, der mit besonderer Gunst und Gnade auf ihn schaute, war er nahe. Unter den heiligen Schriften sind Sendschreiben, die in Salmáns Namen offenbart sind.
4:24 Nach dem Hinscheiden Bahá’u’lláhs blieb Salmán treu im Bündnis und diente der Sache Gottes mit aller Kraft. Nach wie vor kam er jedes Jahr ins Größte Gefängnis, lieferte die Post der Gläubigen ab und kehrte mit den Antworten nach Persien zurück. Schließlich nahm er aus Shíráz seinen Flug ins Reich der Herrlichkeit.
4:25 Vom Anbeginn der Geschichte bis auf den heutigen Tag gab es nie einen derart vertrauenswürdigen Boten. Kein Kurier läßt sich mit Salmán vergleichen. Er hat in Isfahán ehrenwerte Nachkommen hinterlassen, die wegen der Unruhen in Persien gegenwärtig in Not sind. Sicher werden die Freunde ihren Bedürfnissen abhelfen. Auf ihm sei die Herrlichkeit Gottes, des Allherrlichen. Mit ihm seien Gruß und Preis.
5 [31] Mírzá Muhammad-Alí Afnán
5:1 In den Tagen Bahá’u’lláhs, während der schlimmsten Zeit im Größten Gefängnis, ließ man keinen der Freunde aus der Festung hinaus oder in die Festung hinein. „Schiefmütze“1 und der Siyyid2 wohnten am zweiten Stadttor und hielten dort Tag und Nacht Wache. Wann immer sie einen reisenden Bahá’í erspähten, rannten sie zum Gouverneur und erzählten ihm, daß der Reisende Briefe brächte und wohl die Antwort mit sich forttragen werde. Der Gouverneur nahm dann gewöhnlich den Reisenden fest, beschlagnahmte seine Papiere, warf ihn ins Gefängnis, trieb ihn aus der Stadt. Das wurde den Behörden zur festen Gewohnheit und dauerte lange Zeit an – in der Tat neun Jahre lang, bis dieses Vorgehen Schritt für Schritt aufgegeben wurde.
1 Áqá Ján, vgl. Shoghi Effendi, Gott geht vorüber, p.203, p.207, p.215
2 Siyyid Muhammad, der Antichrist der Bahá’í-Offenbarung, vgl. Gott geht vorüber, p.186 und p.215
5:2 Es war zu dieser Zeit, daß der Afnán Hájí Mírzá Muhammad-‚Alí, der mächtige Ast des Heiligen Baumes,1 nach ‚Akká reiste. Er kam aus Indien über Ägypten, und von Ägypten über Marseilles. Eines Tages war ich oben auf dem Dach der Karawanserei. Einige Freunde waren bei mir; ich ging auf und ab. Die Sonne versank gerade. Als ich den fernen Strand entlang blickte, sah ich eine Kutsche näher kommen. „Meine Herren“, sagte ich, „ich habe das Gefühl, es ist ein heiliges Wesen in dieser Kutsche.“ Die Kutsche war noch weit entfernt, kaum in Sicht.
1 Die Afnán sind die Verwandten des Báb, vgl Gott geht vorüber, p.272 und p.375
5:3 „Laßt uns zum Tor gehen“, schlug ich vor. „Wenn man uns auch nicht erlauben wird hinauszugehen, können wir doch dort stehen bleiben, bis er kommt.“ Ich nahm einen oder zwei Leute mit, und wir gingen.
5:4 Am Stadttor rief ich den Wächter heraus, steckte ihm heimlich etwas zu und sagte: „Eine Kutsche kommt, und ich glaube, sie bringt einen unserer Freunde. Wenn sie hier eintrifft, halte sie nicht auf und verweise die Sache auch nicht an den Gouverneur.“ Er stellte mir einen Stuhl vor die Tür, und ich setzte mich.
5:5 Die Sonne war inzwischen untergegangen. Das Haupttor hatte man geschlossen, aber die kleine Tür daneben war offen. Der Torhüter blieb draußen, die Kutsche fuhr vor, der Herr war angekommen. Was für ein strahlendes Antlitz er hatte! Er war reines Licht von Kopf bis Fuß. Allein dieses Gesicht anzuschauen, machte glücklich. Er war so zuversichtlich, so gewiß, so verwurzelt in seinem Glauben, und sein Ausdruck war so freudig! Er war wahrhaft ein gesegnetes Wesen, ein Mensch, der täglich Fortschritte machte, der jeden Tag seine Glaubensgewißheit, seine Leuchtkraft, seine flammende Liebe steigerte. In den wenigen Tagen, die er im Größten Gefängnis verbrachte, machte er außergewöhnliche Fortschritte. Es ist so, daß man seinen Geist und sein Licht schon wahrnehmen konnte, als seine Kutsche erst einen Teil des Weges von Haifa nach ‚Akká zurückgelegt hatte.
5:6 Nachdem er die grenzenlosen Segnungen empfangen hatte, die Bahá’u’lláh über ihn ergoß, wurde er huldvoll entlassen und reiste nach China. Dort verbrachte er eine lange Zeit im Gedenken an Gott und auf gottgefällige Weise. Später ging er nach Indien, wo er auch gestorben ist.
5:7 Die anderen verehrten Afnán und die indischen Freunde hielten es für angezeigt, seine gesegneten Überreste nach dem ‚Iráq zu senden, angeblich nach Najaf, damit sie nahe der heiligen Stadt begraben würden; denn die Muslime hatten ihm die letzte Ruhe auf ihrem Friedhof verwehrt, und sein Leib war in einem vorläufigen, sicheren Versteck untergebracht worden. Áqá Siyyid Asadu’lláh, der damals in Bombay war, wurde beauftragt, die Überreste mit gebührender Ehrerbietung in den ‚Iráq zu überführen. Auf dem Dampfer waren feindselige Perser, und sowie man in Búshihr anlegte, machten diese Leute Meldung, der Sarg mit den Überresten des Bábí Mírzá Muhammad-‚Alí werde nach Najaf verbracht, um dort im Tal des Friedens nahe der heiligen Umfriedung des Schreins beigesetzt zu werden, und so etwas könne man nicht dulden. Sie versuchten, die gesegneten Überreste von Bord zu bringen, aber es gelang ihnen nicht. Sehet daraus, was der geheime Ratschluß Gottes zuwege bringen kann.
5:8 Der Leichnam gelangte nach Basra. Und da sich zu jener Zeit die Freunde im Verborgenen halten mußten, blieb Siyyid Asadu’lláh nur übrig, so zu tun, als wolle er ihn in Najaf begraben. Inzwischen hoffte er, auf diese oder jene Weise die Bestattung in der Nähe von Baghdád zuwege zu bringen. Denn obwohl Najaf eine heilige Stadt ist und es auch immer bleiben wird, hatten die Freunde einen anderen Platz ausgesucht. Gott stachelte deshalb unsere Feinde an, das Begräbnis in Najaf zu verhindern. Sie stürmten herbei, griffen die Quarantänestation an, um sich des Leichnams zu bemächtigen und ihn entweder in Basra zu verscharren, oder ihn ins Meer oder in den Wüstensand zu werfen.
5:9 Der Fall gewann solches Gewicht, daß es sich am Ende als unmöglich erwies, die Überreste nach Najaf zu verbringen. Siyyid Asadu’lláh mußte sie nach Baghdád überführen. Auch dort gab es keine Ruhestätte, wo der Körper des Afnán vor Schändungen von Feindeshand sicher gewesen wäre. Schließlich beschloß der Siyyid, ihn zum Schrein Salmáns des Reinen1 zu bringen, etwa fünf Farsakh außerhalb von Baghdád, und ihn in Ktesiphon nahe dem Grab Salmáns beim Palast der Sassanidenkönige zu begraben. Der Leichnam wurde dorthin verbracht, und dieses Pfand Gottes wurde mit allen Ehren an einem sicheren Ruheort beim Palast Nawshíraváns beigesetzt.
1 Vorbote des Propheten Muhammad, vgl. Bahá’u’lláh, Das Buch der Gewißheit, p.50 und II 4; ferner H.M.Balyuzi. Muhammad und the Course of Islám, p.51ff., und Marzieh Gail, Muhammad und der Islám, p.16 und p.28
5:10 Das war Vorherbestimmung. Dreizehnhundert Jahre nachdem die Residenzstadt der alten persischen Könige in den Staub getreten wurde und keine Spur außer Geröll und Sandhügeln von ihr übrigblieb, da das Dach des Palastes zersplitterte und zerbarst und zur Hälfte herabstürzte, sollte nun dieses Bauwerk die königliche Pracht und den Glanz seiner frühen Tage wiedergewinnen. Es ist in der Tat ein mächtiger Torbogen. Der Zugang ist zweiundfünfzig Schritt breit, und die Türme sind sehr hoch.
5:11 So hat Gottes Gnade und Gunst die Perser längstvergangener Zeiten einbezogen, auf daß ihre verfallene Hauptstadt neu erbaut werde und wieder blühe. Zu diesem Ziel traten mit Gottes Hilfe Umstände ein, die zu der Beisetzung des Afnán dort führten, und es gibt keinen Zweifel, daß dort eine stolze Stadt erstehen wird. Ich schrieb viele Briefe in diesem Zusammenhang, bis schließlich der heilige Staub an diesem Ort zur Ruhe gebettet werden konnte. Siyyid Asadu’lláh schrieb mir aus Basra, und ich antwortete ihm. Einer der Beamten war uns tief ergeben, und ich wies ihn an, alles zu tun, was in seiner Macht stand. Siyyid Asadu’lláh berichtete mir aus Baghdád, er sei am Ende seiner Weisheit angelangt und wisse überhaupt nicht mehr, wo er diesen Leichnam dem Grabe anvertrauen könne. „Wo ich ihn auch begraben könnte“, schrieb er, „sie würden ihn wieder ausgraben.“
5:12 Zuletzt wurde er, Gott sei gepriesen, genau an jenem Ort bestattet, zu dem sich die Gesegnete Schönheit immer wieder begeben hatte, an der Stätte, die von Seinem Tritt geheiligt war, wo Er Sendschreiben offenbart hatte, wo die Gläubigen von Baghdád in Seiner Gesellschaft waren, an dem Ort, da der Größte Name wandelte. Wie es dazu kam? Es geschah durch die Herzensreinheit des Afnán. Ohne sie hätten alle Mittel und Wege nicht zum Erfolg geführt. Wahrlich, Gott ist der Beweger von Himmel und Erde.
5:13 Ich habe den Afnán sehr geliebt. Seinetwegen freute ich mich. Ich schrieb ein langes Besuchstablet für ihn und sandte es mit anderen Papieren nach Persien. Seine Begräbnisstätte ist einer der heiligen Orte, an dem ein wunderbarer Mashriqu’l-Adhkár errichtet werden muß. Wenn es möglich ist, sollte der verbliebene Torbogen des Königspalastes instandgesetzt und zum Haus der Andacht werden. Die Nebengebäude des Hauses der Andacht sollten ebenso dort erbaut werden: das Krankenhaus, die Schulen und die Universität, die Grundschule, das Heim für die Armen und Bedürftigen, auch die Zuflucht für Waisen und Hilflose und die Herberge für Reisende.
5:14 Gnädiger Gott! Dieses königliche Bauwerk war einst herrlich geschmückt, strahlend schön. Aber wo einst Vorhänge aus Goldbrokat hingen, da sind heute Spinnweben, und wo des Königs Trommel schlug und seine Musikanten spielten, da ist heute nur der heisere Schrei der Milane und Krähen zu hören. „Wahrlich, dies ist die Hauptstadt im Reich der Eulen, wo du keinen Laut hörst außer dem Echo ihrer ständigen Rufe.“ So war es auch in der Kaserne, als wir nach ‚Akká kamen. Innerhalb der Mauern standen ein paar Bäume. Auf ihren Zweigen und auf den Zinnen schrien die Eulen die ganze Nacht hindurch. Wie beunruhigt uns doch der Schrei der Eulen, wie bedrückt er unser Herz!
5:15 Von frühester Jugend an bis er hilflos und alt wurde, leuchtete dieser gesegnete Zweig des Heiligen Baumes mit lächelndem Antlitz wie eine Lampe in aller Mitten. Dann loderte er empor und stieg hinauf zu unsterblicher Herrlichkeit, tauchte ein in das Meer des Lichtes. Mit ihm sei der Odem seines Herrn, des Allbarmherzigen. Mit ihm, umspült von den Wassern der Gunst und der Vergebung, seien die Gnade und die Gunst Gottes.
6 [37] Hájí Mírzá Hasan Afnán
6:1 Zu den Bedeutendsten derer, die ihr Vaterland verließen, um sich Bahá’u’lláh anzuschließen, zählte Mírzá Hasan, der große Afnán. In seinen letzten Tagen wurde ihm die Ehre zuteil, auszuwandern und Gunst und Gesellschaft seines Herrn zu gewinnen. Mit dem Báb verwandt, wurde der Afnán von der Erhabenen Feder ausdrücklich als ein Sproß des Heiligen Baumes bezeichnet. Schon als kleines Kind empfing er einen Anteil an den Segnungen des Báb und zeigte außergewöhnliche Anhänglichkeit für diese strahlende Schönheit. Kaum erwachsen, suchte er die Gesellschaft der Gelehrten und begann, Wissenschaften und Künste zu studieren. Tag und Nacht dachte er über die tiefsten geistigen Fragen nach und staunend schaute er Gottes machtvolle Zeichen, wie sie im Buche des Lebens geschrieben stehen. Er wurde gründlich gebildet, selbst in Sachwissen wie Mathematik, Geometrie und Geographie. Kurz, er war auf vielen Gebieten beschlagen und eng vertraut mit dem Denken der alten wie der neuen Zeit.
6:2 Kaufmann von Beruf, wandte er nur wenige Stunden am Tag und am Abend auf seine Geschäfte. Die meiste Zeit widmete er Erörterungen und Forschungen. Er war wahrhaft gebildet und legte unter den führenden Gelehrten für die Sache Gottes hohe Ehre ein. Mit wenigen prägnanten Sätzen konnte er verwirrte Fragen lösen. Seine Rede war kurz und bündig, aber schon an und für sich ein kleines Wunderwerk.
6:3 Wenngleich er bereits in den Tagen des Báb ein Gläubiger wurde, flammte er in den Tagen Bahá’u’lláhs erst richtig auf. Da brannte seine Liebe zu Gott jeden hindernden Schleier und jeden eitlen Gedanken hinweg. Er tat alles in seinen Kräften, den Glauben Gottes zu verbreiten, und wurde weit und breit für seine glühende Liebe zu Bahá’u’lláh bekannt.
6:4 `Verloren bin ich, wie besessen und verwirrt,
Ein Narr der Liebe auf dem ganzen Erdenrund.
Man nennt mich einen König unter den Verrückten,
Obwohl ich einst als König galt an Geist und Würde ..`
6:5 Nach dem Hinscheiden des Báb hatte er die hohe Ehre, der verehrten, geheiligten Gemahlin des gesegneten Herrn zu dienen und sie zu beschützen. Er war in Persien und beklagte seine Trennung von Bahá’u’lláh, als sein edler Sohn durch Heirat ein Mitglied des heiligen Haushalts wurde. Darüber freute sich der Afnán sehr. Er verließ Persien und eilte zur schützenden Gunst seines Vielgeliebten. Er war ein Mann, dessen Anblick erstaunen machte. Sein Gesicht war so leuchtend, daß selbst viele Menschen, die keine Gläubigen waren, sagten, es strahle ein himmlisches Licht von seiner Stirn.
6:6 Eine Zeitlang war er weg und hielt sich in Beirut auf. Dort begegnete er Khájih Findík, dem berühmten Gelehrten, der in den verschiedensten Kreisen hoch die Bildung des großen Afnán pries und versicherte, Menschen von so umfassendem und vielschichtigem Wissen seien im ganzen Orient selten. Später kehrte der Afnán ins Heilige Land zurück. Er siedelte sich in der Nähe des Landhauses von Bahjí an und richtete alle seine Gedanken auf verschiedene Gesichtspunkte der menschlichen Kultur. Viel Zeit verbrachte er damit, die Geheimnisse des Himmels zu enthüllen und die Bewegungen der Sterne eingehend zu verfolgen. Er hatte ein Fernrohr, mit dem er jede Nacht seine Beobachtungen machte. So führte er ein glückliches Leben, sorgenfrei und leichten Herzens. In Bahá’u’lláhs Nähe waren seine Tage voll Seligkeit, seine Nächte strahlend wie der erste Frühlingsmorgen.
6:7 Aber dann schied der Geliebte von dieser Welt. Des Afnán Friede war zerstört, seine Freude in Schmerz verkehrt. Die Höchste Heimsuchung war über uns gekommen, der Trennungsschmerz verzehrte uns, die einst so lichten Tage wurden schwarz wie die Nacht, und alle Rosen verflossener Stunden waren nun verdorrt. Der Afnán lebte noch eine Zeitlang. Sein Herz schmolz dahin, seine Augen vergossen Tränen. Aber er konnte die Sehnsucht nach seinem Vielgeliebten nicht länger tragen. Bald gab seine Seele dieses Leben auf und floh zum ewigen Leben; sie ging ein in den Himmel immerwährender Wiedervereinigung und tauchte unter in einem Meer von Licht. Mit ihm seien größte Barmherzigkeit, Gnadenfülle und aller Segen durch künftige Zeiten und Zyklen. Sein verehrtes Grab ist in Akká beim Manshíyyih.
7 [40] Muhammad-‚Alíy-i-lsfahání
7:1 Muhammad-‚Alí von Isfahán war einer der ersten Gläubigen, die gleich im Beginn zum Glauben geführt wurden. Er gehörte zu den Mystikern. Sein Haus war ein Versammlungsort für sie und die Philosophen. Edel und hochgemut, war er einer der angesehensten Bürger von Isfahán und für jeden Fremden, reich oder arm, Gastgeber und Zuflucht. Er hatte Schwung und einen trefflichen Charakter, war langmütig, leutselig, großzügig und ein lebhafter Gesellschafter. In der ganzen Stadt war bekannt, daß er es sich gut gehen ließ.
7:2 Dann wurde er dazu geführt, den Glauben anzunehmen, und fing Feuer am Baum des Sinai. Sein Haus wurde zum Lehrzentrum, der Herrlichkeit Gottes geweiht. Tag und Nacht strömten die Gläubigen dorthin wie zu einer von himmlischer Liebe erleuchteten Lampe. Lange Zeit hindurch wurden in diesem Haus die heiligen Verse gesungen und die klaren Beweise dargelegt. Obwohl dies allgemein bekannt war, wurde Muhammad-‚Alí nicht belästigt, war er doch ein Verwandter des Imám-Jum’ih von Isfahán. Schließlich entwickelten sich die Dinge jedoch so, daß der Imám-Jum’ih selbst ihn wegschickte mit den Worten: „Ich kann dich nicht länger schützen. Du bist in großer Gefahr. Am besten gehst du hier fort auf eine Reise.“
7:3 Da verließ Muhammad-‚Alí seine Heimat, zog in den ‚Iráq und trat in die Gegenwart des Ersehnten der Welt. Er verbrachte dort einige Zeit, machte tagtäglich Fortschritte; er hatte wenig zum Leben, war aber glücklich und zufrieden. Als ein Mann von trefflichem Charakter verstand er sich mit Gläubigen und anderen gleichermaßen.
7:4 Als Bahá’u’lláh und Sein Gefolge aus Baghdád nach Konstantinopel abreisten, war Muhammad-‚Alí in Seiner Gesellschaft und zog mit Ihm weiter ins Land des Geheimnisses, nach Adrianopel. Alles andere als wankelmütig, bewahrte er ein unwandelbares Herz. Was auch geschah, Muhammad-‚Alí blieb sich gleich. Auch in Adrianopel flossen seine Tage unter dem Schutz Bahá’u’lláhs glücklich dahin. Er tätigte Geschäfte, die ihm, so unbedeutend sie waren, überraschend hohe Erträge brachten.
7:5 Von Adrianopel aus begleitete Muhammad-‚Alí Bahá’u’lláh in die Festung ‚Akká. Dort wurde er eingekerkert und zählte für den Rest seines Lebens zu Bahá’u’lláhs Mitgefangenen. So wurde ihm die größte aller Auszeichnungen zuteil: eingekerkert zu sein mit der Gesegneten Schönheit.
7:6 Er verbrachte seine Tage in höchster Seligkeit. Auch in ‚Akká führte er ein kleines Geschäft, das ihn vom Morgen bis zum Mittag in Anspruch nahm. An den Nachmittagen pflegte er seinen Samowar zu nehmen und ihn in einen dunkelfarbenen, aus einer Satteltasche gefertigten Sack zu stecken. Dann ging er in einen Garten, auf eine Wiese oder hinaus auf ein Feld, um dort seinen Tee zu trinken. Manchmal traf man ihn im Gutshof von Mazra’ih, manchmal im Garten Ridván, oder er hatte in Bahjí die Ehre, Bahá’u’lláh aufzuwarten.
7:7 Muhammad-‚Alí pflegte jede Segnung, die ihm zuteil wurde, sorgsam zu würdigen. „Wie köstlich ist mein Tee heute“, bemerkte er, „welch ein Aroma, welch eine Farbe! Wie lieblich ist diese Wiese, und wie leuchten ihre Blumen!“ Er pflegte zu sagen, daß alles, selbst die Luft und das Wasser, seinen besonderen Duft habe. Für ihn vergingen die Tage in unbeschreiblicher Freude. Selbst Könige seien nicht so glücklich wie dieser alte Mann, sagten die Leute. „Er ist völlig gelöst von dieser Welt“, erklärten sie. „Er lebt in Freude.“ Es traf sich auch, daß sein Essen vorzüglich und seine Wohnung im besten Viertel von ‚Akká gelegen war. Gnädiger Gott! Er war ein Gefangener, und doch genoß er Bequemlichkeit, Frieden und Freude.
7:8 Muhammad-Alí war über achtzig, als er schließlich aufbrach zum ewigen Licht. Er war der Empfänger vieler Sendschreiben Bahá’u’lláhs und endloser Segnungen in allen Lebenslagen. Auf ihm sei die Herrlichkeit Gottes, des Herrlichsten. Myriaden himmlischer Wohltaten seien ihm nahe, möge ihn Gott für immer und ewig mit Freude begünstigen. Sein leuchtendes Grab ist in ‚Akká.
8 [43] Abdu’s-Sálih, der Gärtner
8:1 Unter den Auswanderern und Gefährten im Größten Gefängnis war Áqá ‚Abdu’s-Sálih. Diese herausragende Seele, Kind früher Gläubiger, kam aus Isfahán. Sein edelmütiger Vater starb, das Kind wuchs als Waise heran. Niemand war da, ihn zu erziehen und für ihn zu sorgen, er war das Opfer eines jeden, der ihm schaden wollte. Als er herangewachsen und älter war, suchte er seinen Vielgeliebten auf. Er wanderte zum Größten Gefängnis und hier, im Garten Ridván, wurde ihm die Ehre zuteil, zum Gärtner bestimmt zu werden. Diese Arbeit verrichtete er wie kein zweiter. Auch in seinem Glauben war er standhaft, treu, vertrauenswürdig, und was seinen Charakter anbelangt, war er die Verkörperung des heiligen Verses: „Von edler Natur bist du.“1 So gewann er die Auszeichnung, Gärtner im Ridván zu sein, und empfing damit die höchste aller Segnungen: Fast täglich trat er in die Gegenwart Bahá’u’lláhs.
1 vgl. Qur’án 68:4
8:2 Der Größte Name war neun Jahre lang in der Festungsstadt ‚Akká gefangen und eingekerkert. Die ganze Zeit hatten Ihn die Polizisten und Häscher unter ständiger Aufsicht, zuerst in der Kaserne, später überwachten sie Sein Haus. Die Gesegnete Schönheit wohnte in einem sehr kleinen Haus und setzte keinen Fuß außerhalb dieser engen Behausung, denn Seine Unterdrücker bewachten ständig die Tür. Als jedoch neun Jahre verstrichen waren, war die anberaumte und vorherbestimmte Zeit vorüber. Gegen den bösen Willen des Tyrannen ‚Abdu’l-Hamid und aller seiner Günstlinge verließ Bahá’u’lláh mit Herrschaft und Macht die Festung und erwählte ein fürstliches Landhaus außerhalb der Stadt zu Seinem Wohnsitz.
8:3 Obwohl das Vorgehen des Sultáns ‚Abdu’l-Hamid unerbittlicher war als je zuvor, obwohl er nach wie vor auf der strengen Haft seines Gefangenen bestand, lebte die Gesegnete Schönheit nunmehr bekanntlich in aller Macht und Herrlichkeit. Einen Teil der Zeit verbrachte Bahá’u’lláh im Landhaus, dann wieder war Er im Gutshof des Dorfes Mazra’ih, vorübergehend hielt Er sich in Haifa auf, und gelegentlich war Sein Zelt auf den Höhen des Berges Karmel aufgeschlagen. Freunde von überall fanden sich ein und wurden empfangen. Das Volk und die Regierungsbehörden sahen das alles, und doch verlor niemand ein Wort darüber. Das ist eines der größten Wunder Bahá’u’lláhs: daß Er, ein Gefangener, sich mit Pracht umgab und Macht ausübte. Das Gefängnis verwandelte sich in einen Palast, der Kerker wurde zum Garten Eden. Derartiges ereignete sich nie zuvor in der Geschichte; kein früheres Zeitalter hat je dergleichen gesehen: daß ein Gefangener sich frei bewegt mit Herrschaft und Macht, daß ein Angeketteter den Ruhm der Sache Gottes hoch in den Himmel trägt, herrliche Siege in Ost und West erringt und mit Seiner allmächtigen Feder die Welt unterwirft. Dies ist das Wesensmerkmal dieser höchsten Gottesoffenbarung.
8:4 Eines Tages kamen die Regierungsoberhäupter, die Stützen des Landes, die ‚Ulamá der Stadt, führende Mystiker und Intellektuelle hinaus zum Landhaus. Die Gesegnete Schönheit schenkte ihnen keinerlei Aufmerksamkeit. Weder wurden sie in Seine Gegenwart vorgelassen, noch erkundigte Er sich nach ihnen. Ich setzte mich zu ihnen und leistete ihnen einige Stunden lang Gesellschaft. Dann kehrten sie zurück, von wo sie gekommen waren. Obwohl der königliche Farmán ausdrücklich bestimmte, Bahá’u’lláh müsse innerhalb der Festung ‚Akká in Einzelhaft gehalten werden, in einer Zelle und unter ständiger Aufsicht, Er dürfe nie den Fuß aus der Stadt hinaussetzen, noch nicht einmal einen der Gläubigen sehen – trotz dieses Farmán, dieses drastischen Befehls, war in Majestät Sein Zelt auf den Höhen des Berges Karmel errichtet. Welch größere Machtentfaltung könnte es geben, als daß mitten aus dem Gefängnis das Banner des Herrn hoch gehißt wurde und sichtbar für alle Welt im Winde weht! Gepriesen sei, dem solche Majestät und Macht zu eigen ist. Gepriesen sei Er, der gewappnet ist mit Kraft und Herrlichkeit, gepriesen Er, der Seine Feinde besiegte, als Er gefangen im Kerker von ‚Akká lag!
8:5 Fassen wir zusammen: ‚Abdu’s-Sálih lebte unter einem günstigen Stern, denn er kam regelmäßig in Bahá’u’lláhs Gegenwart. Er erfreute sich der Auszeichnung, viele Jahre als Gärtner dienen zu dürfen, und war zu allen Zeiten treu, wahrhaftig und glaubensstark. Demütig war er in der Gegenwart jedes Gläubigen; die ganze Zeit über hat er nie jemanden verletzt oder beleidigt. Schließlich verließ er seinen Garten und eilte der allumfassenden Gnade Gottes entgegen.
8:6 Die Altehrwürdige Schönheit war sehr zufrieden mit ihm. Nach ‚Abdu’s-Sálihs Tod offenbarte Bahá’u’lláh ein Besuchstablet zu seinen Ehren; auch hielt Er eine Ansprache über ihn, die aufgezeichnet und mit anderen Schriften veröffentlicht worden ist.
8:7 Auf ihm sei die Herrlichkeit des Allherrlichen! Mit ihm seien Gottes Milde und Gunst im Reich der Erhabenheit.
9 [46] Ustád Ismá’íl
9:1 Ein weiterer aus dieser gesegneten Schar war Ustád Ismá’íl, der Baumeister. Er war der Bauaufseher des Farrukh Khán, Amínu’d-Dawlih, in Tihrán, lebte in Glück und Wohlstand, ein Mann von hohem Rang, bei allen wohl angesehen. Aber er verlor sein Herz an den Glauben und flammte hell auf, bis seine heilige Leidenschaft jeden trennenden Schleier verbrannte. Da warf er alle Vorsicht beiseite und wurde in ganz Tihrán als Stützpfeiler der Bahá’i bekannt.
9:2 Anfangs verteidigte ihn Farrukh Khán auf geschickte Weise; aber nach einiger Zeit rief er ihn zu sich und sprach: „Ustád, ich mag dich sehr, habe dir meinen Schutz gewährt und dir nach besten Kräften beigestanden. Aber der Sháh weiß über dich Bescheid, und du weißt, was für ein blutrünstiger Tyrann er ist. Ich fürchte, er läßt dich ohne Warnung festnehmen und aufhängen. Am besten gehst du auf eine Reise. Verlasse dieses Land, geh anderswohin und rette dich aus der Gefahr.“
9:3 Gelassen und glücklich gab Ustád seine Arbeit auf, schloß seine Augen vor seinen Besitztümern und machte sich auf in den ‚Iráq, wo er in Armut lebte. Kurz zuvor hatte er eine Braut erwählt, die er über alle Maßen liebte. Die Schwiegermutter kam zu ihm und erschlich sich die Erlaubnis, ihre Tochter nach Tihrán zurückzuführen, angeblich für einen Besuch. Kaum hatte sie Kirmánsháh erreicht, lief sie dort zum Mujtahid und sagte, ihr Schwiegersohn habe seine Religion aufgegeben; so könne ihre Tochter seine rechtmäßige Gattin nicht bleiben. Der Mujtahid leitete die Scheidung ein und vermählte das Mädchen einem anderen Mann. Als die Kunde davon nach Baghdád drang, da konnte Ismá’íl, standhaft wie immer, nur lachen, „Gepriesen sei Gott!“ sagte er. „Nichts ist mir verblieben auf diesem Pfade. Ich habe alles verloren, auch meine Braut. Alles, was ich besaß, konnte ich Ihm geben.“
9:4 Als Bahá’u’lláh Baghdád verließ und nach Rumelien reiste, blieben die Freunde zurück. Die Bewohner Baghdáds erhoben sich gegen diese hilflosen Gläubigen und schickten sie gefangen nach Mosul. Ustád war alt und schwach, aber zu Fuß, ohne Gepäck und Verpflegung machte er sich auf, durchquerte Gebirge und Wüsten, Berge und Täler, bis er schließlich im Größten Gefängnis ankam. Früher hatte Bahá’u’lláh einmal ein Lied von Rúmí für Ustád niedergeschrieben und ihm gesagt, er möge sein Angesicht dem Báb zuwenden und dieses Lied singen. Und so sang Ustád, während er durch die langen dunklen Nächte wanderte:
9:5 `Verloren bin ich, wie besessen und verwirrt,
Ein Narr der Liebe auf dem ganzen Erdenrund.
Man nennt mich einen König unter den Verrückten,
Obwohl ich einst als König galt an Geist und Würde.`
9:6 `O Liebe, die mir diesen herben Wein1 verkauft,
O Liebe, die mich brennen, lodern, bluten läßt,
O Liebe, du, nach der ich schmachte, stöhne, schreie –
Du bist der Pfeifer ich bin nur das Flötenrohr.`
9:7 `Wenn du es wünschest, daß ich weiter leben soll,
So lasse deinen heiligen Odem mich entfachen,
Beleb mich mit dem reinen Frühlingshauche Jesu,
Nachdem ich ein Jahrtausend lag im Todesschlaf.`
9:8 `Der du mein Anfang bist, der du mein Ende wirst,
Der du mein Drinnen bist, und doch mein Draußen bleibst,
Vor jedem Auge bist du ewiglich verborgen,
Und dennoch wohnst und ruhest du in jedem Auge.`
1 vorvorletzter Absatz : Dieser Wein, sagt Rúmí an anderer Stelle, kommt aus dem Krug des „Ja, wahrlich“. Das heißt, er versinnbildlicht das erste Bündnis, das Gott mit dem Menschen am Tage des „Bin Ich nicht euer Herr?“ schloß. An diesem Tag fragte der Schöpfer die noch ungeborene Nachkommenschaft aus den Lenden Adams: „Bin ich nicht euer Herr?“, worauf sie antwortete: „Ja, wahrlich, Du bist es.“ Vgl. Qur’án 7:171
9:9 Er war wie ein Vogel mit gebrochenen Schwingen, aber er hatte das Lied, und das hielt ihn aufrecht auf dem Weg zu seiner einzig wahren Liebe. Heimlich näherte er sich der Festung und kam hinein, war aber völlig erschöpft. Er blieb ein paar Tage und gelangte in die Gegenwart Bahá’u’lláhs. Dann wurde ihm gesagt, er solle sich in Haifa eine Bleibe suchen. Er kam nach Haifa, aber er fand dort keinen Hafen, kein Nest oder Schlupfloch, kein Wasser und kein Kännchen Nahrung. Schließlich richtete er sich in einer Höhle außerhalb der Stadt ein. Er kaufte sich ein Hökerbrett, bot tönerne Ringe, Fingerhüte, Nadeln und anderen Kram darauf feil und verkaufte sie von Tür zu Tür vom Morgen bis zum Mittag. Manchmal verdiente er so zwanzig Para1 am Tag, manchmal dreißig, an den besten Tagen vierzig Para. Dann ging er heim in die Höhle und begnügte sich mit einem Stück Brot. Immer gab er seiner Dankbarkeit Ausdruck, immer sagte er: „Preis sei Gott, daß ich solche Gunst und Gnade erlangt habe, daß ich von Freund und Feind getrennt Zuflucht gefunden habe in dieser Höhle. Jetzt gehöre ich zu denen, die alles hingaben, um den göttlichen Joseph auf dem Sklavenmarkt zu kaufen. Welcher Segen könnte größer sein!“
9:10 So war sein Zustand, als er starb. Immer wieder hörte man, wie Bahá’u’lláh Seine Zufriedenheit mit Ustád Ismá’íl äußerte. Segnungen umrankten ihn, und das Auge Gottes ruhte auf ihm. Ihm seien Gruß und Preis. Auf ihm sei die Herrlichkeit des Allherrlichen.
1 vorletzter Absatz : sehr kleine Münzeinheit
10 [50] Nabíl-i-Zarandí
10:1 Zu denen, die aus ihrer Heimat fortwanderten, um Bahá’u’lláh nahe zu sein, gehörte auch der große Nabíl1. In der Blüte seiner Jugend sagte er seiner Familie in Zarand Lebewohl und begann mit Gottes Hilfe den Glauben zu lehren. Er wurde ein Heerführer in der Armee der Liebenden, und auf seiner Suche reiste er aus dem persischen ‚Iráq ins Zweistromland, konnte aber dort den Gesuchten nicht finden; denn der Vielgeliebte war damals in Kurdistán und lebte in einer Höhle bei Sar-Galú. Dort, völlig allein in der Wildnis, ohne Gefährten, ohne Freund, ohne eine einzige lauschende Seele, hielt Er traute Zwiesprache mit der Schönheit, die in Seinem eigenen Herzen wohnte. Es fehlte jede Nachricht von Ihm, der ‚Iráq war verfinstert und in Trauer.
1 Nabíl, der Verfasser von Nabíls Bericht, ist Bahá’u’lláhs „Hofdichter, Sein Chronist und unermüdlicher Jünger“. Vgl. Gott geht vorüber, p.148
10:2 Als Nabíl entdeckte, wie die Flamme, einstmals dort entzündet und behütet, fast erloschen war, wie Yahyá! sich in einen geheimen Unterschlupf verkrochen hatte, wo er träge und untätig lag, und wie winterliche Kälte alles überkommen hatte, sah er sich zu seinem bitteren Leid genötigt, nach Karbilá abzureisen. Dort blieb er, bis die Gesegnete Schönheit aus Kurdistán nach Baghdád zurückkehrte. Da herrschte unbändige Freude. Jeder Gläubige im Lande erwachte zu neuem Leben. So eilte auch Nabíl in die Gegenwart Bahá’u’lláhs und empfing große Gnadengaben. Er verbrachte nun seine Tage in Freude und schrieb Hymnen, den Lobpreis seines Herrn zu feiern. Er war ein begnadeter Dichter, von beredter Zunge, ein Mann voll Mut, entflammt in leidenschaftlicher Liebe.
1 Mírzá Yahyá, „das nominelle Oberhaupt der Gemeinschaft“, war der „provisorisch für die Zeit bis zur Manifestation des Verheißenen bestimmte Mittelpunkt“ (Gott geht vorüber, p.144 und p.146)
10:3 Einige Zeit später ging er wieder nach Karbilá, dann kam er zurück nach Baghdád und zog weiter nach Persien. Weil er mit Siyyid Muhammad verkehrte, wurde er in die Irre geführt, schwer geprüft und heimgesucht, aber wie eine Sternschnuppe wurde er zum Wurfgeschoß, das alle teuflischen Einbildungen vertrieb.1 Er stieß den bösen Einflüsterer von sich und ging zurück nach Baghdád, wo er im Schatten des Heiligen Baumes Ruhe fand. Später reiste er wie angewiesen nach Kirmánsháh. Er kehrte wieder zurück, und auf jeder Reise konnte er einen Dienst erweisen.
1 Eine Anspielung auf islámische Symbole, nach denen das Gute vor dem Bösen geschützt wird. Die Engel verjagen böse Geister, die das Paradies ausspionieren wollen, indem sie Sternschnuppen nach ihnen werfen. Vgl. Qur’án 15:18, 37:10 und 67:5
10:4 Dann verließ Bahá’u’lláh mit Seinem Gefolge Baghdád, den „Wohnsitz des Friedens“, und reiste nach Konstantinopel, der „Stadt des Islám“. Nabíl legte Derwischkleider an, machte sich zu Fuß auf den Weg und holte die Karawane unterwegs ein. In Konstantinopel wurde er angewiesen, nach Persien zurückzukehren und dort die Sache Gottes zu lehren. Er sollte durch das ganze Land reisen und die Gläubigen in den Städten und Dörfern über alles unterrichten, was geschehen war. Als dieser Auftrag ausgeführt war und die Trommeln des: „Bin Ich nicht euer Herr?“ erschallten, denn es war das „Jahr achtzig“1, eilte Nabíl nach Adrianopel und rief unterwegs im Gehen: „Ja, wahrlich, Du bist es! Ja, wahrlich!“ und „Herr, o Herr, hier bin ich!“
1 Eine Bezugnahme auf die Erklärung Bahá’u’lláhs im Jahre 1863 als der Verheißene des Báb. Die Erklärung des Báb hatte im „Jahr sechzig“ – 1844 – stattgefunden.
10:5 Er trat in Bahá’u’lláhs Gegenwart und trank vom roten Wein der Lehenstreue und der Huldigung. Dann erhielt er besondere Aufträge, überallhin zu reisen, um den Ruf zu erheben, daß Gott nunmehr offenbart war, die frohe Botschaft zu verbreiten, daß die Sonne der Wahrheit aufgegangen ist. Er war wahrhaft entflammt, getrieben von ungeduldiger Liebe. Voll Begeisterung durchquerte er ein Land, überbrachte diese beste aller Botschaften und belebte die Herzen aufs neue. In jeder Gesellschaft loderte er wie eine Fackel, er war der Stern jeder Versammlung. Jedem, dem er begegnete, hielt er den berauschenden Kelch entgegen. Er wanderte wie zu Trommelschlag, und schließlich erreichte er die Festung Akká.
10:6 Damals waren die Haftbedingungen ungewöhnlich streng. Die Tore waren geschlossen, die Straßen versperrt. Verkleidet kam Nabíl zum Tor von ‚Akká. Siyyid Muhammad und sein elender Komplize rannten sofort auf die Kommandantur und beschuldigten den Reisenden. „Er ist ein Perser“, gaben sie an. „Er ist keineswegs ein Mann aus Bukhárá, wie es den Anschein hat. Er ist gekommen, um Neuigkeiten über Bahá’u’lláh zu erfahren.“ Die Amtsleute wiesen ihn sofort aus der Stadt.
10:7 Verzweifelt zog sich Nabíl in die Stadt Safad zurück. Später kam er nach Haifa und ließ sich in einer Höhle am Berg Karmel häuslich nieder. Hier wohnte er von Freund und Feind getrennt. Er wehklagte Tag und Nacht, trauerte und sang Gebete. So lebte er als Einsiedler und wartete darauf, daß sich die Tore öffneten. Als die vorherbestimmte Zeit der Kerkerhaft vorüber war, als sich die Tore weit auftaten und der Unterdrückte in Schönheit, Majestät und Herrlichkeit heraustrat, da eilte Ihm Nabíl freudigen Herzens entgegen. Dann verzehrte er sich wie eine Kerze, die in der Liebe zu Gott brennt. Tag und Nacht sang er den Lobpreis des Einziggeliebten beider Welten und den Lobpreis derer an Seiner Schwelle. Er schrieb Verse in Pentametern und Hexametern, Gedichte und lange Oden. Fast täglich wurde er in die Gegenwart der Manifestation1 vorgelassen.
1 Die Bahá’i-Schriften betonen, daß „die Göttlichkeit, die einem so großen Wesen beigegeben wurde, und die vollkommene Verkörperung der Namen und Eigenschaften Gottes in einer so erhabenen Persönlichkeit unter keinen Umständen falsch verstanden oder dargestellt werden sollten“ und daß die „unerkennbare, unzerstörbare und allumfassende Wirklichkeit jenes unsichtbaren und doch der Vernunft entsprechenden Gottes, wie sehr wir auch immer die Göttlichkeit Seiner Manifestationen auf Erden preisen, sich doch keineswegs in Gestalt eines sterblichen Geschöpfes, verdichtet und umgrenzt, verkörpern kann“. (vgl. Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, p.170f)
10:8 So blieb es bis zu dem Tage, da Bahá’u’lláh dahinschied. Bei dieser höchsten Heimsuchung, diesem vernichtenden Unglück schluchzte und erbebte Nabíl und schrie zum Himmel. Er fand heraus, daß der Zahlenwert des Wortes „Shidád“ für „Jahr der Not“ 309 war, und so wurde klar, daß Bahá’u’lláh vorhergesagt hatte, was jetzt eingetreten war.1
1 Nach der Abjad-Rechnung ergeben die Buchstaben des Wortes „Shidád“ zusammen 309. Das Todesjahr Bahá’u’lláh, 1892, war 1309 n.d.H.
10:9 Völlig niedergeschlagen, hoffnungslos, da von Bahá’u’lláh getrennt, fiebernd und in Tränen, litt Nabíl solche Qual, daß jeder bei seinem Anblick bestürzt war. Er mühte sich weiter, aber sein einziger Wunsch war, sein Leben hinzugeben. Er konnte es nicht länger ertragen; seine Sehnsucht stand in hellen Flammen. Er vermochte diesen glühenden Schmerz nicht mehr zu tragen. So wurde er zum König über die Heerscharen der Liebe, und er stürzte sich ins Meer.
10:10 Am Tag, bevor er sich opferte, schrieb er das Jahr seines Todes in dem einen Wort „Ertrunken“ nieder.1 Dann gab er sein Leben für seinen Vielgeliebten hin, war von seiner Verzweiflung erlöst und nicht länger getrennt.
1 „Gharíq“. Die Buchstaben dieses Wortes ergeben den Zahlenwert 1310. Dieses Jahr n.d.H. begann am 26. Juli 1892.
10:11 Dieser edle Mann war gelehrt, weise und redegewandt. Seine natürliche Begabung war reine Inspiration. Seine dichterische Gabe glich einem kristallklaren Gebirgsbach. Vor allem seine Ode „Bahá, Bahá!“ war in reiner Verzückung verfaßt. Sein ganzes Leben lang, von frühester Jugend an, bis er alt und schwach geworden war, verbrachte er seine Zeit damit, dem Herrn zu dienen und Ihn anzubeten. Er litt Mühsal, er durchlebte Unglück, er ertrug Elend. Von den Lippen der Manifestation hörte er Wundersames. Ihm wurde das Licht des Paradieses gezeigt, ihm wurde der innigste Wunsch erfüllt. Und am Ende, als das Tagesgestirn der Welt untergegangen war, konnte er es nicht länger ertragen und warf sich ins Meer. Die Wasser des Opfers schlossen sich über ihm. Er war „ertrunken“ und kam endlich zum Allhöchsten.
10:12 Auf ihm seien nie versiegende Segnungen. Mit ihm sei zartes Erbarmen. Möge er einen großen Sieg erringen und im Reiche Gottes offenbare Gnade erlangen.
11 [55] Darvísh Sidq-Alí
11:1 Auch Áqá Sidq-‚Alí gehörte zu denen, die ihr Heimatland verließen, zu Bahá’u’lláh reisten und ins Größte Gefängnis geworfen wurden. Er war ein Derwisch, lebte frei und losgelöst von Freunden und Fremden. Er war mystisch veranlagt und war ein Dichter. Eine Zeitlang trug er das Kleid der Armut, trank den Wein der Regel und wanderte auf dem Pfade1, aber im Gegensatz zu den anderen Súfí verschrieb er sein Leben nicht dem schmutzigen Hashísh. Im Gegenteil, er reinigte sich von ihrem leeren Wahn und suchte allein nach Gott, sprach nur von Gott und folgte dem Pfade Gottes.
1 Begriffe, wie sie von den Súfí verwendet werden
11:2 Dichterisch hochbegabt schrieb er Oden, um den Lobpreis Dessen zu singen, Den die Welt unterdrückt und verworfen hat. Unter seinen Gedichten ist eines, das er als Gefangener in der Kaserne von ‚Akká schrieb und dessen Kehrreim lautet:
11:3 `Deine wallenden Locken haben hundert Herzen berückt,
Und wenn Du Dein Haar zurückwirfst, regnet es Herzen.`
11:4 In Baghdád entdeckte diese freie, unabhängige Seele eine Spur des unaufspürbaren Geliebten. Er wurde Zeuge, wie das Tagesgestirn über dem Horizont des ‚Iráq emporstieg, und empfing die Gnadengabe dieses Sonnenaufgangs. Er war bezaubert von Bahá’u’lláh und hingerissen von diesem liebevollen Gefährten. Obwohl ein stiller Mensch, der sich ruhig hielt, waren allein schon seine Glieder wie zahllose Zungen, die ihre Botschaft hinausrufen. Als Bahá’u’lláhs Gefolge im Begriff stand, Baghdád zu verlassen, erflehte er die Erlaubnis, sie als Reitknecht begleiten zu dürfen. Den ganzen Tag schritt er neben der Karawane her, und wenn die Nacht hereinbrach, sorgte er für die Pferde. Er war mit ganzem Herzen bei der Arbeit. Erst nach Mitternacht pflegte er sein Lager aufzusuchen und sich zur Ruhe niederzulegen. Sein Bett aber war sein Mantel, und sein Kissen ein sonnengetrockneter Ziegelstein.
11:5 Wenn er so dahinschritt, erfüllt von Sehnsucht und Liebe, sang er Gedichte. Den Freunden bereitete er viel Freude. Er machte seinem Namen1 Ehre: Er war reine Offenheit und Wahrheit, die Liebe selbst, keusch im Herzen und voll der Liebe zu Bahá’u’lláh. In seiner hohen Stellung, der eines Knechts, regierte er wie ein König. In der Tat rühmte er sich über alle Herrscher der Welt. Er wurde nicht müde, Bahá’u’lláh zu dienen, war in allem aufrecht und wahr.
1 Sidq= Wahrheit
11:6 Die Karawane der Liebenden zog weiter. Sie erreichte Konstantinopel, dann Adrianopel und schließlich das Gefängnis von ‚Akká. Sidq-Alí war immer da, dem Gebieter treu zu Diensten.
11:7 Während der Gefangenschaft in der Festung setzte Bahá’u’lláh einen bestimmten Abend fest, den Er Darvish Sidq-Alí widmete. Er schrieb, jedes Jahr an diesem Abend sollten die Derwische einen in einem Blumengarten gelegenen Versammlungsplatz schmücken, um dort zusammenzukommen und Gottes zu gedenken. Weiter schrieb Er, das Wort „Derwisch“ bezeichne nicht Menschen, die herumziehen und ihre Tage und Nächte mit Schaukämpfen und Torheiten zubringen, sondern vielmehr solche, die von allem außer Gott völlig losgelöst sind, die sich an Seine Gesetze halten, fest in Seinem Glauben, treu Seinem Bündnis und stetig in ihrer Andacht sind. Es ist kein Name für jene, die, wie die Perser sagen, gleich Landstreichern umherziehen, verwirrt, seelisch gestört, andern eine Last, die gröbsten und rohesten aller Menschen.
11:8 Dieser hervorragende Derwisch verbrachte sein ganzes Leben unter Gottes beschirmender Gunst. Er war völlig losgelöst von weltlichen Dingen. Er war aufmerksam in seinem Dienst und sorgte mit ganzem Herzen für die Gläubigen. Er diente ihnen allen, treu ergeben an der Heiligen Schwelle.
11:9 Dann kam die Stunde, da er, nicht weit von seinem Herrn, das Gewand des Lebens ablegte. Für irdische Augen trat er ins Reich der Schatten, für das geistige Auge aber begab er sich ins helle Licht und wurde auf einen Thron ewiger Herrlichkeit erhoben. Er entfloh dem Gefängnis dieser Welt und schlug sein Zelt auf in einem großen, weiten Land. Möge Gott ihn immer nahe halten und ihn in diesem mystischen Reiche segnen mit ewiger Vereinigung und beseligender Schau; möge Lichtfülle ihn umhüllen. Auf ihm sei die Herrlichkeit Gottes, des Allherrlichen. Sein Grab ist in ‚Akká.
12 [58] Áqá Mírzá Mahmúd und Áqá Ridá
12:1 Diese beiden gesegneten Seelen, Mírzá Mahmúd aus Káshán und Áqá Ridá aus Shíráz, waren wie zwei Lampen, erleuchtet von der Liebe Gottes aus dem Öl Seiner Erkenntnis. Von Kindesbeinen an mit göttlichen Segnungen umgeben, konnten sie fünfundfünfzig Jahre lang alle möglichen Dienste leisten. Sie taten so viel, daß man es unmöglich aufzählen kann.
12:2 Als Bahá’u’lláhs Gefolge von Baghdád nach Konstantinopel aufbrach, wurde Er von einer großen Menschenmenge begleitet. Unterwegs wurden die Lebensmittel knapp. Diese beiden Seelen gingen zu Fuß vor der Howdah, in der Bahá’u’lláh saß, und legten so jeden Tag eine Strecke von sieben oder acht Farsakh zurück. Müde und erschöpft erreichten sie den Halteplatz, aber so zerschlagen sie auch waren, machten sie sich doch unverzüglich daran, das Essen vorzubereiten, zu kochen und sich um das Wohlergehen der Gläubigen zu kümmern. Ihre Anstrengungen waren wirklich übermenschlich. Es gab Zeiten, da schliefen sie nicht mehr als zwei oder drei Stunden von vierundzwanzig; denn nachdem die Freunde ihr Mahl beendet hatten, sammelten diese beiden das Geschirr und wuschen es zusammen mit dem Kochgerät ab. Das dauerte gewöhnlich bis Mitternacht, und erst dann legten sie sich zur Ruhe. Bei Morgengrauen standen sie auf, packten alles zusammen und schritten wieder vor Bahá’u’lláhs Howdah einher. Seht, welch lebenswichtigen Dienst sie leisten konnten und für welche Gnadengabe sie auserwählt waren: Vom Anbeginn der Reise in Baghdád bis zur Ankunft in Konstantinopel gingen sie in unmittelbarer Nähe Bahá’u’lláhs. Sie machten jeden der Freunde glücklich, brachten allen Ruhe und Wohlbefinden, bereiteten jedem, was er wünschte.
12:3 Áqá Ridá und Mírzá Mahmúd waren der Inbegriff der Liebe zu Gott, völlig losgelöst von allem außer Gott. Die ganze Zeit über hörte nie jemand einen der beiden laut werden. Nie verletzten oder kränkten sie jemanden. Sie waren vertrauenswürdig, ergeben, wahrhaftig. Bahá’u’lláh überhäufte sie mit Segnungen. Sie kamen immer wieder in Seine Gegenwart, und Er äußerte oft Seine Zufriedenheit mit ihnen.
12:4 Mírzá Mahmúd war ein Jüngling, als er aus Káshán in Baghdád eintraf. Áqá Ridá wurde in Baghdád ein Gläubiger. Die geistige Verfassung dieser beiden war unbeschreiblich. In Baghdád gab es eine Gruppe von sieben führenden Gläubigen, die in einem einzigen kleinen Zimmer zusammen wohnten, weil sie mittellos waren. Sie konnten kaum Leib und Seele zusammenhalten, aber sie waren so vergeistigt, so glückselig, daß sie sich im Himmel wähnten. Manchmal sangen sie die ganze Nacht hindurch Gebete, bis der Tag anbrach. Tagsüber gingen sie weg zu arbeiten, und wenn es Nacht wurde, hatte der eine zehn Para, ein anderer zwanzig Para verdient, wieder andere vierzig oder fünfzig. Dieses Geld gaben sie für das Abendessen aus. Eines Tages hatte einer von ihnen zwanzig Para erworben; alle anderen hatten gar nichts. Der mit dem Geld kaufte ein paar Datteln und teilte sie mit den anderen; das war dann das Abendessen für sieben Personen. Sie waren vollkommen zufrieden mit ihrem einfachen Leben, in höchstem Maße glücklich.
12:5 Diese beiden ehrenwerten Männer widmeten ihre Tage all dem, was im menschlichen Leben das Beste ist: Sie hatten Augen zu sehen, sie waren achtsam und wissend, sie hatten Ohren zu hören und redeten in gefälliger Weise. Ihr einziges Verlangen war, Bahá’u’lláh zufriedenzustellen. Ihnen schien nichts anderes von Segen als der Dienst an Seiner Heiligen Schwelle. Nach der Zeit der höchsten Heimsuchung1 wurden sie vom Schmerz aufgezehrt, wie Kerzen vor dem Erlöschen flackern. Sie sehnten sich nach dem Tod, blieben standhaft im Bündnis und arbeiteten hart und gut, um Bahá’u’lláhs Glauben zu verbreiten. Sie waren enge, vertraute Gefährten ‚Abdu’l-Bahás; man konnte sich in allem auf sie verlassen. Immer standen sie bescheiden, demütig und anspruchslos im Hintergrund. In der ganzen langen Zeit äußerten sie nie ein Wort, das mit dem eigenen Ich zu tun hatte.
1 nach dem Hinscheiden Bahá’u’lláhs
12:6 Und zuletzt, während der Abwesenheit ‚Abdu’l-Bahás, nahmen sie ihren Flug zum Reiche unvergänglicher Herrlichkeit. Ich war sehr traurig, daß ich nicht bei ihnen war, als sie starben. Aber wenn auch körperlich abwesend, war ich doch mit dem Herzen da und trauerte um sie. Doch dem äußeren Anschein nach sagte ich ihnen nicht Lebewohl, und das bedauere ich sehr.
12:7 Ihnen beiden seien Gruß und Preis, mit ihnen seien Erbarmen und Herrlichkeit. Möge Gott ihnen eine Heimstatt geben im Paradies, im Schatten des Lotosbaumes. Mögen sie untergetaucht sein in Hüllen von Licht, nahe bei ihrem Herrn, dem Mächtigen, dem Allmachtvollen.
13 [61] Pidar-Ján von Qazvín
13:1 Der verstorbene Pidar-Ján gehörte zu den Gläubigen, die nach Baghdád auswanderten. Er war ein gottesfürchtiger alter Mann, erfüllt von der Liebe zum Vielgeliebten. Im Garten göttlicher Liebe war er wie eine voll erblühte Rose. Er kam in Baghdád an und verbrachte seine Tage und Nächte in inniger Zwiesprache mit Gott und mit dem Singen von Gebeten. Obwohl er auf Erden wandelte, reiste er durch die Höhen des Himmels.
13:1 Um dem Gesetz Gottes zu gehorchen, begann er ein Gewerbe, denn er besaß nichts. Er klemmte sich einige Paar Socken unter den Arm und bot sie feil, während er durch die Straßen und Basare wanderte; aber Diebe raubten ihm seine Ware. Schließlich sah er sich genötigt, die Socken über seine ausgestreckten Handflächen zu legen, während er so einherging. Aber immer wieder hatte er das Bedürfnis, ein Gebet zu singen, und eines Tages stellte er überrascht fest, daß man ihm die über seine beiden Hände gebreiteten Socken vor seinen Augen gestohlen hatte. Sein Bewußtsein für diese Welt war getrübt, denn er reiste durch eine andere. Er war verzückt, wie trunken, wie geblendet.
13:3 Auf diese Weise lebte er eine Zeitlang im ‚Iráq. Fast täglich wurde er in die Gegenwart Bahá’u’lláhs vorgelassen. Sein Name war ‚Abdu’lláh, aber die Freunde gaben ihm den Titel Pidar-Ján – liebes Väterchen -, denn er war ihnen allen ein liebender Vater. Zuletzt nahm er unter der sorgenden Obhut Bahá’u’lláhs seinen Flug zum „Sitz der Wahrheit in der Gegenwart des mächtigen Königs“1
13:4 Möge Gott sein Grab duften lassen vom herniederströmenden Regen Seiner Gnade und das Auge göttlichen Erbarmens auf ihn werfen. Gruß und Preis seien mit ihm.
1 Qur’án 54:55
14 [63] Shaykh Sádiq-i-Yazdí
14:1 Ein weiterer unter denen, die nach Baghdád auswanderten, war Shaykh Sádiq aus Yazd, ein angesehener Mann, rechtschaffen wie sein Name Sádiq1. Er war eine hochragende Palme in den Hainen des Himmels, ein flammender Stern am Firmament der Liebe Gottes.
1 Das Wort „sádiq“ hat eine Reihe von Bedeutungen, darunter wahrhaftig, treu und gerecht.
14:2 Während der ‚Iráq-Zeit eilte er in die Gegenwart Bahá’u’lláhs. Seine Loslösung von den Dingen dieser Welt und seine Treue zum Leben des Geistes sind nicht zu beschreiben. Er war verkörperte Liebe, die Güte selbst. Tag und Nacht gedachte er Gottes. Völlig gleichgültig gegenüber dieser Welt und allem darin, verweilte er ununterbrochen bei Gott, blieb versunken in demütigen Bitten und Gebeten. Die meiste Zeit rannen Tränen aus seinen Augen. Die Gesegnete Schönheit erwählte ihn für besondere Gunstbeweise, und wann immer Er Sádiq Seine Aufmerksamkeit zuwandte, war Seine Liebe und Güte offenkundig.
14:3 Eines Tages hieß es, Sádiq liege im Sterben. Ich ging an sein Bett und fand ihn in den letzten Zügen. Er litt an Darmverschluß; sein Unterleib schmerzte und war geschwollen. Ich eilte zu Bahá’u’lláh und beschrieb seinen Zustand.
14:4 „Geh hin“, sagte Er, „lege deine Hand auf den geschwollenen Körperteil und spreche die Worte: `O Du, der Heiler!`“1
1 Yá Sháfí
14:5 Ich ging zurück, sah, daß der Krankheitsherd inzwischen zur Größe eines Apfels angeschwollen war, hart wie Stein, in ständiger Bewegung, sich windend und drehend wie eine Schlange. Ich legte meine Hand darauf, wandte mich Gott zu und wiederholte demütig die Worte: „O Du, der Heiler!“ Augenblicklich erhob sich der Kranke. Der Darmverschluß war verschwunden, die Schwellung war weg.
14:6 Dieser verkörperte Geist lebte zufrieden weiter im ‚Iráq bis zu dem Tage, da Bahá’u’lláhs Karawane ihren Weg aus Baghdád hinaus nahm. Wie befohlen, blieb Sádiq in der Stadt zurück. Aber die Sehnsucht schlug so leidenschaftlich in seinem Herzen, daß er die Trennung nach Bahá’u’lláhs Ankunft in Mosul nicht länger aushalten konnte. Barfuß, ohne Kopfbedeckung rannte er neben dem Kurier nach Mosul her. Er rannte und rannte, bis er auf jener dürren Ebene, von Barmherzigkeit umhüllt, zu Tode stürzte.
14:7 Möge Gott ihm zu trinken geben aus „einem Weinkelch gekühlt an der Kampferquelle“1, möge Er kristallklare Wasser auf sein Grab herniedersenden. Möge Gott seinen Staub an jenem wüsten Ort mit Moschus umduften und Licht die Fülle darauf herabfluten lassen.
1 Qur’án 76:5
15 [65] Sháh-Muhammad-Amín
15:1 Sháh-Muhammad, der den Titel Amín trug, der Vertrauenswürdige, war einer der frühesten Gläubigen und zutiefst in Liebe entbrannt. In der Blüte seiner Jugend hatte er auf den göttlichen Ruf gehört und sein Antlitz dem Königreich zugewandt. Er hatte die Schleier eitlen Wahns vor seinen Augen hinweggerissen und seines Herzens Sehnsucht erreicht. Weder der Trug, der unter den Leuten umlief, noch die Vorwürfe, denen er ausgesetzt war, machten ihn abspenstig. Unerschüttert stand er da, ein Meer von Mühsal vor Augen, stark in der Kraft des Tags der Wiederkehr, trat er denen entgegen, die ihn zu behindern und seinen Weg zu versperren suchten. Je mehr sie Zweifel in ihm zu erwecken trachteten, desto standhafter wurde er; je schlimmer sie ihn quälten, desto größere Fortschritte machte er. Er war vom Antlitz Gottes gefangen, gefesselt von der Schönheit des Allherrlichen, eine Flamme der Liebe Gottes, ein sprudelnder Springquell Seiner Erkenntnis,
15:2 Die Liebe schwelte in seinem Herzen, so daß er keinen Frieden fand, und als er die Trennung von seinem Geliebten nicht länger tragen konnte, verließ er seine Heimat in der Provinz Yazd. Den Wüstensand empfand er wie Seide unter seinen Füßen. Leicht wieder Windhauch zog er über die Berge und durch die endlosen Ebenen, bis er am Tore seiner Liebe stand. Er hatte sich vom Fallstrick der Trennung befreit, und im ‚Iráq trat er in die Gegenwart Bahá’u’lláhs.
15:3 Kaum hatte er den Fuß in die Wohnstatt des Geliebten der Menschheit gesetzt, da war er aller Gedanken leer, aller Sorgen enthoben und empfing unendliche Gunst und Gnade. Er verbrachte einige Tage im ‚Iráq und wurde angewiesen, nach Persien zurückzukehren. Dort blieb er einige Zeit und besuchte häufig die Gläubigen. Sein reiner Odem rührte jeden zu neuem Leben, so daß jeder nach dem Glauben schmachtete und ruheloser, ungeduldiger wurde als zuvor.
15:4 Später gelangte er in das Größte Gefängnis mit Mírzá Abu’l-Hasan, dem anderen Amín. Auf dieser Reise kam er in schwere Bedrängnis, denn es war äußerst schwierig, einen Weg in das Gefängnis zu finden. Schließlich wurde er von Bahá’u’lláh im öffentlichen Bad empfangen. Mírzá Abu’l-Hasan war so überwältigt von der majestätischen Gegenwart seines Herrn, daß er wankte, stolperte und zu Boden fiel; er verletzte sich am Kopf und blutete.
15:5 Amín, das heißt Sháh-Muhammad, wurde mit dem Titel „der Vertrauenswürdige“ geehrt und mit Gunstbeweisen überschüttet. Voll Eifer und Liebe eilte er nach Persien zurück, nahm Sendschreiben Bahá’u’lláhs mit sich und arbeitete, immer des Vertrauens würdig, für die Sache Gottes. Seine Dienste waren hervorragend, er war der Herzenstrost der Gläubigen. Keiner konnte sich mit ihm an Energie, Begeisterung und Eifer messen, und keines anderen Dienste kamen den seinen gleich. Er war eine Zuflucht inmitten des Volkes, überall bekannt für seine Ergebenheit an der Heiligen Schwelle, freudig anerkannt von den Freunden.
15:6 Er ruhte keinen Augenblick. Nicht eine Nacht verbrachte er auf dem Lager der Behaglichkeit, nie legte er sein Haupt auf das Kissen der Bequemlichkeit nieder. Ständig war er im Fluge, schwebend wie ein Vogel, rennend wie ein Reh, ein Gast in der Wüste der Einheit, allein und schnell. Er brachte allen Gläubigen Freude. Für alle war sein Kommen eine frohe Botschaft; für jeden Sucher war er Zeichen und Beweis. Er war hingezogen zu Gott, ein Vagabund in der Wüste der Liebe Gottes. Wie der Wind reiste er durch die Ebenen und brauste unruhig über die Berge. Jeden Tag war er in einem anderen Land, jeden Abend in einer neuen Gegend. Nie ruhte, nie rastete er. Allezeit erhob er sich zum Dienst.
15:7 Aber dann nahmen sie ihn in Ádhirbáyján, in der Stadt Míyándu’áb, gefangen. Er fiel einigen grausamen Kurden zum Opfer, einer feindseligen Bande, die dem unschuldigen, wehrlosen Mann nicht einmal Fragen stellten. Im Glauben, dieser Fremde sei, wie andere auch, dem kurdischen Volk übel gesonnen, und überzeugt von seiner Wertlosigkeit, brachten sie ihn um.
15:8 Als die Kunde von seinem Märtyrertod das Gefängnis erreichte, trauerten alle Gefangenen und vergossen Tränen um ihn, Gott ergeben und schutzlos, wie er in seiner letzten Stunde war. Auch auf Bahá’u’lláhs Antlitz waren deutliche Zeichen des Schmerzes. Ein Tablet von unendlicher Zartheit wurde von der Erhabensten Feder zum Gedächtnis des Mannes, der in jener Ebene des Unheils gestorben war, offenbart, und viele andere Sendschreiben wurden für ihn herniedergesandt.
15:9 Heute wohnt er unter dem Schatten der Gnade Gottes in den strahlenden Himmeln. Er verkehrt mit den Vögeln der Heiligkeit, und in der Versammlung schimmernden Glanzes ist er in Licht getaucht. Sein Andenken und sein Lobpreis werden bis ans Ende der Zeit dauern, werden in den Seiten der Bücher, auf den Zungen und Lippen der Menschen weiterleben.
15:10 Mit ihm seien Gruß und Preis. Über ihm sei die Herrlichkeit des Allherrlichen, über ihm sei die größte Barmherzigkeit Gottes.
16 [68] Mashhadí Fattáh
16:1 Mashhadí Fattáh war verkörperter Geist. Er war die Hingabe selbst. Durch seinen Bruder Hájí ‚Alí-‚Askar, der von ebenso reinem Geschlecht war, kam er zum Glauben. Die beiden hielten zusammen wie die Zwillinge Kastor und Pollux, und beide waren erleuchtet vom Licht des Glaubens.
16:2 In allen Dingen waren die beiden als Paar vereint. Sie hatten Anteil an derselben Gewißheit, demselben Glauben, demselben Bewußtsein, und machten sich zur gleichen Zeit aus Ádhirbáyján als Auswanderer auf den Weg nach Adrianopel. In jeder Lebenslage waren sie eines Wesens. Ihre Sinnesart, ihre Ziele, ihre Religion, ihr Charakter, ihr Verhalten, ihr Glaube, ihre Gewißheit, ihre Erkenntnis – alles war eines. Selbst im Größten Gefängnis waren sie allezeit beieinander.
16:3 Mashhadí Fattáh hatte einige Waren; das war alles, was auf dieser Welt sein eigen war. Er hatte diese Waren Leuten in Adrianopel anvertraut; später hatten diese unredlichen Menschen sie weggeschafft. So hatte er auf dem Pfade Gottes alles verloren, was er besaß. Er verbrachte seine Tage im Größten Gefängnis in vollkommener Zufriedenheit. Er war völlig selbstlos. Nie hörte man von ihm auch nur eine Silbe, die zeigte, daß er da war. Er war immer in einer bestimmten Ecke des Gefängnisses und meditierte schweigend, mit dem Gedenken Gottes beschäftigt, zu allen Zeiten geistig wach und achtsam, in einem Zustand des Bittgebetes.
16:3 Dann kam die Höchste Heimsuchung. Er konnte den Schmerz des Abschieds von Bahá’u’lláh nicht tragen, und nach Bahá’u’lláhs Hinscheiden starb er vor Kummer. Selig ist er, und wiederum: Selig ist er! Frohe Botschaften für ihn, und wiederum : Frohe Botschaften für ihn! Über ihm sei die Herrlichkeit des Allherrlichen.
17 [70] Nabíl von Qá’in
17:1 Dieser edle Mann, Mullá Muhammad-‚Alí1, war einer von denen, deren Herz schon vor der Erklärung des Báb zu Bahá’u’lláh hingezogen war. Schon damals trank er den roten Wein der Erkenntnis aus den Händen des Mundschenks der Gnade. Es geschah, daß ein Prinz, der Sohn des Mír Asadu’lláh Khán, Fürst von Qá’in, als politische Geisel in Tihrán festgehalten wurde. Er war jung, weit weg von seinem liebenden Vater, und Mullá Muhammad-‚Alí war sein Erzieher und Wächter. Da dieser Jüngling in Tihrán fremd war, bezeigte die Gesegnete Schönheit ihm besondere Güte. Manchen Abend war der junge Prinz zu Gast in Bahá’u’lláhs Stadthaus, und Mullá Muhammad-‚Alí begleitete ihn. Das war vor der Erklärung des Báb.
1 Nabíl von Qá’in war sein Titel
17:2 Schon damals war dieses Oberhaupt aller vertrauten Freunde von Bahá’u’lláh bezaubert, und wohin er auch kam, überall verbreitete er Bahá’u’lláhs Lobpreis. Wie im Islám üblich, erzählte er auch von den großen Wundern, die er mit eigenen Augen Bahá’u’lláh bewirken sah, und von all dem Wundersamen, das er gehört hatte. Er war in Verzückung, in Liebe entbrannt. In diesem Zustand kehrte er mit dem Prinzen nach Qá’in zurück.
17:3 Später wurde der hervorragende Gelehrte Áqá Muhammad aus Qá’in (dessen Titel Nabíl-i-Akbar war) vom verstorbenen Shaykh Murtadá zum Mujtahid, zum Doktor des religiösen Rechts, gemacht. Er reiste anschließend nach Baghdád, wurde ein glühender Anhänger Bahá’u’lláhs und eilte nach Persien zurück. Die führenden Geistlichen und Mujtahid waren seiner reichen Bildung und Gelehrsamkeit, des Odems seines Wissens und hohen Ranges wohl bewußt und anerkannten dies alles. Wieder in Qá’in, begann er den neuen Glauben offen zu verbreiten. Sowie Mullá Muhammad-‚Alí den Namen der Gesegneten Schönheit hörte, anerkannte er den Báb unverzüglich. „Ich hatte die Ehre“, sagte er, „der Gesegneten Schönheit in Tihrán zu begegnen. Kaum sah ich Ihn, da war ich auch schon Sein Sklave.“
17:4 In seinem Dorf Sar-Cháh begann dieser begabte, hochgesinnte Mann den Glauben zu lehren. Er leitete seine eigene Familie wie auch die anderen den rechten Weg, brachte eine große Schar unter das Gesetz der Liebe Gottes und führte jeden von ihnen auf den Pfad des Heils.
17:5 Bis dahin war er immer ein enger Gefährte von Mír ‚Alam Khán, dem Gouverneur von Qá’in. Er hatte dem Gouverneur wichtige Dienste geleistet, seine Anerkennung und sein Vertrauen genossen. Seiner Religion wegen kehrte sich nun dieser schamlose Fürst im Zorn gegen ihn, beschlagnahmte und plünderte sein Eigentum; denn der Amír hatte Angst vor Násiri’d-Dín Sháh. Er verbannte Nabíl-i-Akbar und richtete Nabíl-i-Qá’iní zugrunde, warf ihn ins Gefängnis und folterte ihn, dann trieb er ihn fort als heimatlosen Vagabunden.
17:6 Für Nabíl war dieses plötzliche Unheil ein Segen. Die Plünderung seiner irdischen Güter, seine Vertreibung in die Wüste waren ihm eine königliche Krone und die größte Gunst, die Gott ihm verleihen konnte. Eine Zeitlang blieb er in Tihrán, dem äußeren Anschein nach ein Bettler ohne feste Bleibe, aber im Innern jubelnd; denn dies ist das Kennzeichen jeder Seele, die fest im Bündnis steht.
17:7 Er hatte Zugang zur höchsten Gesellschaft und kannte die Verhältnisse der verschiedenen Fürsten. Deshalb besuchte er einige und gab ihnen die Botschaft. Er war ein Trost für die Gläubigen und wie ein gezogenes Schwert für die Feinde Bahá’u’lláhs, einer von denen, über die wir im Qur’án lesen: „Für die Sache Gottes werden sie sich hart mühen. Den Tadel der Tadelnden werden sie nicht fürchten.“1 Tag und Nacht arbeitete er hart, um den Glauben zu fördern und mit aller Kraft die klaren Zeichen Gottes weit zu verbreiten. Er trank und trank immer wieder den Wein der Liebe Gottes, war ungestüm, wie die Sturmwolken sind, und ruhelos wie die Wellen des Meeres.
1 Qur’án 5:59
17:8 Dann bekam er die Erlaubnis, das Größte Gefängnis zu besuchen; denn in Tihrán war er als Gläubiger wie gebrandmarkt. Alle wußten von seiner Bekehrung. Er kannte keine Vorsicht, keine Geduld, keine Zurückhaltung; er hielt nichts vom Verschweigen und Verbergen. Er war völlig furchtlos und in schlimmer Gefahr.
17:9 Als er im Größten Gefängnis ankam, warfen ihn die feindseligen Wächter hinaus, und wie er es auch versuchte, er fand keinen Weg hinein. So mußte er nach Nazareth gehen. Dort lebte er eine Zeitlang als Fremder, allein mit seinen beiden Söhnen, Áqá Qulám-Husayn und Áqá ‚Alí-Akbar, klagend und betend. Schließlich wurde ein Plan ausgeheckt, wie man ihn in die Festung bringen könnte, und er wurde in das Gefängnis, in dem die Unschuldigen eingekerkert waren, hineingerufen. Er geriet in solche Verzückung, daß man es nicht beschreiben kann, und wurde in Bahá’u’lláhs Gegenwart vorgelassen. Als er eintrat und seine Augen zur Gesegneten Schönheit erhob, wankte und zitterte er und fiel ohnmächtig zu Boden. Bahá’u’lláh sprach Worte der Liebe und Güte zu ihm, und er erhob sich wieder. Einige Tage verbrachte er in der Kaserne versteckt, dann kehrte er nach Nazareth zurück.
17:10 Die Einwohner Nazareths wunderten sich sehr über ihn. Sie erzählten einander, er müsse doch offenbar in seinem Heimatland ein großer, vornehmer Mann sein, eine Standesperson von hohem Rang. Sie fragten sich, warum er wohl einen so abgelegenen Winkel der Welt wie Nazareth ausgesucht habe, und wie er sich mit Armut und Strapazen zufriedengeben könne.
17:11 Als dann die Verheißung des Größten Namens sich erfüllte, sich die Gefängnistore weit öffneten und alle Freunde und Reisenden die Festungsstadt in Frieden und Anstand betreten und verlassen konnten, da reiste Nabíl von Qá’in jeden Monat einmal herbei, um Bahá’u’lláh zu sehen. Aber wie Er es ihm befahl, blieb er in Nazareth wohnen. Er bekehrte dort einige Christen zum Glauben, und Tag und Nacht weinte er über das Unrecht, das Bahá’u’lláh angetan wurde.
17:12 Die Grundlage seines Lebensunterhalts war seine geschäftliche Partnerschaft mit mir, das heißt, ich stattete ihn mit einem Kapital von drei Kran1 aus. Damit kaufte er Nadeln, und das war sein Lagervorrat. Die Frauen von Nazareth gaben ihm Eier im Tausch gegen seine Nadeln; auf diese Weise brachte er dreißig oder vierzig Eier am Tag zusammen, drei Nadeln pro Ei. Dann verkaufte er die Eier und lebte von dem Erlös. Da täglich eine Karawane zwischen ‚Akká und Nazareth verkehrte, wandte er sich täglich an Áqá Ridá um mehr Nadeln. Ruhm sei Gott! Er überstand zwei Jahre mit diesem Ausgangskapital, und er bedankte sich immerzu. Wie losgelöst er von weltlichen Dingen war, läßt sich schon an Folgendem erkennen: Die Nazarener pflegten zu sagen, es sei klar aus den Sitten und dem Betragen des alten Mannes zu erkennen, daß er sehr reich sei, und wenn er so bescheiden lebe, sei es nur, weil er ein Fremder an fremdem Orte sei. Er verberge seinen Reichtum, indem er sich als Nadelhausierer ausgebe.
1 Ein Kran entsprach 20 Sháhí oder etwa 20 Pfennigen.
17:13 Sooft er in die Gegenwart Bahá’u’lláhs kam, erhielt er immer neue Beweise der Gunst und Liebe. Allezeit war er mir ein enger Freund und Gefährte. Wenn Leid mich überkam, sandte ich nach ihm, und dann freute ich mich, wenn ich ihn nur wiedersah. Wie wundervoll war seine Rede, wie anziehend seine Gesellschaft! Ein strahlendes Antlitz hatte er, ein freies Herz, losgelöst von jeder irdischen Fessel, immer beschwingt. Zum Schluß nahm er Wohnung im Größten Gefängnis und trat nun täglich in die Gegenwart Bahá’u’lláhs.
17:14 Eines Tages ging er mit seinen Freunden durch den Basar. Da begegnete er einem Totengräber, Hájí Ahmad mit Namen. Obgleich er bei bester Gesundheit war, wandte er sich an den Totengräber und sagte lachend zu ihm: „Komm mit mir!“ Begleitet von den Gläubigen und dem Totengräber, ging er hinaus nach Nabíyu’lláh Sálih. Dort sagte er: „O Hájí Ahmad, ich habe eine Bitte an dich. Wenn ich von dieser Welt scheide und in die nächste gehe, grabe mein Grab hier neben dem Reinsten Zweig1. Um diesen Gefallen bitte ich dich.“ Damit gab er dem Mann ein Geldgeschenk.
1 Mírzá Mihdí, der Sohn Bahá’u’lláhs, der eines Abends beim Gebet vom Kasernendach zu Tode stürzte. Vgl. Gott geht vorüber, p.214
17:15 Am selben Abend, nicht lange nach Sonnenuntergang, kam die Nachricht, Nabíl von Qá’in sei krank. Ich ging sofort zu seiner Wohnung. Er saß da und unterhielt sich, strahlend, lachend, scherzend, aber ohne ersichtlichen Grund lief ihm der Schweiß in Strömen über das Gesicht; er stürzte förmlich herab. Abgesehen davon, fehlte ihm nichts. Er schwitzte fortgesetzt, wurde schwächer, legte sich ins Bett, und gegen Morgen verschied er.
17:16 Bahá’u’lláh erwähnte ihn oft mit unendlicher Gunst und Güte. Er offenbarte eine Anzahl Sendschreiben in seinem Namen. Die Gesegnete Schönheit pflegte nach Nabíls Tod dessen Inbrunst, die Kraft dieses Glaubens, ins Gedächtnis zu rufen und zu bemerken, dies sei ein Mann gewesen, der Ihn bereits vor dem Kommen des Báb erkannt habe.
17:17 Alles Heil sei ihm für diese wundersame Gabe. „Seligkeit erwartet ihn und ein stattliches Zuhause … Und Gott wird für Seine Barmherzigkeit erwählen, wen immer Er will.“1
1 Qur’án 13:28, 2:99, 3:67
18 [76] Siyyid Muhammad-Taqí Manshádí
18:1 Muhammad-Taqí kam aus dem Dorf Manshád. Schon in seiner Jugend hörte er vom Glauben Gottes. In heiliger Verzückung wandte sich sein Geist himmelwärts, und sein Herz wurde durchflutet von Licht. Göttliche Gnade stieg auf ihn herab. Der Ruf Gottes riß ihn so mit sich fort, daß er den Frieden Mansháds in den Wind schlug. Er verließ seine Verwandtschaft und seine Kinder, machte sich auf über die Berge und durch die wüsten Ebenen, zog von einem Rastplatz zum nächsten, kam an das Meeresufer, fuhr über die See und erreichte schließlich die Stadt Haifa. Von dorte eilte er nach ‚Akká und trat in die Gegenwart Bahá’u’lláhs.
18:2 In diesen frühen Tagen eröffnete er einen kleinen Laden in Haifa und handelte mit Kleinkram. Gottes Segen lag auf seinen Geschäften, und sie gingen gut. Seine kleine Ecke wurde zu einer Zuflucht für die Pilger. Wenn sie ankamen und noch einmal bei ihrer Abreise, waren sie zu Gast bei dem hochgesinnten, großzügigen Muhammad-Taqí. Er half auch, die Angelegenheiten der Gläubigen zu regeln, und trug ihre Reisezahlungsmittel zusammen. Er bewies unverbrüchliche Zuverlässigkeit, Treue und Vertrauenswürdigkeit. Schließlich wurde er der Mittelsmann, durch den die Sendschreiben abgesandt wurden und die Post der Gläubigen eintreffen konnte. Er verrichtete diesen Dienst mit vollkommener Verläßlichkeit auf sehr angenehme Weise. Gewissenhaft versandte und empfing er die Briefpost zu allen Zeiten. Jedermann vertraute ihm, in vielen Teilen der Welt wurde er bekannt, und er empfing unzählige Gnadengaben von Bahá’u’lláh. Er war eine Schatzkammer der Gerechtigkeit und der Rechtschaffenheit, völlig frei von jeder Bindung an weltliche Dinge. Er hatte sich an ein sehr karges Leben gewöhnt, gab nichts auf Speise oder Schlaf, Behagen oder Frieden. Er lebte ganz allein in einem einzigen Zimmer und schlief in einer Ecke auf einem Lager aus Palmblättern. Aber für Reisende war er ein Quell in der Wüste, für sie breitete er die weichesten Kissen aus und deckte den besten Tisch, den er sich leisten konnte. Er hatte ein Lächeln auf dem Gesicht und war seinem Wesen nach von durchgeistigter Heiterkeit.
18:3 Nachdem die Sonne der höchsten Heerscharen untergegangen war, blieb Siyyid Manshádí treu im Bündnis, ein scharfes Schwert gegen die Bündnisbrecher. Sie versuchten es mit jedem Kniff, jeder Tücke, mit ihren kunstreichsten Mitteln; es ist unvorstellbar, mit welchen Gunstbeweisen sie ihn überschütteten, welche Ehrerbietung sie ihm entgegenbrachten, welche Feste sie ihm bereiteten, welche Vergnügungen sie ihm boten, alles nur, um eine Bresche in seinen Glauben zu schlagen. Dennoch wurde er von Tag zu Tag standhafter, blieb treu und wahrhaftig, enthielt sich jedes unziemlichen Gedankens und wies alles von sich, was dem Bunde Gottes zuwider war. Als sie schließlich an der Möglichkeit verzweifelten, seine Entschlossenheit ins Wanken zu bringen, da belästigten sie ihn in jeder nur möglichen Weise und hatten es auf seinen finanziellen Ruin abgesehen. Er aber blieb der Inbegriff der Standhaftigkeit und des Vertrauens.
18:4 Als ‚Abdu’l-‚Hámíd auf Anstiftung der Bündnisbrecher mich anzufeinden begann, war ich gezwungen, Manshádí nach Port Said zu schicken, da er weithin bei den Leuten als unser Postverteiler bekannt war. Ich mußte ihm dann die Post über unbekannnte Mittelsleute zuleiten, und er versandte die Briefe weiter wie zuvor. So war es den Verrätern und Feinden unmöglich, Hand auf die Briefpost zu legen. In ‚Abdu’l-Hámids letzten Tagen, als eine Untersuchungskommission erschien und, von jenen entfremdeten Verwandten angestachelt, Pläne schmiedete, wie sie den Heiligen Baum mit der Wurzel ausrissen, als man entschlossen war, mich in die Tiefen des Meeres zu werfen oder mich in den Fessan1 weiterzuverbannen – wie es ihre feste Absicht war -, und als die Kommission dementsprechend ihr Äußerstes versuchte, um dieses oder jenes Schriftstück in die Hand zu bekommen, da schlug dies alles fehl. Inmitten dieses ganzen Aufruhrs mit all seinem Druck und Zwang, mit widerwärtigen Angriffen von Leuten, die erbarmungslos waren wie Yazid2, ging doch die Post durch.
1 Fessan liegt in ???
2 Yazíd, Sohn und Nachfolger des Mu’áviyyih, der ‚Ummayah-Kalif, auf dessen Befehl der Imám Husayn den Märtyrertod starb. Sprichwörtlich für Grausamkeit. Vgl. ‚Abdu’l-Bahá, Beantwortete Fragen, Kapitel 11 und Kapitel 13. H.M.Balyuzi, Muhammad und the Course of Islam, p.193ff, und Marzieh Gail, Muhammad und der Islam, p.83f
18:5 Viele lange Jahre hindurch verrichtete Siyyid Manshádí diesen Dienst in Port Said vorzüglich. Die Freunde waren einmütig zufrieden mit ihm. In jener Stadt wurden ihm die Reisenden zu Dank verpflichtet, die Auswanderer waren in seiner Schuld, und den ortsansässigen Gläubigen brachte er Freude. Dann stellte sich heraus, daß die große Hitze Ägyptens zu viel für ihn war. Er legte sich zu Bett und warf in einem heftigen Fieber das Gewand des Lebens von sich. Aus Port Said reiste er in das Reich des Himmels und erhob sich zu den Wohnstätten des Herrn.
18:6 Siyyid Manshádí war das Wesen der Tugend und des Verstandes. Seine Eigenschaften und Fertigkeiten brachten die höchstgebildeten Zeitgenossen zum Erstaunen. Er hatte keinen Gedanken außer an Gott, keine Hoffnung außer derjenigen auf Gottes Wohlgefallen. Er war eine Verkörperung des Verses: „Mache mein ganzes Lied zu einem einzigen Lobgesang für Dich. Für ewig bewahre mich treu in Deinem Dienst.“
18:7 Möge Gott seinen fiebernden Schmerz kühlen mit der Gnade der Wiedervereinigung in Seinem Königreich. Möge Er seine Krankheit heilen mit dem Balsam der Nähe zu Ihm im Reiche des Ewigschönen. Über ihm sei die Herrlichkeit Gottes, des Allherrlichen.
19 [80] Muhammad-‚Alí Sabbáq von Yazd
19:1 Jung an Jahren wurde Muhammad-‚Alí ein Gläubiger, während er im ‚Iráq weilte. Er riß die hemmenden Schleier und Zweifel hinweg, entfloh seinen Täuschungen und eilte hin zum einladenden Obdach des Herrn der Herren. Dem äußeren Anschein nach war er ohne jede Bildung, denn er konnte weder lesen noch schreiben; aber er war von scharfem Verstand und ein vertrauenswürdiger Freund. Einer der Gläubigen brachte ihn in die Gegenwart Bahá’u’lláhs, und bald war er in der Öffentlichkeit als Sein Jünger bekannt. Er fand eine Ecke dicht beim Haus der Gesegneten Schönheit, wo er wohnen konnte, und pflegte morgens und abends in Bahá’u’lláhs Gegenwart zu treten. Eine Zeitlang war er ungemein glücklich.
19:2 Als Bahá’u’lláh mit Seinem Gefolge Bagdád auf dem Weg nach Konstantinopel verließ, gehörte Áqá Muhammad-‚Alí zu dieser Gesellschaft, fiebernd vor Liebe zu Gott. Wir erreichten Konstantinopel, und da uns die Regierung zwang, uns in Adrianopel niederzulassen, ließen wir Muhammad-‚Alí in der türkischen Hauptstadt zurück, damit er den Gläubigen bei ihrem Kommen und Gehen durch diese Stadt behilflich sei. Daraufhin gingen wir nach Adrianopel. Dieser Mann blieb allein und litt große Pein, denn er hatte weder Freund noch Gefährten und niemanden der sich um ihn kümmerte.
19:3 Zwei Jahre später kam er nach Adrianopel und suchte eine Zuflucht in der Liebe und Güte Bahá’u’lláhs. Er arbeitete als Hausierer. Als der große Aufruhr1 begann und die Widersacher die Freunde in äußerste Not brachten, war auch er unter den Gefangenen und wurde mit uns in die Festung Akká verbannt.
19:4 Er verbrachte längere Zeit im Größten Gefängnis. Dann bat ihn Bahá’u’lláh, nach Sidon zu gehen, wo er einen Handel betrieb. Manchmal kehrte er zurück und wurde von Bahá’u’lláh empfangen, aber ansonsten blieb er in Sidon. Er war dort angesehen, man vertraute ihm, und er legte für alle Ehre ein. Als die schlimmste Heimsuchung2 über uns kam, kehrte er nach ‚Akká zurück und verbrachte seine letzten Tage nahe dem heiligen Grabe.
19:5 Die Freunde waren allesamt erfreut über ihn, und an der Heiligen Schwelle wurde er sehr geschätzt. In diesem Zustand nahm er seinen Flug zur immerwährenden Herrlichkeit und ließ seine Verwandtschaft in Trauer zurück. Er war ein gütiger, ja hervorragender Mensch: zufrieden mit Gottes Willen für ihn selbst, dankbar, ein Mann von Würde und Langmut. Über ihm sei die Herrlichkeit des Allherrlichen. Möge Gott auf sein duftendes Grab in ‚Akká Ströme himmlischen Lichtes herniedersenden.
1 vorvorletzter Absatz: Der Aufstand Mírzá Yahyás, der zum vorläufigen Oberhaupt der Bábí-Gemeinde ernannt war. Der Báb hatte nie einen Nachfolger oder Statthalter ernannt, sondern Seine Jünger auf das unmittelbar bevorstehende Kommen des Verheißenen hingewiesen. In der Zwischenzeit wurde ein Unbekannter aus Sicherheitsgründen zum scheinbaren Oberhaupt bestimmt. Nach Seiner Erklärung 1863 als der vom Báb Verheißene zog sich Bahá’u’lláh in Adrianopel eine Zeitlang zurück, um den Verbannten freie Wahl zwischen Ihm selbst und diesem unwürdigen Halbbruder, dessen Vergehen und Verrücktheiten den jungen Glauben zu zerstören drohten, zu lassen. Erschrocken über die Herausforderung, Bahá’u’lláh in einem öffentlichen Streitgespräch gegenüberzutreten, sagte Mírzá Yahyá ab und war völlig bloßgestellt. Wie die Bahá’í-Geschichte wiederholt bewies, brachte auch diese Krise, so schwer sie war, noch größere Siege für den Glauben mit sich, darunter die Wiedervereinigung mit hervorragenden Jüngern Bahá’u’lláhs und die weltweite Verkündigung Seiner Sendung in Seinen Sendschreiben an den Papst und an die Könige. Vgl. Gott geht vorüber, p.32 und Kapitel X.
2 vorletzter Absatz: das Hinscheiden Bahá’u’lláhs am 29. Mai 1892
20 [83] ‚Abdu’l-Ghaffár von Isfahán
20:1 ‚Abdu’l-Ghaffár von Isfahán gehörte zu denen, die ihr Heimatland verließen, um unsere Nachbarn und Mitgefangenen zu werden. Er war ein sehr aufnahmefähiger Mensch, der in Geschäften viele Jahre lang durch Kleinasien gereist war. So machte er eine Reise in den ‚Iráq, wo ihn Áqá Muhammad-‚Alí von Sád (Isfahán) unter das Obdach des Glaubens brachte. Bald riß er die Binde der Einbildungen hinweg, die seine Augen bislang verdunkelt hatte; er erhob sich und schwang sich auf zum Heil in den Himmel der Liebe Gottes. Bei ihm war der trennende Schleier nur dünn, fast durchsichtig, und kaum war das erste Wort gesprochen, da war er schon frei von der Welt leeren Wahns und schloß sich fest an Ihn, Der klar zu sehen ist.
20:2 Auf der Reise vom ‚Iráq zur Großen Stadt, nach Konstantinopel, war ‚Abdu’l-Ghaffár ein engvertrauter, angenehmer Gefährte. Er diente der ganzen Reisegesellschaft als Dolmetscher, denn er sprach vorzüglich Türkisch, eine Sprache, in der sonst keiner der Freunde bewandert war. Die Reise ging friedlich zu Ende; auch danach, in der Großen Stadt, blieb er weiterhin unser Gefährte und Freund. So war es auch in Adrianopel und ebenso, als er uns als einer der Gefangenen bis zur Stadt Haifa begleitete.
20:3 Hier nun entschieden sich die Unterdrücker, ihn nach Zypern zu senden. Erschrocken schrie er um Hilfe, denn er sehnte sich danach, bei uns im Größten Gefängnis zu sein. Als man ihn gewaltsam zurückhielt, stürzte er sich hoch vom Schiff ins Meer. Das hatte jedoch auf die brutalen Offiziere keinerlei Wirkung. Man zog ihn aus dem Wasser, sperrte ihn im Schiff ein, hielt ihn grausam zurück und schleppte ihn gewaltsam nach Zypern. In Famagusta wurde er ins Gefängnis geworfen, aber irgendwie gelang es ihm zu entkommen, und er eilte nach ‚Akká. Um sich hier vor der Bosheit unserer Unterdrücker zu schützen, änderte er seinen Namen in ‚Abdu’lláh. Im Schutz der Liebe und Güte Bahá’u’lláhs verbrachte er seine Tage ruhig und glücklich.
20:4 Aber als das größte Licht der Welt untergegangen war, um auf ewig weiter vom strahlendsten Horizont zu scheinen, war ‚Abdu’l-Ghaffár außer sich und fiel seiner Seelenqual zum Opfer. Er hatte kein Zuhause mehr, ging nach Damaskus und blieb einige Zeit dort, befangen in seinem Schmerz, trauernd bei Tag und bei Nacht. Er wurde immer schwächer. Wir entsandten Hájí ‚Abbás, ihn zu behandeln und zu versorgen und uns jeden Tag über ihn zu berichten. Aber ‚Abdu’l-Ghaffár redete nur unaufhörlich und zu jeder Tageszeit mit seinem Pfleger darüber, wie sehr er sich danach sehne, seinen Weg in das geheimnisvolle Land des Jenseits zu nehmen. Und schließlich machte er sich fern der Heimat, verbannt von seiner Liebe, auf zur Heiligen Schwelle Bahá’u’lláhs.
20:5 Er war ein wahrhaft langmütiger, milder Mensch, ein Mann von gutem Charakter, guten Taten und guten Worten. Gruß und Preis seien ihm, und die Herrlichkeit des Allherrlichen! Sein duftendes Grab ist in Damaskus.
1 Mírzá Yahyá war nicht aus Persien vertrieben worden. 1868 wurde er jedoch aus Adrianopel nach Zypern verbannt, und ‚Abdu’l-Ghaffár war einer der vier Gefährten, die verurteilt wurden, mit ihm zu gehen. Vgl. Bahá’u’lláh, Brief an den Sohn des Wolfes, p.143, und Shoghi Effendi, Gott geht vorüber, p.207
21 [85] ‚Alí Najaf-Ábádí
21:1 Áqá ‚Alí Najaf-Ábádí gehörte ebenfalls zu den Auswanderern und vertrauten Nachbarn. Als dieser durchgeistigte junge Mann zum erstenmal den Ruf Gottes hörte, setzte er seine Lippen an den heiligen Kelch und schaute die Herrlichkeit des Sprechers auf dem Berge. Und als er, dank dem Lichte, wirkliche Erkenntnis erlangt hatte, reiste er zum Größten Gefängnis, wo er das Wesen aller Erkenntnis gewahrte und die hohe Stufe unzweifelhafter Wahrheit erreichte.
21:2 Lange Zeit blieb er in der heiligen Stadt und in ihrer Nähe. Er wurde der sprichwörtliche Kaufmann Habíbu’lláh und verbrachte seine Tage im Vertrauen auf Gott mit Fürbitte und Gebet, ein sanftmütiger, ruhiger, standhafter Mann, der sich nie beklagte, in allen Dingen gefällig und lobenswert. So fand er bei allen Freunden Anklang und wurde an der Heiligen Schwelle angenommen und willkommen geheißen. Während seiner letzten Tage, als er fühlte, daß ihm bald ein glückliches Ende beschieden sei, fand er sich wiederum in der heiligen Stadt des Größten Gefängnisses ein. Bei seiner Ankunft wurde er krank und immer schwächer. Er verbrachte seine Zeit im Bittgebet zu Gott, bis der Odem des Lebens in ihm erlosch, bis die Tore zum Flug in das Reich der Höhe weit sich öffneten, bis er seine Augen von der Welt des Staubes abkehrte und voranschritt, hin zu dem heiligen Ort.
21:3 ‚Alí Najaf-Ábádí hatte ein sanftes, zartfühlendes Herz. Allezeit war er Gottes eingedenk und erwähnte Ihn. Gegen Ende seines Lebens war er losgelöst, makellos, frei vom Gift dieser Welt. Leichthin gab er sein Stückchen Erde auf und errichtete sein Zelt im Lande des Jenseits. Möge Gott die reinen Düfte des Verzeihens auf ihn senden. Möge Er sein Auge mit dem Anblick der göttlichen Schönheit im Reich des Strahlenglanzes erhellen und seinen Geist erfrischen mit den Moschuswinden, die aus dem Reiche Abhá wehen. Mit ihm seien Gruß und Preis. Sein reiner, heiliger Staub liegt in ‚Akká.
22 [87] Mashhadí Husayn und Mashhadí Muhammad-i-Ádhirbáyjání
22:1 Mashhadí Husayn und Mashhadí Muhammad stammten beide aus der Provinz Ádhirbáyján. Sie waren reine Seelen, die den großen Schritt in ihrem eigenen Lande taten: Sie machten sich frei von Freund und Feind, entflohen dem Aberglauben, der sie blind gemacht hatte, faßten einen festen Entschluß und beugten sich nieder vor dem gnädigen Gott, dem Herrn des Lebens. Es waren gesegnete Seelen, redlich, unbefleckt im Glauben, unauffällig, gehorsam, arm, zufrieden mit Gottes Willen, voll Liebe für Sein führendes Licht, voll Freude über die große Botschaft. Sie verließen ihr Land und reisten nach Adrianopel. Hier lebten sie ziemlich lange nahe der heiligen Stadt in dem Dorfe Qumruq-Kilísa. Bei Tag flehten sie zu Gott und hielten Zwiesprache mit Ihm. Des Nachts weinten und trauerten sie über das Ungemach Dessen, Dem die Welt Unrecht tat.
22:2 Als es zur Weiterverbannung nach ‚Akká kam, waren sie nicht in der Stadt und wurden deshalb nicht festgenommen. Schweren Herzens blieben sie in jener Gegend und vergossen ihre Tränen. Sobald sie aber einen zuverlässigen Bericht aus ‚Akká in Händen hielten, verließen sie Rumelien und kamen hierher: zwei hervorragende Seelen, treue Gefolgsleute der Gesegneten Schönheit. Es läßt sich nicht in Worte fassen, wie ihre Herzen strahlten und wie fest ihr Glaube war.
22:3 Sie lebten außerhalb von ‚Akká in Bágh-i-Firdaws, arbeiteten als Bauern und verbrachten ihre Tage im Dank an Gott dafür, daß sie wieder ihren Weg in die Nachbarschaft der Gnade und der Liebe gefunden hatten. Aber sie waren in Ádhirbáyján geboren und an die Kälte gewöhnt; die Hitze hier konnten sie nicht ertragen. Hinzu kam, daß sich dies während unserer frühen Tage in ‚Akká zutrug, als Luft und Wasser außergewöhnlich schädlich und ungesund waren. Beide erkrankten an chronischem hohem Fieber. Sie trugen es heiter und mit erstaunlicher Geduld. Während ihrer Krankheit verblieben sie trotz ihrer Fieberanfälle, trotz der Heftigkeit ihres Leidens, trotz des brennenden Durstes und der Ruhelosigkeit innerlich voll Frieden und freuten sich der frohen Botschaften Gottes. Und während sie Gott aus ganzem Herzen ihren Dank darbrachten, eilten sie hinweg aus dieser Welt und traten ein in die andere. Sie entkamen diesem Käfig und wurden entlassen in den Garten der Unsterblichkeit. Mit ihnen sei die Barmherzigkeit Gottes. Möge Er Gefallen an ihnen finden. Mit ihnen seien Gruß und Preis. Möge Gott sie in das Reich der Ewigkeit bringen, damit sie sich der Wiedervereinigung mit Ihm freuen und sich im Reiche Seines Strahlenglanzes sonnen. Ihre beiden leuchtenden Grabstätten sind in ‚Akká.
23 [89] Hájí Abdu’r-Rahím-i-Yazdí
23:1 Hájí ‚Abdu’r-Rahím von Yazd war eine kostbare Seele, tugendhaft und gottesfürchtig von frühen Jahren an und unter dem Volk als ein Heiliger bekannt, unvergleichlich bei der Ausübung seiner religiösen Pflichten und gewissenhaft in seinen Taten. Sein starker Glaube war eine unbestreitbare Tatsache. Er diente Gott und verehrte Ihn bei Tag und Nacht, er war ohne Tadel, sanftmütig, mitfühlend, ein treuer Freund.
23:2 Da er vollkommen vorbereitet war, rief er, sowie er den Ruf vom Höchsten Horizonte und den Trommelschlag des „Bin ich nicht euer Herr?“ hörte, sofort sein „Ja, wahrlich!“1 Mit seinem ganzen Wesen wurde er entflammt von dem Strahlenglanz, den das Licht der Welt vergoß. Offen und kühn begann er, seine Familie und seine Freunde im Glauben zu festigen. Bald war dies in der ganzen Stadt bekannt; in den Augen der schlimmen ‚Ulamá war er nun ein Gegenstand des Hasses und der Schmach. Er zog ihre Wut auf sich und wurde von jenen Sklaven ihrer niederen Leidenschaften beschimpft, belästigt und gequält. Die Bewohner der Stadt rotteten sich zusammen, die gottlosen ‚Ulamá hatten es auf seinen Tod abgesehen. Auch die Regierungsbeamten fielen über ihn her, hetzten ihn, folterten ihn sogar. Sie schlugen ihn mit Knüppeln und peitschten ihn aus. So ging es Tag und Nacht weiter.
1 vgl Qur’an 7:171 und Fußnote bei Kap.9
23:3 Dann war er gezwungen, sein Heim aufzugeben und die Stadt zu verlassen. Als Vagabund zog er über die Berge, durchquerte die Ebenen, bis er das Heilige Land erreichte. Aber er war so geschwächt und ermattet, daß jeder, der ihn sah, dachte, er läge in den letzten Zügen. Als er in Haifa ankam, eilte Nabíl von Qá’in nach ‚Akká und drängte mich, den Hájí sofort einzuladen, weil er im Sterben liege und rasch schwächer werde.
23:4 „Laß mich ins Landhaus gehen“, sagte ich, „und um Erlaubnis bitten.“
23:5 „Das würde zu lange dauern“, sagte er, „und ‚Abdu’r-Rahím würde ‚Akká nie mehr sehen. Ich wünsche von Herzen, daß er dieser Gnade teilhaftig werde, daß er vor seinem Tod ‚Akká wenigstens sieht. Ich flehe Dich an, laß ihn sogleich rufen!“
23:6 Ich fügte mich dem Wunsch Nabíls und ließ ‚Abdu’r-Rahím kommen. Als er eintrat, gab er kaum noch ein Lebenszeichen von sich. Ab und zu öffnete er die Augen, sprach aber kein Wort. Doch die süßen Düfte des Größten Gefängnisses fachten seinen Lebensfunken wieder an, und seine Sehnsucht, Bahá’u’lláh zu begegnen, flößte ihm neuen Odem ein. Am nächsten Morgen sah ich bei ihm herein und fand ihn frisch und munter. Er bat um die Erlaubnis, Bahá’u’lláh aufzusuchen. „Alles hängt davon ab“, erwiderte ich, „ob Er dir die Erlaubnis gibt. So Gott will, wirst du für diese hohe Gabe auserwählt.“
23:7 Einige Tage später kam die Erlaubnis, und er eilte in Bahá’u’lláhs Gegenwart. Als ‚Abdu’r-Rahím dort eintrat, wehte der Geist des Lebens über ihn hin, und bei seiner Rückkehr war klar, daß aus diesem Hájí ein völlig anderer Hájí geworden war: Er blühte vor Gesundheit. Nabíl war verblüfft und sagte: „Wie lebenspendend ist doch für einen wahren Gläubigen diese Gefängnisluft!“
23:8 Eine Zeitlang lebte ‚Abdu’r-Rahím in der Nachbarschaft. Er verbrachte seine Zeit mit dem Gedenken und dem Lobpreis Gottes, sang Gebete und beachtete mit Sorgfalt seine religiösen Pflichten. So sah er wenige Menschen. Dieser Diener (‚Abdu’l-Bahá) wandte besondere Aufmerksamkeit auf seine Bedürfnisse und verordnete ihm leichte Kost. Aber mit der schlimmsten Heimsuchung, dem Hinscheiden Bahá’u’lláhs, nahm alles ein Ende. Es herrschte Angst, und lautes Weinen war zu hören. Mit flammendem Herzen und überströmenden Augen, aber mit schwindenden Kräften kämpfte sich ‚Abdu’r-Rahím weiter durchs Leben. So vergingen seine Tage; er sehnte sich unentwegt nach dem Abschied von der Welt, diesem Schutthaufen. Endlich riß er sich los von der Qual seines Verlustes und eilte hin zum Reiche Gottes, wo er in die Versammlung des göttlichen Glanzes im Reiche des Lichtes trat.
23:9 Mit ihm seien Gruß und Preis und unaussprechliche Gnade. Möge Gott seine Ruhestatt mit dem Strahlenglanz aus Seinem Reich der Geheimnisse überfluten.
24 [92] Hájí Abdu’lláh Najaf-Ábádí
24:1 Kaum war er ein Gläubiger geworden, da verließ Hájí ‚Abdu’lláh seine persische Heimat und eilte ins Heilige Land. Im Schutze der Gnade Bahá’u’lláhs fand er seinen Seelenfrieden. Er war ein Mann voll Zuversicht, fest und standhaft, der vielfältigen Gnadengaben Gottes gewiß, von hervorragenden Charakteranlagen.
24:2 Seine Tage verbrachte er in freundschaftlichem Zusammensein mit den anderen Gläubigen. Dann ging er eine Zeitlang nach Ghawr bei Tiberias als Bauer. Er trieb Ackerbau, aber gleichzeitig verwandte er viel Zeit darauf, zu Gott zu beten und mit Ihm Zwiesprache zu halten. Er war ein außergewöhnlicher Mensch, hochherzig und makellos.
24:3 Später kehrte er aus Ghawr zurück und ließ sich in Bahá’u’lláhs Nähe, in Junayna, nieder. Oft trat er in Seine Gegen- wart. Seine Augen waren auf das Reich Abhá gerichtet. Manchmal vergoß er Tränen und klagte, dann wieder frohlockte er und war glücklich, weil er das Ziel seiner höchsten Sehnsucht erreicht hatte. Er war völlig losgelöst von allem außer Gott, glückselig in der Gnade Gottes. Den größten Teil der Nacht blieb er wach, im Zustand des Gebets. Dann kam zur festgesetzten Stunde der Tod, und im Schatten der Obhut Bahá’u’lláhs stieg er empor, eilte hinweg aus dieser Welt des Staubes, schwebte hinauf zum hohen Firmament, in das geheimnisvolle Land. Mit ihm seien in der Nähe seines erhabenen Herrn, Gruß, Gnade und Lobpreis.
25 [93] Muhammad-Hádíy-i-Sahháf
25:1 Ein anderer von denen, die auswanderten und sich in Bahá’u’lláhs Nähe niederließen, war der Buchbinder Muhammad-Hádí. Dieser angesehene Mann kam aus Isfahán. Im Binden und Ausschmücken von Büchern hatte er keinen seinesgleichen. Als er sich der Liebe Gottes ergab, machte er sich rasch und furchtlos auf den Weg. Er verließ sein Zuhause und trat eine entsetzliche Reise an. Unter härtesten Strapazen kam er von einem Land ins andere, bis er das Heilige Land erreichte und dort eingekerkert wurde. Er setzte sich an die Heilige Schwelle, die er sorgsam fegte und bewachte. Dank seinem ständigen Einsatz war der Platz vor Bahá’u’lláhs Haus immer gekehrt, gesprengt und makellos sauber.
25:2 Bahá’u’lláh schaute oft auf dieses Fleckchen Erde, und dann sagte Er lächelnd: „Muhammad-Hádí hat den Platz vor diesem Gefängnis in das Brautgemach eines Palastes verwandelt. Er bringt allen Nachbarn Freude und verdient ihren Dank.“
25:3 Wenn er mit Fegen, Sprühen und Aufräumen fertig war, setzte er sich an die Arbeit, schmückte und band die verschiedenen Bücher und Sendschreiben. So flossen seine Tage dahin. Sein Herz war glücklich in der Gegenwart des Geliebten der Menschheit. Er war eine vortreffliche Seele, rechtschaffen und wahrhaftig, würdig der Gnade, mit seinem Herrn vereint zu sein, und frei vom Gift der Welt.
25:4 Eines Tages kam er zu mir und klagte über ein chronisches Leiden. „Seit zwei Jahren habe ich Schüttelfrost und Fieber“, sagte er. „Die Ärzte haben mir ein Abführmittel und Chinin verordnet. Das Fieber hört einige Tage auf, aber dann kommt es wieder. Sie geben mir noch mehr Chinin, aber das Fieber kommt trotzdem wieder. Ich bin dieses Lebens müde und kann meine Arbeit nicht länger tun. Rette Du mich!“
25:5 „Welches Essen schmeckt dir am besten?“ fragte ich ihn. „Was würdest du mit großem Appetit essen?“
25:6 „Ich weiß es nicht“, sagte er.
25:7 Im Scherz zählte ich ihm die verschiedenen Gerichte auf. Als ich zu Gerstensuppe mit Molke (ásh-i-kashk) kam, sagte er: „Sehr gut! Aber unter der Bedingung, daß gedünsteter Knoblauch drin ist.“
25:8 Ich gab Anweisung, die Suppe für ihn zu bereiten, und ging weg. Am anderen Tag kam er und berichtete: „Ich habe eine ganze Schüssel voll Suppe gegessen. Dann habe ich den Kopf in die Kissen gesteckt und friedlich bis zum Morgen durchgeschlafen.“
25:9 Kurz, von jenem Tag ab war er ungefähr zwei Jahre lang völlig gesund.
25:10 Dann kam eines Tages ein Gläubiger zu mir und berichtete: „Muhammad-Hádí zerglüht vor Fieber.“ Ich stürzte an sein Bett und fand ihn mit einem Fieber von 42° Celsius. Er war kaum noch bei Bewußtsein. „Was hat er nur getan?“ fragte ich. „Als das Fieber kam“, war die Antwort, „sagte er, er wisse aus Erfahrung, was er machen müsse. Dann stopfte er sich voll Gerstensuppe mit Molke und gedünstetem Knoblauch – und das ist nun das Ergebnis.“
25:11 Ich war bestürzt über die Macht des Schicksals und sagte: „Weil vor zwei Jahren seine Därme gründlich entleert und rein waren, weil er herzhaften Appetit hatte und seine Krankheit aus Erkältung und Fieber bestand, verordnete ich ihm damals die Gerstensuppe. Aber heute, nachdem er Verschiedenes gegessen, keinen Hunger hatte, und besonders bei dem hohen Fieber, gab es keinen Grund, den damaligen chronischen Zustand festzustellen. Wie konnte er nur die Suppe essen!“ „Es war Schicksal“, antworteten sie. Die Entwicklung war zu weit fortgeschritten, Muhammad-Hádí konnte nicht mehr gerettet werden.
25:12 Er war ein Mann von gedrungener Gestalt, von erhabenem Rang und Geist. Sein Herz war rein, seine Seele strahlte. In all den Tagen, da er an der Heiligen Schwelle diente, liebten ihn die Freunde und er stand in Gottes Gunst. Von Zeit zu Zeit sprach die Gesegnete Schönheit zu ihm, mit einem Lächeln auf den Lippen, voll Güte und Huld.
25:13 Muhammad-Hádí war immer getreu. Alles außer dem Wohlgefallen Gottes wertete er als Dichtung und Fabel, nichts weiter. Selig ist er ob dieser Gnadengabe, die ihm verliehen wurde. Frohe Botschaft sei für ihn der Platz, an den er geführt wird! Möge ihm der Kelch voll des Weines, gekühlt an der Kampferquelle, wohl bekommen, und möge all sein Streben ihm Dank eintragen und Gott wohlgefällig sein!1
1 vgl. Qur’án 11:101, 11:100, 76:5, 76:22 und 17:20
26 [96] Mírzá Muhammad-Qulí
26:1 Jináb-i-Mírzá Muhammad-Qulí1 war ein getreuer Bruder der Gesegneten Schönheit. Von Kindheit auf war dieser große Mann für den Adel seiner Seele bekannt. Er war gerade zur Welt gekommen, als sein edler Vater verschied, und so kam es, daß er sein Leben vom ersten bis zum letzten Tag in den schützenden Armen Bahá’u’lláhs verbrachte. Losgelöst von jedem selbstsüchtigen Gedanken, verabscheute er alles Gerede, das nicht die heilige Sache betraf. In Persien wie auch im ‚Iráq wuchs er in Bahá’u’lláhs Obhut auf, von Ihm besonders begünstigt. In Bahá’u’lláhs Gegenwart pflegte er den Tee zu reichen; allezeit, bei Tag und Nacht, wartete er seinem Bruder auf. Er war immer still. Immer hielt er fest am Bündnis des „Bin Ich nicht euer Herr?“ Güte und Großmut umgaben ihn; Tag und Nacht konnte er in Bahá’u’lláhs Gegenwart gelangen; er war immer geduldig und nachsichtig, bis er am Ende die höchsten Höhen göttlicher Gunst und Bestätigung erreichte.
1 vgl. Shoghi Effendi, Gott geht vorüber, p.122
26:2 Er blieb sich stets treu. Er reiste in Bahá’u’lláhs Gesellschaft; vom ‚Iráq nach Konstantinopel war er im Reisezug, und an den Rastplätzen war es seine Aufgabe, die Zelte aufzuschlagen. Er diente mit größter Sorgfalt und kannte weder Trägheit noch Erschöpfung. Auch in Konstantinopel und später im Land des Geheimnisses, in Adrianopel, verhielt er sich immer in gleicher Weise.
26:3 Zusammen mit seinem unvergleichlichen Herrn wurde er dann in die Festung ‚Akká verbannt, auf Befehl des Sultáns zu lebenslanger Gefangenschaft verurteilt.1 Aber er nahm alles, was ihm zustieß, mit demselben Gleichmut hin: Wohlergehen und Qual, Strapazen und Erholung, Krankheit und Gesundheit. Beredt dankte er der Gesegneten Schönheit für alle Gnadengaben. Freien Herzens und mit einem Antlitz, so strahlend wie die Sonne, äußerte er seinen Lobpreis. Jeden Morgen und jeden Abend wartete er Bahá’u’lláh auf. Bahá’u’lláhs Gegenwart gab ihm Freude und Kraft, und meistens blieb er ganz still.
1 vgl. Shoghi Effendi, Gott geht vorüber, p.211, p.220, p.223
26:4 Als der Geliebte der ganzen Menschheit in das Reich strahlenden Glanzes aufstieg, da blieb Mírzá Muhammad-Qulí fest im Bündnis. Alle List, Bosheit und Heuchelei, die damals zutage traten, wies er weit von sich und weihte sich völlig Gott in Fürbitte und Gebet. Denen, die hören wollten, gab er weisen Rat; er gedachte der Tage der Gesegneten Schönheit und grämte sich darüber, daß er Bahá’u’lláh überleben mußte. Nach dem Hinscheiden Bahá’u’lláhs tat er keinen ruhigen Atemzug mehr. Er mied alle Gesellschaft, blieb die meiste Zeit zurückgezogen in seiner engen Behausung und zerglühte im Feuer der Trennung. Tag für Tag wurde er schwächer und hilfloser, bis er sich schließlich in die Welt Gottes emporschwang. Friede sei mit ihm, Preis und Gnade in den Gärten des Himmels. Sein leuchtendes Grab ist in Naqíb bei Tiberias.
27 [98] Ustád Báqir und Ustád Ahmad
27:1 Unter denen, die ihr Heimatland verließen, waren auch zwei Zimmerleute, Ustád Báqir und Ustád Ahmad. Sie waren Brüder, von reiner Abstammung und aus Káshán gebürtig. Seit der Zeit, da beide Gläubige wurden, hielt jeder den anderen liebend umfangen. Sie hörten auf die Stimme Gottes und auf Seinen Ruf: „Bin Ich nicht euer Herr?“ antworteten sie: „Ja, wahrlich!“
27:2 Einige Zeit blieben sie in ihrer Heimat, beschäftigt mit dem Gedenken Gottes, ausgezeichnet durch Glauben und Erkenntnis, geachtet von Freunden und Fremden, allen bekannt durch ihre Rechtschaffenheit und Vertrauenswürdigkeit, durch ihr einfaches Leben und ihre Gottesfurcht. Als der Unterdrücker seine Hand nach ihnen ausstreckte und sie unerträglich quälte, da wanderten sie in den ‚Iráq aus, in die schützende Obhut Bahá’u’lláhs. Sie waren zwei gottgesegnete Seelen. Eine Zeitlang blieben sie im ‚Iráq, beteten in aller Demut und flehten zu Gott.
27:3 Ustád Ahmad zog dann weiter nach Adrianopel, während Ustád Báqir im ‚Iráq blieb und gefangen nach Mosul gebracht wurde. Ustád Ahmad ging im Gefolge Bahá’u’lláhs ins Größte Gefängnis, und Ustád Báqir wanderte von Mosul nach ‚Akká. Beide Brüder standen unter dem Schutze Gottes und waren frei von allen irdischen Banden. Im Gefängnis übten sie ihr Handwerk aus; sie blieben still für sich, fern von Freund und Feind. Voll Ruhe, Würde und Vertrauen, stark im Glauben verbrachten sie im Schutze des Allbarmherzigen glücklich ihre Tage. Ustád Báqir starb als erster und einige Zeit darauf folgte ihm sein Bruder.
27:4 Die beiden waren standhafte Gläubige, getreu, geduldig und allezeit dankbar. Allezeit flehten sie demütig zu Gott, das Angesicht Ihm zugewandt. Während ihres langen Aufenthaltes im Gefängnis waren sie niemals pflichtvergessen, immer ohne Fehl und Tadel. Stets waren sie voll Freude, denn sie hatten tief aus dem heiligen Kelch getrunken, und als sie sich aus dieser Welt emporschwangen, da trauerten die Freunde um sie und beteten darum, daß ihnen durch die Gnade Bahá’u’lláhs Gunst und Vergebung zuteil werden. Sie waren beide umhüllt von Gnadengaben, göttlich gestärkt, und die Gesegnete Schönheit hatte Wohlgefallen an ihnen. Auf solche Weise für die Reise gerüstet, machten sie sich auf in die nächste Welt. Über ihnen beiden sei die Herrlichkeit Gottes, des Allherrlichen! Jedem von ihnen werde ein Sitz der Wahrheit1 im Reich strahlenden Glanzes gewährt.
1 Qur’á 54:55
28 [100] Muhammad Haná-Sáb
28:1 Auch dieser ehrwürdige, angesehene Mann, Áqá Muhammad, gehörte zu den frühesten Gläubigen und zu denen, die ihr Heim verließen. Von früh an war er überall bekannt als ein Liebender des Größten Lichtes. Er lebte damals in Isfahán, verschloß die Augen vor dieser und der nächsten Welt1 und öffnete sie für die Schönheit Dessen, Der alles verkörpert, was der Liebe wert ist.2
1 Dieser Hinweis auf die zwei Welten, „du jihán“, bezieht sich auf das Sprichwort: Isfahán ist die halbe Welt, „Isfahán nisf-i-jihán“.
2 Zu dieser Definition der Manifestation siehe Gott geht vorüber, p.135
28:2 Áqá Muhammad fand keine Ruhe mehr, denn die moschusduftenden Brisen Gottes hatten ihm Leben geschenkt. Sein Herz war entflammt, er atmete den heiligen Duft, er hatte Augen zu sehen und Ohren zu hören. Er lehrte einige Seelen und blieb treu, ergeben in der großen Sache. Schreckliche Verfolgung und Qual ertrug er, ohne zu wanken. Dann fand er Gnade in den Augen des Königs der Märtyrer, wurde ein treuer Diener des Geliebten der Märtyrer1 und diente beiden einige Jahre. Er fand Bestätigung in seiner Arbeit; oft drückte der König der Märtyrer seine Zufriedenheit mit ihm aus und sagte: „Dieser Mann gehört zu den Seelen, die zur Ruhe gekommen sind, er ist zufrieden mit seinem Herrn und Er hat Wohlgefallen an ihm.2 Sein Glaube ist rein, er liebt Gott, hat eine gute Veranlagung und führt ein rechtschaffenes Leben. Auch ist er ein angenehmer, beredter Gefährte.“
1 Diese „Zwillingsleuchten“ waren Brüder, bekannte Kaufleute in Isfahán. Weil er ihnen eine große Geldsumme schuldete, verhängte der Imám Jum’ih, der führende Geistliche der Stadt, den Märtyrertod über sie. Vgl.Bahá’u’lláh, Brief an den Sohn des Wolfes, p.73 und Shoghi Effendi, Gott geht vorüber, p.228
1 Qur’án 89:27-30
28:3 Nachdem der König der Märtyrer getötet worden war, blieb Áqá Muhammad noch einige Zeit in Isfahán und trauerte um ihn. Endlich brach er auf zum Größten Gefängnis, wo er von Bahá’u’lláh aufgenommen wurde und die große Ehre hatte, den Boden an der Heiligen Schwelle fegen zu dürfen. Er war geduldig, langmütig, ein wahrer Freund und Gefährte. Dann kam die Größte Heimsuchung über uns, und Áqá Muhammad litt solche Qual, daß er keinen Augenblick Ruhe fand. Im Morgengrauen erhob er sich und fegte den Boden um das Haus Bahá’u’lláhs, sang zur Arbeit Gebete, während seine Tränen wie Regen rannen.
28:4 Was für ein heiliges Wesen war er! Was für ein großer Mann! Er konnte die Trennung nicht lange ertragen, er starb und eilte voran in die Welt des Lichts, zu der Schar, der Gottes Schönheit entschleiert ist. Möge Gott Strahlenglanz aus dem Reich der Vergebung über seinem Grab verbreiten und seine Seele im Herzen des Paradieses wiegen. Möge Gott seine Stufe in den himmlischen Gärten erhöhen. Sein strahlendes Grab ist in ‚Akká.
29 [102] Hájí Faraju’lláh Tafríshí
29:1 Ein anderer, der sein Heimatland verließ, um in der Nähe Bahá’u’lláhs zu leben, war Faraju’lláh aus Tafrísh. Dieser gesegnete Mensch diente von frühester Jugend an Bahá’u’lláh und emigrierte zusammen mit seinem verehrten Vater, Áqá Lutfu’lláh, von Persien nach Adrianopel. Áqá Lutfu’lláh war ein standhafter Gläubiger, der Gesegneten Schönheit in Liebe ergeben. Geduldig, langmütig, völlig gleichgültig gegenüber dieser eitlen Welt, lebte er zufrieden in Bahá’u’lláhs Nähe. Demütig an Seiner Schwelle und bußfertigen Herzens gab er dann dieses vergängliche Leben auf und stieg zu dem grenzenlosen Königreich empor. Sein duftender Staub ruht in Adrianopel.
29:2 Hájí Faraju’lláh lebte weiter in jener Stadt bis zu dem Tag, da erbarmungslose Unterdrücker Bahá’u’lláh nach Akká verbannten. Der Hájí kam mit Ihm in das Größte Gefängnis. Später, als die Härten leichter wurden, trieb er Handel und wurde Partner von Muhammad-‚Alí aus Isfahán. Eine Zeitlang war er erfolgreich und glücklich. Dann erhielt er die Erlaubnis, nach Indien zu reisen, wo er lange lebte, ehe er sich aufschwang in die Gärten der Vergebung und den Hof unbeschreiblicher Gnade betrat.
29:3 Dieser Diener der Gesegneten Schönheit teilte mit den Gläubigen Leid und Unglück, er trug seinen Teil der Qual. Das Wohlwollen Bahá’u’lláhs umgab ihn, er erfreute sich Seiner grenzenlosen Gnade. Er zählte zu den Gefährten, war den Freunden ein naher Vertrauter und hatte ein fügsames Herz. Wenn auch schmächtigen, kränklichen Körpers, war er doch dankbar, nahm es geduldig hin und ertrug die Heimsuchungen auf dem Pfade Gottes. Gruß und Preis seien ihm, möge er himmlische Gaben und Segnungen empfangen; die Herrlichkeit Gottes, des Allherrlichen, sei mit ihm. Sein reines Grab ist in Bombay in Indien.
30 [104] Áqá Ibráhím-i-Isfahání und seine Brüder
30:1 Áqá Ibráhím gehörte zu den Auswanderern, die sich im Heiligen Land niederließen. Er war einer von vier ehrenwerten Brüdern: Muhammad-Sádiq, Muhammad-Ibráhím, Áqá Habíbu’lláh und Muhammad-‚Alí. Diese vier lebten in Baghdád zusammen mit ihrem Onkel väterlicherseits, Áqá Muhammad-Ridá, der als ‚Aríd bekannt ist. Sie wohnten im selben Haus und waren Tag und Nacht zusammen. Wie Vögel nisteten sie in einem Nest, blühten frisch und anmutig wie Blumen auf einem Beet.
30:2 Als die Altehrwürdige Schönheit in den ‚Iráq kam, lag ihr Haus dem Seinen benachbart, und so hatten sie die Freude, Ihn kommen und gehen zu sehen. Das würdevolle Auftreten dieses Herrn der Herzen – was Er tat, was Er nicht tat, der Anblick Seines liebevollen Angesichts – machte ihnen allmählich Eindruck. Sie dürsteten nach dem Glauben, suchten Seine Gnade und Gunst. Wie blühende Blumen stellten sie sich an das Tor zu Seinem Haus und waren bald entflammt vom Lichtstrahl aus Seinem Auge, gefangen von der Schönheit dieses teuren Gefährten. Sie brauchten keinen Lehrer mehr; sie schauten selbst hinter die Schleier, die sie vorher blind gemacht hatten, und ihr höchster Herzenswunsch erfüllte sich.
30:3 Eines Abends ging Mírzá Javád aus Turshíz auf Geheiß der Gesegneten Schönheit zu ihrem Haus. Kaum hatte Mírzá Javád den Mund geöffnet, da nahmen sie den Glauben an. Sie zögerten keinen Augenblick, denn sie waren ungemein empfänglich. Das ist mit dem Qur’án-Vers gemeint: „.., dessen Öl fast leuchtete, auch wenn es kein Feuer berührte. Es ist Licht über Licht.“1 Das heißt, das Öl ist so gut vorbereitet, so willig, entflammt zu werden, daß es von selbst Feuer fängt, auch wenn keine Flamme vorhanden ist; so kann die Bereitschaft zum Glauben, und daß man des Glaubens wert ist, so wachsen, daß das Licht hervorbricht, ohne daß ein einziges Wort fällt. Mit diesen Männern reinen Herzens war es so. Wahrhaftig, sie waren treu, standhaft und Gott ergeben.
1 Qur’án 24:35
30:4 Der älteste Bruder, Muhammad Sádiq, begleitete Bahá’u’lláh aus dem ‚Iráq nach Konstantinopel und von dort nach Adrianopel, wo er, seinem Herrn nahe, einige Zeit glücklich lebte. Er war demütig, geduldig, dankbar und hatte immer ein Lächeln auf den Lippen. Er war unbeschwert und liebte Bahá’u’lláh mit ganzer Seele. Später erhielt er die Erlaubnis, in den ‚Iráq zurückzukehren, da seine Familie dort lebte, und er blieb eine Zeitlang in Baghdád, träumend und in Erinnerungen versunken.
30:5 Dann geschah großes Unheil im ‚Iráq, und alle vier Brüder wie auch ihr edler Onkel wurden verhaftet. Gefangene Opfer, wurden sie nach Mosul gebracht. Der Onkel Áqá Muhammad-Ridá war alt, ein vergeistigter, geläuterter Mann, losgelöst von allen weltlichen Dingen. Im ‚Iráq war er unermeßlich reich gewesen, hatte sich aller Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten erfreut, jetzt aber in Hadbá, Mosul, wurde er das Hauptopfer unter den Gefangenen und litt bittere Not. Völlig mittellos, blieb er dennoch würdevoll, geduldig, zufrieden und dankbar. Er verließ diesen abgelegenen Ort nicht mehr, pries Gott Tag und Nacht, bis er starb. Er brachte sein Herz seinem Herzliebsten dar, sprengte die Fesseln dieser unbeständigen Welt und stieg auf zum ewigen Königreich. Möge ihn Gott in die Wasser der Vergebung tauchen, den Garten Seines Erbarmens und Seines Wohlgefallens betreten lassen und ihn bis zum Ende der Zeit im Paradiese hegen.
30:6 Auch Muhammad Sádiq hatte in Mosul auf dem Pfade Gottes Mühsal zu erdulden. Auch er war eine zur Ruhe gekommene Seele, zufrieden mit seinem Herrn und Ihm wohlgefällig. Am Ende antwortete auch er auf den Ruf des Königs der Herrlichkeit: „Herr, hier bin ich!“ und erfüllte die Verse: „O zur Ruhe gekommene Seele, kehre zufrieden, Ihm wohlgefällig, zurück zu deinem Herrn. Tritt unter Meine Diener, betritt Mein Paradies.“1
1 Qur’án 89:27-30
30:7 Muhammad-‚Alí eilte, sobald er aus der Gefangenschaft freikam, von Mosul ins Heilige Land, an den Hof unerschöpflicher Gnade. Hier lebt er noch. Obwohl er Not leidet, ist sein Herz zufrieden. Auch sein bereits erwähnter Bruder Ibráhím kam von Mosul nach Akká, in die Nähe der Stadt. Dort trieb er Handel, geduldig, ruhig und zufrieden, wenn auch unter Schwierigkeiten, und beklagte Tag und Nacht das Hinscheiden Bahá’u’lláhs. Bußfertig, sein Antlitz den geheimnisvollen Reichen Gottes zugewandt, verzehrte er sich in Demut. Schließlich kam er, von den Jahren gebeugt – kaum konnte er sich noch bewegen -, nach Haifa, wo er in der Herberge einen Winkel als Bleibe fand, und er verbrachte seine Tage in demütigem Gebet zu Gott, zu Ihm flehend und Ihn preisend. Vom Alter entkräftet, verfiel er allmählich, bis er schließlich das Gewand des Körpers ablegte und mit unverhülltem Geist den Flug zum Reich des Allbarmherzigen antrat. Aus diesem dunklen Leben wurde er emporgetragen in den strahlenden Äther und eingetaucht in ein Meer von Licht. Möge Gott sein Grab mit strahlendem Glanz umgeben und seinen Geist auf den Schwingen göttlichen Erbarmens wiegen. Auf ihm seien die Gnade Gottes und Sein Wohlgefallen.
30:8 Auch Áqá Habíbu’lláh war im ‚Iráq gefangengenommen und nach Mosul verbannt worden. Lange Zeit lebte er, Mühsalen ausgesetzt, in jener Stadt. Aber er blieb zufrieden; sein Glaube nahm Tag für Tag zu. Als in Mosul eine Hungersnot ausbrach, wurde das Leben für die Verbannten härter denn je, doch im Gedenken an Gott fanden ihre Herzen Frieden,1 und ihre Seelen aßen himmlisches Brot. So ertrugen sie alles mit bewundernswürdiger Geduld. Die Leute staunten über diese Fremden in ihrer Mitte, die weder unglücklich noch furchtsam wie die anderen waren, sondern Tag und Nacht Gott priesen. „Welch wunderbares Vertrauen sie in Gott setzen!“ sagte das Volk.
1 Qur’án 13:28: „Wahrlich, im Gedenken an Gott finden die Herzen Frieden.“
30:9 Habíb war ein sehr geduldiger und herzensfroher Mann. Er fand sich mit der Verbannung ab und lebte in einem Zustand sehnsüchtiger Liebe. Nach dem Aufbruch aus Baghdád gedachte Bahá’u’lláh ständig der Gefangenen von Mosul, und Er versicherte sie Seiner unendlichen Gnade. Wenige Jahre später eilte Habíb hinweg zur allumlassenden Gnade Gottes und fand ein Nest und eine Zuflucht in den Zweigen des himmlischen Baumes. Dort, im Paradies aller Freuden, singt er den Lobpreis des freigebigen Herrn in wundersamen Weisen.
31 [108] Áqá Muhammad-Ibráhím
31:1 Muhammad-Ibráhím mit dem Ehrennamen Mansúr, der Siegreiche, war ein Kupferschmied. Dieser Mann Gottes, ein Auswanderer und Siedler auch er, war aus Káshán gebürtig. In der ersten Jugendblüte erkannte er das neue Licht, er trank tief aus dem heiligen Kelch, der „gemischt ist an der Kampferquelle“1. Er hatte eine angenehme Wesensart, war voll Lebenslust und Lebensfreude. Sobald das Licht des Glaubens in seinem Herzen entzündet war, verließ er Káshán, reiste nach Baghdád und hatte die Ehre, in Bahá’u’lláhs Gegenwart zu gelangen.
31:2 Áqá Muhammad war dichterisch begabt und schuf Verse wie aufgereihte Perlen. In Zawrá – das ist Baghdád, die Feste des Friedens – hatte er freundschaftlichen Umgang mit Freunden wie mit Fremden, immer bemüht, alle zu umsorgen. Er brachte seine Brüder aus Persien nach Baghdád, eröffnete ein Kunstgewerbegeschäft und widmete sich der Fürsorge für andere. Auch er wurde gefangengenommen und von Baghdád nach Mosul verbannt. Später reiste er nach Haifa, wo er Tag und Nacht demütig und bescheiden seine Gedanken in Gebet und Bittgesang auf Gott richtete.
1 Qur’án 76:5
31:3 Lange lebte er in Haifa, erfolgreich im Dienst für die Gläubigen, äußerst demütig und bescheiden in der Fürsorge für die Reisenden. Er heiratete in dieser Stadt und wurde der Vater lieblicher Kinder. Jeder Tag brachte ihm neues Leben und neue Freude, und alles verdiente Geld gab er für Fremde und Freunde aus. Nach der Ermordung des Königs der Märtyrer schrieb er eine Elegie zur Erinnerung an diesen Gläubigen, der auf dem Felde der Qual gefallen war, und trug diese Ode in Bahá’u’lláhs Gegenwart vor. Die Verse gingen so sehr zu Herzen, daß alle Anwesenden Tränen vergossen und gramerfüllte Stimmen laut wurden.
31:4 Áqá Muhammad verbrachte sein Leben weiterhin hochgemut, mit unwandelbarer Seele, voll Hingabe und Liebe. Dann hieß er, lachend wie eine frisch erblühte Rose, den Tod willkommen und rief: „Hier bin ich!“ So verließ er Haifa, tauschte es ein für die himmlische Welt. Aus diesem engen Land eilte er hinauf zu dem Vielgeliebten, schwang sich empor von dieser staubigen Erde und schlug sein Zelt an lichtstrahlendem Orte auf. Segen und eine schöne Heimstatt seien sein.1 Möge Gott ihn mit Gnaden umhüllen, möge er in der Weihstatt der Vergebung ruhen und in die himmlischen Gärten geführt werden.
1 Qur’án 13:28
32 [110] Zaynu’l-‚Ábidín Yazdí
32:1 Zaynu’l-‚Ábidín aus Yazd war ein Auswanderer, der auf dem Weg ins Heilige Land starb. Nachdem dieser ergebene Mann in Manshád erstmals den Ruf Gottes vernommen hatte, war er zu rastlosem Leben erweckt. Heilige Begeisterung erfüllte ihn, seine Seele war neu belebt. Das Licht der Führung strahlte aus der Lampe seines Herzens, die Liebe Gottes entfachte einen Aufruhr in seinem Inneren. Hingerissen von der Liebe für die Schönheit des Geliebten verließ er sein teures Heim und brach auf in das ersehnte Land.
32:2 So zog er mit seinen beiden Söhnen dahin, froh in der Hoffnung auf die erwartete Zusammenkunft, unterbrach jedoch die Reise auf jedem Berg, in jeder Ebene, jedem Dorf und jedem Weiler, um die Freunde zu besuchen. Aber die große Entfernung dehnte sich vor ihm zu einem Meer von Mühsal. Wenn seine Seele auch voll Verlangen war, sein Körper war schwach, und schließlich wurde er krank und hilflos, und all dies fern der Heimat.
32:3 So krank er auch war, gab er doch die Reise nicht auf, noch ließ er sich in seinem Vorsatz beirren. Er hatte erstaunliche Willenskraft und war entschlossen durchzuhalten. Doch mit jedem schwindenden Tag wurde seine Krankheit schlimmer, bis er schließlich seinen Flug zur Gnade Gottes nahm und seine Seele aufgab, ohne daß sein Verlangen gestillt war.
32:4 Obwohl er, mit äußerlichen Augen betrachtet, nicht den Kelch der Vereinigung leerte, nicht auf die Schönheit Bahá’u’lláhs blickte, erlangte er dennoch wahre geistige Vereinigung. Er wird zu denen gezählt, die in Seine Gegenwart kamen, und unabänderlich ist ihm der Lohn derer bestimmt, die diese Gegenwart erreichten. Er war eine makellose Seele, treu ergeben und aufrichtig. Jeder Atemzug atmete Rechtschaffenheit, sein einziger Wunsch war, seinem Herrn zu dienen. Er beschritt die Wege der Liebe, allen war er bekannt für seine standhafte Treue und reine Absicht. Möge Gott ihm in lichtvollem Land den Kelch der Wiedervereinigung füllen, ihn das ewige Königreich betreten lassen und seine Augen trösten mit dem Blick auf das Licht jenes geheimnisvollen Reiches.
33 [112] Hájí Mullá Mihdáy-i-Yazdí
33:1 Ein anderer, der seine Heimat verließ, war Mullá Mihdí aus Yazd. Obschon dieser hervorragende Mann allem Anschein nach nicht zu den Gebildeten gehörte, war er bewandert in den heiligen Traditionen des Islám und ein wortgewandter Ausleger mündlich überlieferter Texte. Ausdauernd im Gebet hielt er sich an geheiligte Bräuche wie Nachtwachen und Zwiesprachen mit Gott. Sein Herz war erleuchtet, er war vergeistigt und beseelt. Die meiste Zeit verbrachte er in Andacht; er sprach die Pflichtgebete, bekannte seine Verfehlungen und flehte zum Herrn. Er gehörte zu denen, die in die Geheimnisse dringen, und genoß das Vertrauen der Rechtschaffenen. Wenn er den Glauben lehrte, fehlte es ihm nie an Worten; er vergaß alle Vorbehalte, während die heiligen Texte und Überlieferungen eine nach der anderen aus ihm heraussprudelten.
33:2 Als sich in der Stadt die Nachricht verbreitete, daß er den neuen Namen angenommen hatte, und ihn jedermann, ob arm oder reich, dessen bezichtigte, bekannte er sich offen dazu und fiel beim Volk in Ungnade. Dann erhoben sich die gottlosen ‚Ulamá von Yazd und verfaßten sein Todesurteil. Da sich der Mujtahid, Mullá Báqir aus Ardikán, weigerte, das Urteil dieser finsteren Geistlichen zu bestätigen, blieb Mullá Mihdí am Leben, war aber gezwungen, seine Heimatstadt zu verlassen. Mit seinen beiden Söhnen, dem späteren großen Märtyrer Jináb-i-Varqá und Jináb-i-Husayn, brach er zum Land seines Vielgeliebten auf. Unterwegs lehrte er den Glauben mit großem Geschick in jeder Stadt und jedem Dorf, brachte eindeutige Gründe und Beweise vor, zitierte und erläuterte die heiligen Überlieferungen und offenbaren Zeichen.1 Er ruhte keinen Augenblick; überall versprühte er das Rosenöl der Liebe Gottes und verbreitete die süßen Düfte der Heiligkeit. Auch spornte er die Freunde an und weckte ihren Eifer, ihrerseits zu lehren und sich durch Erkenntnis hervorzutun.
1 Qur’án 3:91
33:3 Er war ein hervorragender Mensch; sein Herz war ganz auf die Schönheit Gottes gerichtet. Von dem Tag an, da er erschaffen wurde und in diese Welt kam, zielten alle seine Bemühungen einzig darauf hin, Gnade zu erlangen für den Tag, da er in die nächste Welt hineingeboren würde.1 Sein Herz war erleuchtet, sein Geist losgelöst, seine Seele voll Verlangen, sein Ziel der Himmel. Während seiner Reise wurde er ins Gefängnis geworfen, und indem er die Wüsten durchzog, die Berghänge erklomm und wieder hinabstieg, nahm er schreckliche, zahllose Mühsale auf sich. Aber das Licht des Glaubens strahlte von seiner Stirn, in seiner Brust flammte die Sehnsucht, und so überquerte er heiter und freudig alle Grenzen, bis er schließlich nach Beirut kam. In dieser Stadt verbrachte er einige Tage, krank, ruhelos, ungeduldig. Seine Sehnsucht wuchs, er war so erregt, daß er trotz Schwäche und Krankheit nicht länger warten konnte.
1 Qur’án 29:19, 53:48, 56:62
33:4 Zu Fuß machte er sich auf den Weg zum Hause Bahá’u’lláhs. Da er kein geeignetes Schuhwerk für die Reise hatte, waren seine Füße wund und geschunden. Seine Krankheit verschlimmerte sich; er konnte sich kaum bewegen und ging doch weiter. Irgendwie erreichte er das Dorf Mazra’ih, und hier, nahe dem Haus Bahá’u’lláhs, starb er. Sein Herz hatte den Vielgeliebten gefunden, als er die Trennung nicht länger tragen konnte. Mögen die Liebenden sich diese Geschichte zu Herzen nehmen, mögen sie erkennen, wie er sein Leben hingab in seiner Sehnsucht nach dem Licht der Welt. Möge Gott ihm in den ewigen Gärten aus einem übervollen Kelch zu trinken geben, möge Gott in der erhabenen Versammlung Lichtstrahlen auf sein Antlitz ergießen. Die Herrlichkeit des Herrn sei mit ihm. Sein geheiligtes Grab ist in Mazra’ih, nahe ‚Akká.
34 [115] Seine Ehren Kalím Mírzá Músá
34:1 Jináb-i-Mírzá Músá war Bahá’u’lláhs treuer Bruder, und von frühester Kindheit an wuchs er im schützenden Gewahrsam des Größten Namens auf. Mit der Muttermilch sog er die Liebe Gottes ein und zeigte schon als kleines Kind außerordentliche Anhänglichkeit für die Gesegnete Schönheit. Allezeit genoß er göttliche Gnade, Gunst und Güte. Nach dem Tode ihres edlen Vaters wurde Mírzá Músá von Bahá’u’lláh erzogen und reifte in der Geborgenheit Seiner Fürsorge heran. Tag für Tag wuchs die hingebungsvolle Dienstbarkeit dieses Jünglings. Er lebte in allen Dingen nach den Geboten und war vollkommen frei von jedem Gedanken an diese Welt.
34:2 Wie eine strahlende Lampe erhellte er das Haus Bahá’u’lláhs. Er strebte weder nach Rang noch Würden und hatte keinerlei weltliche Ziele. Sein höchster Wunsch war, Bahá’u’lláh zu dienen, und so war er nie von seinem Bruder getrennt. Welche Qualen andere ihnen auch zufügten, seine Treue wog deren Grausamkeit auf, denn er hatte vom Wein unverfälschter Liebe getrunken.
34:3 Dann erscholl der Ruf aus Shíráz, und mit einem einzigen Wort Bahá’u’lláhs wurde sein Herz lichterfüllt, mit einem einzigen Windstoß, der über die Gärten des Glaubens blies, empfing er den Duft. Sogleich begann er den Freunden zu dienen. Er war mir unverbrüchlich zugetan und stets um mein Wohlergehen besorgt. In Tihrán war er Tag und Nacht damit beschäftigt, den Glauben zu verbreiten, und war bald überall dafür bekannt; die meiste Zeit verbrachte er in der Gesellschaft heiliger Seelen.
34:4 Als Bahá’u’lláh Tihrán verließ, um nach dem ‚Iráq zu reisen, befanden sich zwei Seiner Brüder in Seiner Begleitung, Áqáy-i-Kalim1 und Mírzá Muhammad-Qulí. Sie kehrten Persien und den Persern den Rücken und verschlossen ihre Augen vor Frieden und Behagen. Auf dem Pfade des Geliebten beschlossen sie von ganzem Herzen, jegliches Unglück zu tragen, das ihnen beschieden sein mochte.
1 Mírzá Músá
34:5 So kamen sie im ‚Iráq an. In den Tagen, da Bahá’u’lláh den Blicken entschwunden war, das heißt, während Er in Kurdistán umherwanderte, lebte Áqáy-i-Kalím am Rand eines Abgrundes; sein Leben war ständig bedroht, und jeder verstreichende Tag war schlimmer als der vorangegangene. Dennoch ertrug er alles und kannte keine Furcht. Als die Gesegnete Schönheit schließlich aus Kurdistan zurückkam, nahm Áqáy-i-Kalím seinen Platz an der Heiligen Schwelle wieder ein und leistete jeden ihm möglichen Dienst. Weit und breit wurde er hierfür bekannt, und als Bahá’u’lláh von Baghdád nach Konstantinopel ging, war Áqáy-i-Kalím bei Ihm und diente unentwegt, wie auch später auf der Reise von Konstantinopel nach Adrianopel.
34:6 Während des dortigen Aufenthalts nahm Áqáy-i-Kalím bei Mírzá Yahyá den Dunst des Aufruhrs wahr. Tag und Nacht versuchte er, Mírzá Yahyás Gesinnung zu wandeln, aber alles ohne Erfolg. Im Gegenteil, es war erstaunlich, wie die Versuchungen und satanischen Einflüsterungen von Siyyid Muhammad einem tödlichen Gifte gleich auf Mírzá Yahyá wirkten, so daß Áqáy-i-Kalím schließlich alle Hoffnung aufgeben mußte. Dennoch bemühte er sich auch jetzt weiter, hoffend, er könne vielleicht doch irgendwie den Sturm besänftigen und Mírzá Yahyá vom Abgrund hinwegziehen. Vor Kummer und Verzweiflung blutete ihm das Herz. Er tat alles, was in seinen Kräften stand. Zuletzt mußte er jedoch einsehen, wie wahr die Worte Saná’ís sind:
34:7 „Willst du dem Narren meine Lehre bringen
Und mein Geheimnis Menschen, die nichts taugen?
Dies hieße tauben Ohren singen
Und Spiegel halten vor der Blinden Augen.“
34:8 Als keine Hoffnung mehr blieb, brach er die Beziehung ab mit den Worten: „O mein Bruder, mögen andere an dieser Sache zweifeln; wir beide kennen die Wahrheit. Hast du die Güte Bahá’u’lláhs vergessen, die Art, wie Er uns beide aufzog? Wie sehr Er sich um deinen Unterricht und deine Handschrift mühte; wie Er ständig auf deine Rechtschreibung und deinen Stil achtete, wie Er dich ermutigte, dich in den verschiedenen Richtungen der Schönschreibkunst zu üben? Beim Abschreiben führte Er sogar deine Hand mit Seinen gesegneten Fingern. Wer wüßte nicht, wie Er dich mit Wohltaten überhäufte und dich im Schutze Seiner Fürsorge heranzog? Ist das dein Dank für all Seine Zärtlichkeit, daß du mit Siyyid Muhammad Ränke schmiedest und die Obhut Bahá’u’lláhs aufgibst? Ist das deine Treue? Ist das der rechte Lohn für all Seine Liebe?“ Diese Worte hatten jedoch keinerlei Wirkung, im Gegenteil, mit jedem Tag enthüllte Mírzá Yahyá mehr von den Absichten, die er im Busen barg. Schließlich kam es zum endgültigen Bruch.
34:9 Von Adrianopel aus begleitete Áqáy-i-Kalím die Reisegesellschaft Bahá’u’lláhs in die Festung ‚Akká. Sein Name war im Erlaß des Sultáns besonders aufgeführt, er war zu lebenslanger Verbannung verurteilt.1 Im Größten Gefängnis opferte er seine ganze Zeit, um Bahá’u’lláh zu dienen. Er hatte die Ehre, ständig in der Gegenwart seines Bruders zu weilen, wie er auch mit den Gläubigen zusammen war, bis er zuletzt diese Welt des Staubes verließ und in die heilige Welt emporeilte. Wie er seinen Herrn gebeten hatte, starb er in Demut und Bußfertigkeit.
1 vgl. Gott geht vorüber, p.211
34:10 Während des Aufenthaltes in Baghdád geschah es, daß der wohlbekannte Ílkhání, der Sohn von Músá Khan-i-Qazvíní, auf Vermittlung von Siyyid Javád-i-Tabátabá’í zu Bahá’u’lláh vorgelassen wurde. Siyyid Javád trat damals folgendermaßen für den Ílkhání ein: „Dieser Ílkhání, ‚Alí-Qulí Khán, ist zwar ein Sünder und zeit seines Lebens seinen Leidenschaften ergeben gewesen; aber jetzt hat er bereut. Er kommt zu Dir und bedauert seinen bisherigen Lebenswandel. Von nun an wird er keinen Atemzug mehr tun, der Deinem Wohlgefallen zuwider wäre. Ich bitte Dich, nimm seine Reue an, bezeige ihm Deine Gnade und Huld.“
34:11 Bahá’u’lláh erwiderte : „Da er dich zum Fürsprecher gewählt hat, werde Ich seine Sünden verbergen und dafür sorgen, daß er Trost und Seelenfrieden findet.“
34:12 Der Ílkhání hatte unermeßlichen Reichtum besessen, aber bis zum letzten für die Gelüste des Fleisches vergeudet. Er war jetzt so verarmt, daß er sich aus Angst vor den Gläubigern, die ihm auflauern mochten, nicht mehr aus dem Hause traute. Bahá’u’lláh schickte ihn zu ‚Umar Pashá, dem Gouverneur von Damaskus, damit dieser ihm ein Empfehlungsschreiben für Konstantinopel ausstellte. Dies geschah; der Ílkhání erhielt vom Gouverneur von Baghdád jede nur mögliche Unterstützung. Nachdem er fast verzweifelt war, schöpfte er wieder Hoffnung und reiste nach Konstantinopel weiter. In Díyárbakr1 angekommen, schrieb er einen Brief zugunsten von zwei armenischen Kaufleuten. „Diese beiden sind im Begriff, nach Baghdád zu reisen“, hieß es darin. „Sie haben mir große Zuvorkommenheit erwiesen und mich um eine Empfehlung gebeten. Ich habe keine andere Zuflucht als Deine Großmut; darum bitte ich Dich, ihnen Deine Gunst zu erweisen.“ Die Anschrift, die er auf den Briefumschlag schrieb, lautete: „An Seine Hoheit Bahá’u’lláh, den Führer der Bábí.“ Die Kaufleute übergaben Bahá’u’lláh das Schreiben an der Tigris-Brücke, und als Er sie weiter fragte, antworteten sie: „In Díyárbakr hat uns der Ílkhání Näheres über diese Sache Gottes erzählt.“ Dann begleiteten sie Ihn nach Hause.
1 Etwa 650 km nordwestlich von Baghdád
34:13 Als die Gesegnete Schönheit die Familiengemächer betrat, begrüßte Ihn Áqáy-i-Kalím. „Kalím, Kalím! Bis nach Díyárbakr ist der Ruhm der Sache Gottes gedrungen!“ rief Bahá’u’lláh und lächelte froh.
34:14 Mírzá Músá war der Gesegneten Schönheit in der Tat ein wahrer Bruder; darum blieb er auch unter allen Bedingungen standhaft bis zuletzt. Ihm seien Lobpreis und Heil, der Hauch des Lebens und Herrlichkeit; Gnade und Erbarmen seien mit ihm.
35 [120] Hájí Muhammad Khán
35:1 Ein anderer von denen, die ihr Zuhause verließen, um sich in der Nähe Bahá’u’lláhs niederzulassen, war Hájí Muhammad Khán. Dieser vorzügliche, aus Sístán gebürtige Mann war ein Belutsche. Bereits in früher Jugend fing er Feuer und wurde ein Mystiker – ein ‚Áríf oder Eingeweihter. Als umherziehender Derwisch, völlig selbstlos, verließ er seine Heimat und reiste getreu der Derwischregel umher auf der Suche nach seinem Murshid, seinem vollkommenen Führer; denn er sehnte sich danach, wie die Qalandar-Derwische sagen würden, den „Priester der Weisen“ oder geistigen Führer zu finden.
35:2 Auf seiner Suche kam er überall hin. Er sprach jeden an, der ihm begegnete. Wonach er sich sehnte, war der süße Duft der Liebe Gottes, und dies konnte er bei keinem entdecken, sei er Gnostiker, Philosoph oder Anhänger der Shaykhí-Sekte. Was er bei den Derwischen sah, waren ihre buschigen Bärte und ihre Bettlerreligion der aufgehaltenen Hand. Sie waren nur dem Namen nach „Derwisch“ – arm in allem außer Gott; das einzige, was sie zu interessieren schien, war das, was man ihnen gab. Auch bei den Illuminaten fand er keine Erleuchtung; von ihnen bekam er nur leere Argumente zu hören. Er fand, daß sie wortgewaltig waren, aber nicht überzeugend, und daß ihr vermeintlicher Scharfsinn nur in hohlen Redefloskeln bestand. Wahrheit war da nicht; es fehlte der Kern innerer Bedeutung; denn wahre Philosophie trägt Früchte der Vortrefflichkeit, aber bei diesen gelehrten Männern fand er solche Früchte nicht. Auf der Höhe ihrer Errungenschaften wurden sie zu Sklaven des Lasters, führten ein unbekümmertes Leben und zeigten persönliche Eigenschaften, die tadelnswert waren. In seinen Augen mangelte es ihnen an allem, was erhabene, vornehme Menschlichkeit ausmacht.
35:3 Was die Shaykhí betraf, so hatten sie ihre Substanz verloren; nur ein Bodensatz war geblieben. Nicht der Kern, nur die Schale war übrig, und das meiste an ihrer Dialektik war zu unnützem Ballast geworden.
35:4 Kaum aber vernahm er den Ruf aus dem Reiche Gottes, da antwortete er: „Ja, wahrlich!“ und erhob sich wie der Wüstenwind. Er legte weite Entfernungen zurück, erreichte das Größte Gefängnis und gelangte in Bahá’u’lláhs Gegenwart. Als seine Augen auf dieses herrliche Angesicht fielen, war er sogleich in Seinem Bann. Er kehrte nach Persien zurück, um jene Leute wiederzusehen, die von sich sagten, sie folgten dem Pfade, jene Freunde vergangener Tage, welche die Wahrheit suchten, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen, wie es Treue und Pflicht erforderten.
35:5 Auf der Hinreise wie auf der Rückreise suchte der Hájí jeden einzelnen seiner Freunde auf, traf sich mit ihnen und ließ jeden das neue, himmlische Lied hören. Er gelangte in seine Heimat und brachte seine Familienangelegenheiten in Ordnung; er sorgte für alle und kümmerte sich um Sicherheit, Glück und Wohlergehen eines jeden. Danach sagte er allen Lebewohl. Verwandten, Frau und Kindern sagte er: „Schaut nicht mehr nach mir aus und rechnet nicht mit meiner Wiederkehr!“
35:6 Hájí Muhammad Khán griff nach seinem Stab und machte sich auf die Wanderschaft. Er durchquerte Berge und Ebenen, suchte und fand die Mystiker, seine Freunde. Auf seiner ersten Reise ging er zu dem jetzt verstorbenen Mírzá Yúsuf Khán (Mustawfíyu’l-Mamálik) in Tihrán. Nachdem er seine Botschaft überbracht hatte, sprach Yúsuf Khán einen Wunsch aus und erklärte, er werde glauben, wenn dieser Wunsch in Erfüllung ginge. Sein Wunsch war, einen Sohn zu bekommen. Sollte ihm dieser Segen zuteil werden, so wäre Yúsuf Khán für die Sache Gottes gewonnen. Der Hájí teilte dies Bahá’u’lláh mit und erhielt als Antwort eine feste Zusage. Und in der Tat, als der Hájí Yúsuf Khán auf seiner zweiten Reise wieder traf, fand er ihn mit einem Kind in den Armen. „Mírzá“, rief der Hájí, „der Herr sei gepriesen! Deine Probe hat die Wahrheit erwiesen. Du hältst das Glück gefangen.“ „Ja“, erwiderte Yúsuf Khán, „es ist ein klarer Beweis. Ich bin überzeugt. Wenn du dieses Jahr zu Bahá’u’lláh gehst, so sage Ihm, daß ich Seine Gnade und Gunst für dieses Kind erflehe, damit es in Gottes Schutz wohlbehütet sei.“
35:7 Danach suchte Hájí Muhammad den glückseligen späteren Märtyrer, den König der Märtyrer, auf und bat um seine Vermittlung, damit er, der Hájí, an Bahá’u’lláhs Schwelle Wache halten dürfe. Der König der Märtyrer trug diese Bitte in einem Brief vor, woraufhin Hájí Khán im Größten Gefängnis ankam und in der Nähe seines liebenden Freundes Unterkunft fand. Diese Ehre genoß er lange Zeit und war auch später im Garten von Mazra’ih sehr oft in Bahá’u’lláhs Gegenwart. Nach dem Hinscheiden des Geliebten blieb Hájí Khán dem Bund und Testament treu und mied die Heuchler. Als dann dieser Diener durch Europa und Amerika reiste, begab sich der Hájí zur Herberge im Haziratu’l-Quds; hier, nahe dem Grabmal des Báb, nahm er seinen Flug in die höhere Welt.
35:8 Möge Gott seine Seele mit dem moschusduftenden Hauch des Paradieses Abhá und mit dem Wohlgeruch der Heiligkeit, der vom höchsten Himmel weht, erquicken. Ihm seien Gruß und Preis. Sein strahlendes Grab ist in Haifa.
36 [123] Áqá Muhammad-Ibráhím Amír
36:1 Muhammad-Ibráhím Amír stammte aus Nayríz. Er war ein glückseliger Mensch; er war wie ein Kelch, erfüllt vom roten Wein des Glaubens. Zu der Zeit, da ihn der zarte Geliebte in Fesseln schlug, stand er in der Blüte seiner Jugend. Dann fiel er den Unterdrückern in die Hände; nach dem Aufstand in Nayriz mit all seinen Leiden, wurde er von seinen Verfolgern verhaftet. Drei Farráshe packten ihn an den Armen und banden ihm die Hände auf den Rücken; der Amír aber sprengte mit gewaltiger Kraft seine Fesseln, riß einem Farrásh den Dolch aus dem Gürtel, rettete sich und floh in den ‚Iráq. Dort beschäftigte er sich mit dem Abschreiben der heiligen Verse; später hatte er die Ehre, an der Heiligen Schwelle zu dienen. Ausdauernd und standhaft erfüllte er Tag und Nacht seine Pflicht. Auf der Reise von Baghdád nach Konstantinopel, von dort nach Adrianopel und bis zum Größten Gefängnis war er allezeit dienstbereit. Er heiratete die Magd Gottes, Habíbih, die ebenfalls an der Schwelle diente, und seine Tochter Badí’ih wurde die Gattin des verstorbenen Husayn-Áqá-Qahvih-chí.
36:2 So diente der Amír voll Ausdauer sein Leben lang; aber nach dem Hinscheiden Bahá’u’lláhs nahm seine Gesundheit zusehends ab, und am Ende ließ er diese Welt des Staubes hinter sich und enteilte in die unbefleckte Welt der Höhe. Möge Gott den Ort, wo er ruht, mit Strahlen aus Seinem allhöchsten Reich erleuchten. Gruß und Preis seien mit ihm. Sein leuchtendes Grab ist in ‚Akká.
37 [124] Mírzá Mihdíy-i-Káshání
37:1 Dieser ehrenwerte Mann, Mírzá Mihdí, stammte aus Káshán. In früher Jugend hatte er unter Anleitung seines Vaters Künste und Wissenschaften studiert und war ein geschickter Verfasser von Vers- und Prosadichtungen geworden; auch schrieb er wunderschön im Shikastih-Stil1. Um Haupteslänge überragte er seine Gefährten. Schon als Kind hörte er vom Kommen des Herrn, entflammte in Liebe und wurde einer von denen, die „alles hingaben, um Joseph zu erkaufen“. Er war ein Anführer der sehnsuchtsvollen Sucher, ein Herr der Liebenden; wortgewandt begann er, den Glauben zu lehren und die Gültigkeit der Manifestation zu beweisen.
1 Shikastih: gebrochene Kursivschrift, fast eine Kurzschrift; soll Ende des siebzehnten Jahrhunderts in Hirát erfunden worden sein.
37:2 So gewann er Anhänger, und weil er sich nach Gott verzehrte, wurde er zum Gespött der Leute in Káshán, verhöhnt von Freund und Feind, den Sticheleien seiner ungläubigen Gefährten ausgesetzt. Einer von ihnen meinte: „Er hat den Verstand verloren.“ Und ein anderer: „Er ist eine öffentliche Schande. Das Glück hat sich von ihm abgewandt. Es ist um ihn geschehen.“ Die Quälgeister verspotteten ihn ohne Schonung. Als das Leben unerträglich wurde und offener Krieg ausbrach, verließ er seine Heimatstadt und reiste in den ‚Iráq, zum Brennpunkt des neuen Lichtes, wo er in die Gegenwart des Geliebten der ganzen Menschheit gelangte.
37:3 Hier verbrachte er eine Zeitlang in der Gesellschaft der Freunde und verfaßte Verse, die Bahá’u’lláhs Lobpreis sangen. Später erhielt er die Erlaubnis, nach Hause zurückzukehren, und lebte wieder eine Weile in Káshán. Aber erneut marterte ihn verzehrende Liebe, er konnte die Trennung nicht mehr ertragen. So kehrte er nach Baghdád zurück und brachte auch seine verehrte Schwester, die dritte Gemahlin,1 mit.
1 Gawhar Khánum, die Bahá’u’lláh in Baghdád heiratete. Sie blieb in Baghdád, als Bahá’u’lláh den ‚Iráq verließ, und reiste später nach ‚Akká. Auf dem Weg wurde sie in Mosul mit anderen Gläubigen, darunter Zaynu’l-Muqarrabín, gefangengesetzt. Bahá’u’lláh erwähnt diese Gefangennahme in Seinem Sendschreiben an den Sháh. Nach dem Hinscheiden Bahá’u’lláhs brach Gawhar Khánum das Bündnis. Sie starb während der Amtszeit ‚Abdu’l-Bahás.
37:4 Hier blieb er unter Bahá’u’lláhs gütigem Schutz, bis der Reisezug vom ‚Iráq nach Konstantinopel aufbrach. Mírzá Mihdí wurde angewiesen, zurückzubleiben und das Heilige Haus zu hüten. Ruhelos, von Sehnsucht verzehrt, blieb er. Als die Freunde aus Baghdád nach Mosul verbannt wurden, gehörte er mit den anderen zu den Opfern und Gefangenen. Mit größter Mühe erreichte er Mosul, wo ihn neue Drangsal erwartete; er war fast die ganze Zeit krank, ausgestoßen und mittellos. Dennoch ertrug er alles über einen langen Zeitraum, geduldig, seine Würde wahrend und immer dankbar. Schließlich hielt er die Trennung von Bahá’u’lláh nicht länger aus. Er bat um die Erlaubnis zum Besuch, bekam sie und machte sich auf den Weg zum Größten Gefängnis.
37:5 Die Reise war lang und beschwerlich, er mußte unterwegs Schreckliches erdulden, und so war er nahezu hilflos und bis auf die Knochen abgemagert, als er schließlich im Gefängnis von ‚Akká anlangte. Das war zu der Zeit, als die Gesegnete Schönheit innerhalb der Zitadelle, mitten in der Kaserne, gefangengehalten wurde. Der furchtbaren Strapazen ungeachtet, brachte Mírzá Mihdí in großer Freude hier einige Tage zu. Für ihn war Unglück Gunstbezeigung, Prüfungen waren göttliche Vorsehung, Heimsuchungen überströmende Gnade; denn er ertrug dies alles auf dem Pfade Gottes und im Bemühen, Sein Wohlgefallen zu gewinnen. Seine Krankheit verschlimmerte sich, von Tag zu Tag wurde er schwächer; dann schließlich, im Schutz Seiner Gnade, entschwebte er zum unausschöpflichen Erbarmen des Herrn.
37:6 Dieser edle Mann war von den Menschen geehrt worden, aber aus Liebe zu Gott gab er Rang und Namen dahin. Unsägliches Mißgeschick ertrug er, ohne je zu klagen. Er fügte sich in Gottes Ratschluß und wandelte auf den Pfaden der Ergebung. Das Licht der Gnade Bahá’u’lláhs war über ihm, er war der göttlichen Schwelle nahe. Vom Anfang bis zum Ende seines Lebens verblieb er im selben inneren Zustand: in ein Meer der Unterwerfung und der Zustimmung eingetaucht. „O, mein Herr, nimm mich auf, nimm mich auf!“ rief er, bis er sich zuletzt in die unsichtbare Welt aufschwang.
37:7 Möge Gott ihn den süßen Duft der Heiligkeit im höchsten Paradiese atmen lassen und ihn erquicken aus dem kristallenen Kelch mit Wein, gekühlt an der Kampferquelle.1 Ihm seien Gruß und Preis. Sein duftendes Grab ist in ‚Akká.
1 Qur’án 76:9
38 [127] Mishkín-Qalam
38:1 Unter den Verbannten, Nachbarn und Gefangenen befand sich auch ein zweiter Mír ‚Imád1: der berühmte Kalligraph Mishkín-Qalam2. Er führte eine moschusschwarze Feder, und der Glaube strahlte von seiner Stirn. Er war einer der bekanntesten Mystiker, geistreich und feinsinnig. Der Ruhm dieses geistigen Wanderers drang in alle Länder. Er war der führende Kalligraph Persiens, allen Großen wohlbekannt; unter den Ministern am Hofe von Tihrán nahm er eine fest begründete3 Sonderstellung ein. In ganz Kleinasien war er berühmt; seine Feder war das Wunder aller Kalligraphen, denn er beherrschte jeden Schönschreibestil. Außerdem war er ein erfahrener Astronom.
1 Ein berühmter Kalligraph, der am Hofe von Sháh ‚Abbás Safaví (1557-l628) lebte und wirkte.
2 Mishk ist Moschus. Mishkín-Qalam bedeutet moschusduftende oder pechschwarze Feder.
3 Qur’án 61:4
38:2 Dieser höchst gebildete Mann hörte zuerst in Isfahán von der Sache Gottes, worauf er sich aufmachte, Bahá’u’lláh zu finden. Er durchmaß weite Strecken, legte Tausende von Meilen zurück, stieg über Berge, durchquerte Wüsten und Meere, bis er schließlich nach Adrianopel kam. Hier erreichte er die Höhen des Glaubens und des Vertrauens; hier trank er den Wein der Gewißheit. Er antwortete dem Ruf Gottes, gelangte in Bahá’u’lláhs Gegenwart, erhob sich zu jenem höchsten Punkt, wo er empfangen und angenommen wurde. Wie ein Trunkenbold wankte er hin und her in seiner Liebe zu Gott, und vor lauter Leidenschaft und Sehnsucht schien sein Geist in die Irre zu gehen. Einmal fand man ihn himmelhoch jauchzend, dann wieder zu Tode betrübt; er war wie von Sinnen. Eine Zeitlang verbrachte er in der schützenden Gnade Bahá’u’lláhs und wurde jeden Tag mit neuen Gunstbezeigungen überhäuft. In all dieser Zeit betrieb er seine wunderbare Kalligraphie. So schrieb er den Größten Namen, Yá Bahá’u’l-Abhá, O Du Herrlichkeit des Allherrlichen, mit wundersamer Kunstfertigkeit in den verschiedensten Formen nieder und verschickte die Blätter überallhin.1
1 In einigen seiner Schöpfungen nahm die Schrift die Gestalt eines Vogels an. Als E.G. Browne in Persien war (vgl. A Year Amongst the Persians, p.227), sagte man ihm, daß „diese unter den Persern aller Klassen sehr gesucht wären, trügen sie nicht alle als Unterschrift des Künstlers folgenden Vers:
„Dar díyár-i-khatt sháh-i-sáhib-‚alam“
„Bandíy-i-báb-i-Bahá, Mishkín-Qalam.“
Der Vers könnte folgendermaßen übersetzt werden:
„Weltmeister der Kalligraphie ward ich gepriesen zuvor,“
„für Bahá’u’lláh aber will ich nichts sein, als ein Sklave am Tor,“
Mishkín-Qalam.
Das Wortspiel mit „Tor“ läßt zusätzlich auf den Báb schließen.
38:3 Dann wurde er angewiesen, nach Konstantinopel zu reisen, und brach mit Jináb-i-Sayyáh dorthin auf. Als er die große Stadt erreichte, nahmen ihn die führenden Perser und Türken zuerst in allen Ehren auf, verzaubert von seiner pechschwarzen Schreibkunst. Er jedoch begann, kühn und beredt den Glauben zu lehren. Der persische Botschafter lag auf der Lauer. Er begab sich zu den Wesiren des Sultáns und verleumdete ihn. „Dieser Mann ist ein Aufwiegler“, sagte der Botschafter. „Er ist von Bahá’u’lláh gesandt, um Unruhe und Unheil in dieser großen Stadt zu stiften. Er hat schon viele Menschen für seine Zwecke gewonnen und will sich noch weitere unterwerfen. Diese Bahá’í haben Persien auf den Kopf gestellt; jetzt wollen sie dasselbe in der türkischen Hauptstadt versuchen. Die persische Regierung hat 20,000 von ihnen hinrichten lassen, in der Hoffnung, so das Feuer des Aufruhrs zu löschen. Ihr solltet euch der Gefahr bewußt sein, denn bald wird diese Abscheulichkeit auch hier auflodern. Sie wird die Ernte eures Lebens vernichten und die ganze Welt in Brand stecken. Dann wird es zu spät sein, etwas zu tun.“
38:4 In Wirklichkeit befaßte sich Mishkín-Qalam, dieser sanfte, demutsvolle Mensch, in der Hauptstadt Kleinasiens ausschließlich mit seiner Kalligraphie und der Verehrung Gottes. Es war nicht Aufruhr, was er herbeiführen wollte, sondern Freundschaft und Frieden. Er bemühte sich, die Anhänger der verschiedenen Glaubensrichtungen zu versöhnen, und nicht, sie noch mehr auseinanderzubringen. Er diente den Fremden und war bei der Erziehung der Einheimischen behilflich. Den Unglücklichen war er ein Hort, den Armen ein Füllhorn. Er rief einen jeden zur Einheit der Menschheit; er mied Feindseligkeit und Tücke.
38:5 Der persische Botschafter jedoch verfügte über gewaltige Macht und stand schon lange Zeit in enger Verbindung mit den Ministern. Er überredete eine Reihe von Leuten, sich in verschiedene Versammlungen einzuschleichen und dort vielerlei falsche Anschuldigungen gegen die Gläubigen vorzubringen. Von den Unterdrückern angestachelte Spione begannen Mishkín-Qalam zu umgeben. Wie vom Botschafter angewiesen, hinterbrachten sie dem Premierminister Berichte, in denen es hieß, daß die fragliche Person Tag und Nacht Unruhe stifte, daß sie ein Störenfried, Rebell und Verbrecher sei. So wurde Mishkín-Qalam eingesperrt und nach Gallipoli verbracht, wo er zu unserem Zug der Verfolgten stieß. Man deportierte ihn nach Zypern, uns in das Gefängnis von ‚Akká. Auf der Insel Zypern wurde Jináb-i-Mishkín in der Zitadelle von Famagusta eingesperrt und verblieb dort als Gefangener vom Jahr 85 bis zum Jahre 94.1
1 1285-1294 n.d.H. (1868-1877 n.Chr.)
38:6 Als den Türken Zypern verlorenging, kam Mishkín-Qalam frei und begab sich zu seinem Vielgeliebten nach ‚Akká. Hier lebte er, von Bahá’u’lláhs Gnade umgeben, schrieb seine herrlichen Kalligraphien und sandte sie weithin. Er war stets frohgesinnt, glühend vor Gottesliebe, wie eine Kerze, die ihren Lebensdocht verzehrt, ein Trost für alle Gläubigen.
38:7 Nach dem Hinscheiden Bahá’u’lláhs blieb Mishkín-Qalam treu und standhaft im Bündnis, im Angesicht der Bündnisbrecher wie ein erhobenes Schwert. Nie ließ er sich auf Halbheiten mit ihnen ein; er fürchtete niemanden außer Gott; er schwankte keinen Augenblick und ließ nie im Dienen nach.
38:8 Später reiste Mishkín-Qalam nach Indien, wo er Wahrheitssuchern begegnete. Hier blieb er einige Zeit und mühte sich täglich aufs neue. Als ich erfuhr, daß ihn seine Kräfte verließen, sandte ich sofort nach ihm. Er kam ins Größte Gefängnis zurück, sehr zur Freude der Gläubigen, die selig waren, ihn erneut bei sich zu haben. Zu allen Zeiten war er mein enger Vertrauter. Er besaß mitreißenden Schwung und flammende Liebe. Er war ein Handbuch menschlicher Tugenden: gläubig, zuversichtlich, heiter, von der Welt gelöst, ein unvergleichlicher Gefährte, ein witziger Gesellschafter – ein Charakter wie ein Garten in voller Blüte. Aus Liebe zu Gott ließ er alle Annehmlichkeiten zurück; vor dem Erfolg verschloß er die Augen, er wünschte weder Ruhe noch Bequemlichkeit, suchte keinen Reichtum, wollte nur frei sein vom Schmutz der Welt. Nichts band ihn an das Leben, sondern er verbrachte seine Tage und Nächte im Gebet und im Zwiegespräch mit Gott. Immer war er frohgemut, ja überschäumend, Fleisch gewordener Geist, verkörperte Liebe. An Aufrichtigkeit und Treue, an Geduld und Ausgeglichenheit kam ihm keiner gleich. Er war die Selbstlosigkeit in Person, und der Hauch des Geistes belebte ihn.
38:9 Hätte er nicht die Gesegnete Schönheit so sehr geliebt, hätte er nicht sein ganzes Herz auf das Reich der Herrlichkeit gerichtet, so wäre ihm jede Annehmlichkeit dieser Welt beschieden gewesen. Wo immer er hinkam, waren seine vielen kalligraphischen Stilrichtungen ein Kapital, mit dem er wuchern konnte; seine hohe Kunst verschuf ihm die Aufmerksamkeit und die Achtung von arm und reich gleichermaßen. Aber er war so hoffnungslos der einzig wahren Liebe des Menschen verfallen, so losgelöst von allen anderen Banden, daß er frei zu schweben und zu steigen vermochte im grenzenlosen Himmel des Geistes.
38:10 Eines Tages, als ich nicht zugegen war, verließ er diese düstere, enge Welt und enteilte ins Land des Lichtes. Dort, im Schutze der unendlichen Gunst Gottes, fand er Lohn ohne Maß. Ihm seien Preis und Heil und die sanfte Gnade des Höchsten Gefährten.
39 [132] Ustád Alí-Akbar-i-Najjár
39:1 Ustád ‚Alí-Akbar, der Kunsttischler1, zählte zu den Gerechten, ein Fürst der Rechtschaffenen. Er war einer der ersten Gläubigen Persiens und führendes Mitglied ihrer Gemeinde. Seit den Anfängen der Sache Gottes, ein Eingeweihter und Vertrauter, löste er seine Zunge, den Glauben zu verkünden. Er forschte nach Glaubensbeweisen und drang tief in die Schriften ein. Auch war er ein begabter Dichter und schrieb Oden zu Ehren Bahá’u’lláhs.
1 „Ustád“ bedeutet „Meister“ in einer Kunst oder in einem Handwerk
39:2 Mit außergewöhnlicher Kunstfertigkeit leistete Ustád hervorragende Arbeit in seinem Gewerbe. Seine Möbel, die er gestaltete, glichen in ihrer Feinheit und Präzision Mosaikbildern. Desgleichen war er in der Mathematik bewandert; er löste und erklärte schwierige Aufgaben.
39:3 Von Yazd reiste dieser edle Mann in den ‚Iráq, wo ihm die Ehre zuteil wurde, in Bahá’u’lláhs Gegenwart zu gelangen, und übergroße Gnade zu empfangen. Die Gesegnete Schönheit überschüttete Ustád ‚Alí, der an fast jedem Tag in Seine Gegenwart trat, mit Gunstbeweisen. Er gehörte zu denen, die von Baghdád nach Mosul verbannt wurden, und hatte dort schwere Leiden zu ertragen. Lange Zeit blieb er unter schwierigsten Bedingungen in Mosul, stets dem Willen Gottes ergeben, in Gebet und Fürbitte, den Dank an Gott auf den Lippen.
39:4 Schließlich kam er von Mosul zum heiligen Schrein, um an Bahá’u’lláhs Grab zu beten und zu meditieren. Im Dunkel der Nacht, ohne Rast und Ruhe, weinte und klagte er laut. Wie er so zu Gott flehte, brannte ihm das Herz in der Brust, Tränen strömten ihm aus den Augen, und er erhob die Stimme und sang. Er war völlig gelöst von diesem Scherbenhaufen, der sterblichen Welt. Er floh sie und begehrte nur, ihr zu entschweben, voll der Hoffnung, daß ihn der verheißene Lohn erwarte. Daß das Licht der Welt entschwunden war, ertrug er nicht; was er suchte, war das Paradies der Wiedervereinigung mit Ihm. Seine Augen hungerten danach, das Reich Abhá in seiner Herrlichkeit zu schauen. Zuletzt wurde sein Gebet erfüllt, und er stieg in die Welt Gottes empor, zum Brennpunkt der Lichtstrahlen des Herrn aller Herren.
39:5 Gottes Segen und Lobpreis seien mit ihm. Möge Gott ihn zur Wohnstatt des Friedens geleiten, so wie Er in Seinem Buche schrieb : „Für sie gibt es eine Wohnstatt des Friedens bei ihrem Herrn.“1 „Und für die, so Ihm dienen, ist Gott voller Güte.“2
1 Qur’án 6:127
2 Qur’án 3:28
40 [134] Shaykh Alí-Akbar-i-Mázgání
40:1 Dieser Führer der freien Seelen, und Sucher nach der Liebe Gottes war noch ein Kind, als er in Mázgán bereits an der Brust der Gnade gesäugt ward. Er war ein Sohn des Shaykh-i-Mázgání, eines bedeutenden Gelehrten. Sein edler Vater war ein prominenter Bürger von Qamsar bei Káshán, an Frömmigkeit, Heiligkeit und Gottesfurcht gab es keinen seinesgleichen. Dieser Vater verkörperte alle Tugenden; auch hatte er gefällige Umgangsformen und gute Anlagen, er war ein ausgezeichneter Gesellschafter und für alle diese Eigenschaften weit bekannt. Als er seine Zurückhaltung aufgab und sich offen zum Glauben bekannte, wandten sich die Ungläubigen, ob Freund oder Fremdling, von ihm ab und sannen auf seinen Tod. Er aber fuhr fort, die Sache Gottes zu fördern, die Menschen tief im Herzen aufzurütteln und neue Gläubige so großzügig wie je zuvor aufzunehmen. In Káshán reichte der Ruhm seines starken Glaubens bis zu den Sternen empor. Da erhoben sich die erbarmungslosen Angreifer, plünderten seinen Besitz und brachten ihn zu Tode.
40:2 ‚Alí-Akbar, der Sohn dieses Märtyrers auf dem Pfade Gottes, konnte nicht länger dortzulande bleiben, sonst wäre er wie sein Vater getötet worden. Er verbrachte einige Zeit im ‚Iráq, wo er die Ehre hatte, in Bahá’u’lláhs Gegenwart zu gelangen. Dann ging er nach Persien zurück, aber erneut sehnte er sich, Bahá’u’lláh wiederzusehen. Zusammen mit seiner Frau durchquerte er Wüsten und Gebirge; manchmal zu Pferd, manchmal zu Fuß, legten sie viele Meilen zurück, wanderten von einer Küste zur anderen, bis sie beide schließlich die heilige Stätte erreichten und im Schatten des Göttlichen Lotusbaumes sicheren Frieden fanden.
40:3 Als die Schönheit des Ersehnten aus dieser Welt entschwunden war, blieb ‚Alí-Akbar dem Bündnis treu und gedieh in der Gnade Gottes. Veranlagung und innige Herzensliebe trieben ihn, Gedichte zu schreiben, Oden und Gaselen zu verfassen, aber er beherrschte weder Reim noch Versmaß:
40:4 „Ich begehrte zu dichten, doch mein Geliebter sprach zu mir:“
„Begehr du nur, daß deine Augen Mich erschauen.“
40:5 Mit glühender Sehnsucht verlangte sein Herz nach dem Reich seines mitleidvollen Herrn; von brennender Liebe verzehrt, verließ er schließlich diese Welt und schlug sein Zelt in der höheren Welt auf. Möge Gott aus dem Reiche Seines Erbarmens Seinen Segen gleich üppigem Regen1 auf ‚Alí-Akbars Grab herniedersenden, möge Er ihm einen großen Sieg verleihen und ihm in der Zuflucht des Himmels überströmende Gnade die Fülle gewähren.
1 Qur’án 2:266-267
41 [136] Mírzá Muhammad, der Diener in der Herberge
41:1 Dieser himmlische Jüngling stammte aus Isfahán, und von seinen frühen Tagen an war er den führenden Geistlichen dort für seinen wachen Verstand bekannt. Er war von edler Geburt, seine Familie war bekannt und geachtet, er selbst war ein hochgebildeter Gelehrter. Aus Philosophie und Geschichte, Wissenschaften und Künsten hatte er allen Nutzen gezogen, aber ihn dürstete nach dem Geheimnis der Wirklichkeit, er sehnte sich danach, Gott zu erkennen. Sein fieberhafter Durst ließ sich mit Künsten und Wissenschaften nicht stillen, wie klar auch immer ihre Wasser waren. Er suchte immer weiter, nahm an Gesprächen mit gelehrten Männern teil, bis er schließlich die Bedeutung seines sehnsüchtigen Traumes entdeckte und das Rätsel, das unzerstörbare Geheimnis, offen vor ihm lag. Plötzlich atmete er den frischen Blumenduft aus den Gärten der Herrlichkeit Gottes, und sein Herz erglühte in einem Sonnenstrahl der Wahrheit. War er zuvor wie ein Fisch auf dem Trockenen, so hatte er nun den Quell ewigen Lebens erreicht; war er zuvor ein taumelnder Nachtfalter, so hatte er jetzt die entflammte Kerze gefunden. Ein echter Wahrheitssucher, fand er sich sofort von der erhabenen Freudenbotschaft neu belebt; sein inneres Auge erstrahlte vom neuen Morgen der Führung. So blendend hell war das Feuer göttlicher Liebe, daß er sein Antlitz von seinem Leben in Frieden und Glück abkehrte und sich auf den Weg zum Größten Gefängnis machte.
41:2 In Isfahán hatte er jede Behaglichkeit genossen, das Leben hatte es gut mit ihm gemeint. Jetzt befreite ihn die Sehnsucht nach Bahá’u’lláh von allen anderen Banden. Er legte die vielen Meilen zurück, erlitt harte Drangsal, tauschte einen Palast gegen ein Gefängnis, half den Gläubigen in der Festung ‚Akká und umsorgte dienend Bahá’u’lláh. Der vorher bedient worden war, diente nun anderen; vormals ein Herr, war er jetzt ein Knecht; einst ein Führer, war er fortan ein Gefangener. Er fand weder Ruhe noch Rast bei Tag oder Nacht. Den Reisenden war er eine trauliche Zuflucht, den Siedlern ein unvergleichlicher Gefährte. Er diente über seine Kraft hinaus, denn er war von der Liebe zu den Freunden erfüllt. Die Reisenden waren ihm ergeben, die Siedler voll Dankbarkeit. Und weil er ständig zu tun hatte, schwieg er immer.
41:3 Dann befiel uns die Höchste Heimsuchung, die Abwesenheit Bahá’u’lláhs war nicht zu ertragen. Mírzá Muhammad fand Tag und Nacht keine Ruhe mehr. Er schmolz dahin wie eine niederbrennende Kerze; unbändiger Schmerz entzündete ihm Herz und Leber; sein Körper vermochte nicht länger zu widerstehen. Er weinte und flehte Tag und Nacht voll Sehnsucht, in das unentdeckte Land zu entschweben. „Herr, erlöse mich, erlöse mich von dieser Trennung“, schrie er, „laß mich aus dem Kelch der Wiedervereinigung trinken, gib mir eine Wohnstatt im Schutze Deiner Gnade, o Herr der Herren!“
41:4 Schließlich verließ er diesen Staubhaufen, die Erde, und flog in die Welt, die ohne Ende ist. Möge ihm der Kelch munden, der mit Gottes Gnade randvoll gefüllt ist, möge er mit gesundem Behagen von der Speise kosten, die Herz und Seele Leben gibt. Möge Gott ihn an das selige Ende der Reise geleiten und ihm von den Gaben, die dort verliehen werden, reichen Anteil gewähren.1
1 Für einige dieser arabischen Redewendungen siehe Qur’án 3:170, 4:12, 175, 5:16, 17, 11:100, 11:101, 28:79, 41:35
42 [138] Mírzá Muhammad-i-Vakíl
42:1 Einer der Gefangenen, die von Baghdád nach Mosul geschickt wurden, war Mírzá Muhammad-i-Vakíl. Diese rechtschaffene Seele gehörte zu denen, die in Baghdád den Glauben annahmen. Hier trank er aus dem Kelch der Ergebenheit in den Willen Gottes und suchte Ruhe im Schatten des himmlischen Baumes. Er war ein edler, vertrauenswürdiger Mensch. In der Verwaltung wichtiger Angelegenheiten war er äußerst geschickt und tatkräftig, bekannt im ‚Iráq für seine weisen Ratschläge. Nachdem er den Glauben angenommen hatte, wurde er mit dem Titel Vakíl, Bevollmächtigter, ausgezeichnet. Dies trug sich folgendermaßen zu:
42:2 In Baghdád gab es einen Mann von Rang namens Hájí Mírzá Hádí, der Juwelier. Er hatte einen vortrefflichen Sohn, Áqá Mírzá Músá, der von Bahá’u’lláh den Titel „Buchstabe der Ewigkeit“ erhalten hatte. Dieser Sohn war ein standhafter Gläubiger. Was seinen Vater, den Hájí, betrifft, so war er ein Mann von Adel und nicht nur in Persien und im ‚Iráq, sondern bis nach Indien für seine außerordentliche Freigebigkeit bekannt. Anfangs war er ein persischer Wesir gewesen; aber als er sah, wie der verstorbene Fath-‚Alí Sháh irdischen Reichtum begehrte, insbesondere den irdischen Reichtum der persischen Wesire, wie er an sich brachte, was sie angesammelt hatten, und, nicht damit zufrieden, ihren kostbaren Plunder zu beschlagnahmen, sie auch noch von allen Seiten bestrafte und folterte, was er gerechte Strafe nannte, da fürchtete der Hájí, ebenfalls von diesem Abgrund verschlungen zu werden. Er gab sein Ministeramt und sein Haus auf und floh nach Baghdád. Fath-‚Alí Sháh verlangte vom Gouverneur von Baghdád, Dávúd Páshá, seine Auslieferung, aber der Pascha war ein mutiger Mann, und der Hájí war weithin für seine geistigen Fähigkeiten bekannt. So respektierte und unterstützte ihn der Páshá, und der Hájí richtete sich ein Geschäft als Juwelier ein und lebte in Glanz und Prunk wie ein großer Fürst. Er war einer der bemerkenswertesten Männer seiner Zeit, denn in seinem Palast führte er zwar ein Leben in Reichtum und Freude, ließ aber Pracht, Lebensstil und Gefolge zurück, wenn er seinen geschäftlichen Angelegenheiten nachging, bei denen er große Gewinne erzielte.
42:3 Die Tür seines Hauses stand immer offen. Türken und Perser, Nachbarn, Fremde aus fernen Orten, alle waren ihm geehrte Gäste. Wenn die persischen Großen zu den heiligen Schreinen pilgerten, kehrten sie zumeist in seinem Hause ein, wo sie dann ein Festessen sowie jeden Luxus bereit fanden. In der Tat war der Hájí angesehener als Persiens Großwesir; er übertraf alle Wesire an Prachtentfaltung und erwies mit der Zeit allen, die da kamen und gingen, immer größere Freigebigkeit. Er war der Stolz der Perser im ganzen ‚Iráq, der Ruhm seiner Landsleute. Selbst den türkischen Wesiren und Ministern sowie den Großen Baghdáds kam er mit Geschenken und Gunstbeweisen entgegen; an Klugheit und Feinfühligkeit hatte er keinen seinesgleichen.
42:4 Gegen Ende seines Lebens gingen die Geschäfte des Hájí wegen seines fortgeschrittenen Alters zurück. Dennoch änderte er seine Lebensweise nicht und gab sich vornehm wie immer. Prominente liehen sich hohe Geldbeträge von ihm, die sie nie zurückerstatteten. Eine Dame, die Mutter von ‚Aqá Khán Mahallátí, ließ sich 100,000 Túmán1 von ihm geben und zahlte keinen Pfennig zurück, denn sie starb bald darauf. Der Íl-Khán, ‚Alí-Qulí-Khán, war ein anderer Schuldner, ebenso Sayfu’d-Dawlih, ein Sohn Fath-‚Alí Sháhs, und Válíyyih, eine Tochter Fath-‚Alí Sháhs. Dies sind nur ein paar Beispiele von vielen, darunter türkische Emire, die Großen Persiens und des ‚Iráq. All diese Schulden blieben unbezahlt und uneintreibbar. Nichtsdestoweniger lebte dieser bedeutende, fürstliche Mann weiter wie bisher.
1 In der Bahá’í-Geschichte reicht die Periode von Baghdád vom 8. April 1853 bis zum 3. Mai 1863. Ein damaliger Túmán entsprach etwa DM 2,50 bis DM 3,- heutigen Wertes.
42:5 Als sein Lebensende nahte, faßte er ungewöhnliche Liebe zu Bahá’u’lláh und suchte demütig Seine Nähe. Ich erinnere mich, wie er eines Tages der Gesegneten Schönheit erzählte, daß um das Jahr 1250 der berühmte Astrologe Mírzá Mawkab die heiligen Schreine besuchte. „Eines Tages sagte er zu mir“, fuhr der Hájí fort, „`Mírzá, ich sehe eine seltsame, einmalige Konjunktion in den Sternen, wie es sie nie zuvor gegeben hat. Sie zeigt, daß ein folgenschweres Ereignis eintreten wird, und ich bin sicher, dieses Ereignis kann nichts Geringeres sein als das Kommen des verheißenen Qá’im.`“
42:6 So stand es um diesen berühmten Fürsten, als er verschied. An Erben hinterließ er einen Sohn und zwei Töchter. Die Leute, die ihn für unverändert reich hielten, dachten, seine Hinterbliebenen würden Millionen erben, denn jeder kannte seinen Lebensstil. Der diplomatische Vertreter Persiens, die neuernannten Mujtahids und ein gottloser Richter bekamen allesamt großen Appetit. Sie stifteten Unfrieden unter den Erben, um aus dem entstehenden Durcheinander selbst den größten Nutzen ziehen zu können. Mit diesem Hintergedanken taten sie alles, was sie vermochten, um die Erben zu ruinieren; ihre Absicht war es, die Hinterbliebenen bis auf die Haut auszuziehen, während der persische Diplomat, die Mujtahids und der Richter die Beute einstecken würden.
42:7 Mírzá Músá war ein unerschütterlicher Gläubiger, seine Schwestern jedoch waren von einer anderen Mutter und wußten nichts von der Sache Gottes. Eines Tages kamen die beiden Schwestern zusammen mit dem Schwiegersohn des verstorbenen Mírzá Siyyid Ridá in Bahá’u’lláhs Haus. Die Schwestern zogen in die Familiengemächer, während sich der Schwiegersohn in den Empfangsräumen häuslich niederließ. Die beiden Mädchen sagten zu Bahá’u’lláh: „Der persische Gesandte, der Richter und die gottlosen Mujtahids haben uns zugrunde gerichtet. Gegen Ende seines Lebens vertraute der selige Hájí niemandem als Dir. Wir selber sind nachlässig gewesen und hätten früher um Deinen Schutz bitten sollen; auf jeden Fall sind wir nun gekommen, um Deine Vergebung und Deine Hilfe zu erflehen. Wir hoffen, daß Du uns nicht in Verzweiflung wegschicken wirst, sondern uns durch Deine Gnade und Hilfe rettest. Geruhe also, Dich der Sache anzunehmen, und vergiß unsere früheren Fehler.“
42:8 Zur Antwort erklärte die Gesegnete Schönheit mit Bestimmtheit, daß es Ihm zuwider sei, sich in solche Angelegenheiten einzumischen. Sie ließen jedoch nicht ab, Ihn zu beschwören. Sie blieben eine ganze Woche in den Familiengemächern, und jeden Morgen, jeden Abend flehten sie um Schutz und Gnade. „Wir werden uns nicht von dieser Schwelle erheben“, sagten sie. „Wir suchen Zuflucht in diesem Hause, wir bleiben hier, an der Pforte Dessen, der die Engel beschirmt, bis Er geruht, sich unserer Angelegenheiten anzunehmen und uns von unseren Unterdrückern zu retten.“
42:9 Jeden Tag gab Bahá’u’lláh ihnen Ratschläge und sprach: „Derartige Angelegenheiten sind in den Händen der Mujtahids und der Regierungsbehörden. Wir mischen Uns da nicht ein.“ Sie aber fuhren mit ihrer Zudringlichkeit fort, bittend, drängend, um Hilfe flehend. Nun war Bahá’u’lláhs Haus frei von weltlichen Gütern; die beiden Damen, nur an das Beste gewöhnt, konnten schwerlich mit Wasser und Brot abgespeist werden. Auf Kredit mußten für sie Lebensmittel besorgt werden; kurz gesagt, von allen Seiten gab es Probleme.
42:10 Eines Tages schließlich rief mich Bahá’u’lláh zu sich. „Diese ehrenwerten Damen“, sagte Er, „mit all ihren Forderungen machen Uns große Ungelegenheiten. Es gibt kein anderes Mittel – du mußt dich der Sache annehmen. Aber du mußt diese ganze, verwickelte Angelegenheit an einem Tag regeln.“
42:11 Am folgenden Morgen ging ich mit Áqáy-i-Kalím zum Haus des verstorbenen Hájí. Von uns bestellte Gutachter trugen alle Juwelen in einem der oberen Gemächer zusammen; die Hauptbücher und Kontobücher, die mit den Eigentumsverhältnissen zu tun hatten, wurden in einen zweiten Raum gebracht, die kostbaren Möbel und Kunstgegenstände des Hauses in einen dritten. Einige Juweliere machten sich an die Arbeit und bewerteten die Edelsteine. Andere Experten schätzten das Haus, die Ladenräume, die Gärten, die Bäder. Als sie ihre Arbeit begannen, kam ich und postierte in jedem Raum einen Mann, damit die Gutachter ihr Werk pünktlich vollenden konnten. Darüber war es beinahe Mittag geworden. Wir nahmen unsere Mahlzeit ein, dann wurden die Gutachter angewiesen, alles in zwei gleiche Teile zu teilen, die dann ausgelost werden sollten: Der eine Teil sollte den Töchtern gehören, der andere dem Sohn, Mírzá Músá.1 Danach legte ich mich ins Bett, denn ich war krank. Nachmittags stand ich wieder auf, trank Tee und ging in die Familiengemächer des Hauses zurück. Hier sah ich, daß der Besitz in drei Teile geteilt worden war. Ich sagte zu ihnen: „Ich hatte angewiesen, alles in zwei Teile zu teilen. Warum also sind es drei?“ Die Erben und anderen Angehörigen erwiderten einstimmig: „Es muß unbedingt ein dritter Teil beiseitegelegt werden, darum haben wir alles in drei Teile geteilt. Ein Teil ist für Mírzá Músá, einer für die beiden Töchter, und den dritten überlassen wir Dir; es ist der Anteil des Verstorbenen; Du magst ihn ausgeben, wie es Dir beliebt.“
1 Dieses entsprach dem Gesetz des Islams, siehe Qur’án 4:12
42:12 Mit großer Bestürzung sprachen wir zu ihnen: „Das kommt nicht in Frage. Das dürft ihr nicht verlangen, denn es kann nicht erfüllt werden. Wir haben Bahá’u’lláh unser Wort gegeben, daß auch nicht eine Kupfermünze angenommen würde.“ Sie aber leisteten nun einen Eid, daß man nach ihrem Wunsch verfahren müsse, sie würden sich auf nichts anderes einlassen. Dieser Diener entgegnete: „Wir wollen es im Augenblick dabei belassen. Gibt es sonst noch Unstimmigkeiten zwischen euch?“ „Ja“, sagte Mírzá Músá, „was ist aus dem hinterlassenen Geld geworden?“ Nach der Höhe des Betrages gefragt, antwortete er: „Dreihunderttausend Túmán.“ Die Töchter sprachen: „Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder ist das Geld hier im Haus, in einer Truhe oder irgendwo vergraben – oder es ist in anderen Händen. Wir werden das Haus mit allem darin Mírzá Músá überlassen. Wir beide werden das Haus mit nichts als unseren Schleiern verlassen. Sollte noch irgend etwas auftauchen, so verbleibt es ihm. Wenn das Geld anderswo ist, so ist es wahrscheinlich irgend jemandem anvertraut worden, und der wird sich, vertrauensbrüchig wie er bereits ist, kaum melden und es uns ordnungsgemäß zurückgeben – vielmehr wird er sich damit aus dem Staube machen. Mírzá Músá muß das, was er sagt, zufriedenstellend beweisen; seine Forderung allein ist kein Beweis.“ Mírzá Músá erwiderte: „Der gesamte Besitz war in ihren Händen, ich wußte nichts von dem, was vorging – ich hatte keine Ahnung davon. Sie konnten schalten, wie es ihnen beliebte.“
42:13 Kurz gesagt, Mírzá Músá hatte keinen klaren Beweis für seine Forderung. Er konnte nur fragen: „Wie ist es möglich, daß der selige Hájí keinerlei Barmittel hatte?“ Da die Forderung unbelegt war, schloß ich, daß ihre Weiterverfolgung nichts als Ärger brächte. Also gebot ich ihnen: „Werft die Lose!“ Den dritten Teil brachte ich in ein getrenntes Gemach, das ich abschloß und versiegelte. Den Schlüssel überbrachte ich Bahá’u’lláh. „Das Werk ist getan“, sagte ich. „Nur durch Deine Bestätigung konnte es vollendet werden; sonst wäre es in einem Jahr noch nicht bewältigt. Es hat sich jedoch eine Schwierigkeit ergeben.“ Ausführlich schilderte ich Mírzá Músás Forderung und das Fehlen jeglichen Beweises. Dann sagte ich: „Mírzá Músá ist hoch verschuldet. Selbst wenn er alles verwendet, was er besitzt, kann er seine Gläubiger doch nicht zufriedenstellen. Es wäre daher am besten, wenn Du selbst die Bitte der Erben erfülltest, da sie darauf bestehen, und den Anteil sodann Mírzá Músá schenktest. Dann könnte er sich wenigstens von seinen Schulden befreien und doch noch etwas übrig behalten.“
42:14 Anderntags erschienen die Erben und beschworen die Gesegnete Schönheit zu gestatten, daß ich den dritten Teil annähme. „Dies kommt nicht in Frage“, sagte Er ihnen. Dann baten und beschworen sie Ihn, selbst diesen Teil anzunehmen und ihn für wohltätige Zwecke Seiner Wahl auszugeben. Er erwiderte: „Es gibt nur einen Zweck, für den ich diesen Betrag ausgeben würde.“ Sie sagten: „Das geht uns nichts an, selbst wenn Du ihn ins Meer werfen läßt. Wir werden nicht vom Saume Deines Gewandes ablassen und nicht zu drängen aufhören, bevor Du nicht unsere Bitte erfüllt hast.“ Da sprach Er zu ihnen; „Ich nehme diesen dritten Teil an und schenke ihn Mírzá Músá, eurem Bruder, aber unter der Bedingung, daß er von diesem Tage an von keiner Forderung mehr gegen euch spricht.“ Die Erben bedankten sich überschwenglich. Und so wurde dieser schwierige Streitfall an einem einzigen Tag gelöst. Es blieb nicht die Spur eines Einwands, von Unzufriedenheit oder weiteren Streitigkeiten zurück.
42:15 Mírzá Músá versuchte alles, um mir ein paar von den Juwelen aufzudrängen, aber ich lehnte ab. Schließlich bat er mich, einen einzigen Ring anzunehmen. Er war sehr wertvoll, besetzt mit einem kostbaren granatapfelroten Rubin, makellos geschliffen, ein einmaliges Stück. Der mittlere Stein war von Diamanten umgeben. Auch das lehnte ich ab, obwohl ich keine ‚Abá auf dem Leib hatte, auch sonst kein Kleidungsstück außer einer Baumwolljacke von ehrwürdigem Alter und keine Kupfermünze in der Tasche. Wie Háfiz sagen würde: „Einen leeren Beutel, aber einen Schatz im Ärmel.“
42:16 Aus Dank für die Gnadenfülle, die er empfangen hatte, bot Mírzá Músá Bahá’u’lláh alles an, was er besaß: Obstgärten, Ländereien, Gehöfte – aber alles wurde ausgeschlagen. Dann machte er die ‚Ulamá des ‚Iráq zu seinen Fürsprechern. Sie eilten allesamt zu Bahá’u’lláh und bedrängten Ihn, die angebotenen Geschenke anzunehmen. Er lehnte entschieden ab. Voll Ehrerbietung sagten sie zu Ihm: „Was Du nicht annimmst, wird Mírzá Músá binnen kurzem in alle Winde verstreut haben. Zu seinem eigenen Besten sollte er nicht über dieses Vermögen verfügen können.“
42:17 Daraufhin setzte Mírzá Músá eigenhändig auf arabisch und persisch Schenkungsurkunden nach den Vorschriften aller fünf Glaubensbekenntnisse auf; er machte eine Abschrift und bestimmte die ‚Ulamá als Zeugen. Durch einige ‚Ulamá aus Baghdád, unter ihnen der berühmte Gelehrte ‚Abdu’s-Salám Effendi sowie der belesene, weitbekannte Siyyid Dávúd Effendi, ließ er die Schenkungsurkunde Bahá’u’lláh überbringen. Die Gesegnete Schönheit sprach zu ihnen : „Wir ernennen Mírzá Músá selbst zu Unserem Bevollmächtigten.“
42:18 Nachdem Bahá’u’lláh nach Rumelien abgereist war, kaufte Mírzá Músá von der Regierung mit einem Eigenwechsel den Zehnten von Hindíyyih, einem Bezirk bei Karbilá, und erlitt einen furchtbaren Verlust, annähernd 1000,000 Túmán. Die Regierung konfiszierte seinen Besitz und verkaufte ihn für einen lächerlichen Preis. Als Bahá’u’lláh von der Sache erfuhr, sagte Er: „Sprecht nie wieder davon. Erwähnt diese Ländereien mit keinem Wort.“ Das war nach der Verbannung von Adrianopel nach ‚Akká. Mírzá Muhammad ging zu den Regierungsstellen und sagte: „Ich bin der Bevollmächtigte (Vakíl) Bahá’u’lláhs. Dieses Land gehört nicht Mírzá Músá, wieso habt ihr es an euch gebracht?“ Da er aber keine Beweisurkunden hatte – die waren in ‚Akká – wies die Regierung seinen Anspruch zurück. Im Verlauf des Prozesses jedoch wurde er allen als Mírzá Muhammad, der Bevollmächtigte, bekannt. So erhielt er seinen Titel.
42:19 Als wir in Adrianopel waren, schickte uns Mírzá Músá den Rubinring durch Siyyid ‚Alí-Akbar; die Gesegnete Schönheit gebot uns, ihn anzunehmen. Nach unserer Ankunft in ‚Akká erkrankten die Gläubigen und lagen leidend auf ihren Betten. Ich sandte den Ring nach Indien an einen der Freunde, damit er ihn so schnell wie möglich verkaufe und uns den Erlös für die Kranken nach ‚Akká zurückschicke. Dieser gesegnete Mensch schickte uns nie auch nur einen Heller. Zwei Jahre später schrieb er, er habe den Ring für fünfundzwanzig Pfund verkauft und diesen Betrag für die Pilger ausgegeben. Das, obwohl der Ring von solch großem Wert war! Ich erhob keinen Einwand. Vielmehr pries ich Gott und dankte Ihm, daß von dem ganzen Reichtum kein Stäubchen an meinem Gewand haften geblieben war.
42:20 Mírzá Muhammad wurde festgenommen und von Baghdád nach Mosul verschickt, wo ihn schreckliche Krankheiten befielen. Er war reich gewesen, jetzt war er arm auf dem Pfade Gottes. Er hatte Wohlbehagen und Bequemlichkeit genossen, jetzt ertrug er für die Liebe Gottes Schmerzen und Mühsal. Er lebte noch eine Zeitlang in Mosul, demütig, ergeben und bescheiden. Und dann, gelöst von allem außer Gott, unwiderstehlich von den sanften Brisen des Herrn angezogen, stieg er aus dieser dunklen Welt in das Land des Lichtes auf. Ihm seien Gruß und Preis. Möge Gott die Wasser der Vergebung über ihn ergießen und vor seinem Grab die Tore des Himmels öffnen.
43 [147] Hájí Muhammad-Ridáy-i-Shirází
43:1 Hájí Muhammad-Ridá stammte aus Shiráz. Er war ein geistig gesinnter Mensch, demütig, bußfertig, die Verkörperung heiterer Gelassenheit und Glaubenstreue. Als der Ruf Gottes erhoben ward, eilte diese hungrige Seele in den Schutz der himmlischen Gnade. Sobald er die gebieterische Frage hörte: „Bin Ich nicht euer Herr?“ rief er: „Ja, wahrlich!“1 und wurde zur Lampe für des Volkes Pfad.
1 Qur’án 7:171
43:2 Lange Zeit diente er dem Afnán1 Hájí Mírzá Muhammad-‚Alí als ein treuer und naher, mit allem vertrauter Freund. Später, im Anschluß an eine Reise in ferne Länder, kam er ins Heilige Land; er neigte in äußerster Ergebenheit und Demut sein Haupt an der Heiligen Schwelle und hatte die Ehre, in die Gegenwart Bahá’u’lláhs zu treten, wo er aus gnädigen Händen unendliche Gaben empfing. Geraume Zeit blieb er da und bediente Bahá’u’lláh fast jeden Tag, umfangen von heiliger Gunst und Gnade. Er war von hervorragender Wesensart und lebte nach den Geboten Gottes: Ruhig und geduldig, dem Willen Gottes ergeben, war er die Selbstlosigkeit selbst. Er hatte keinerlei persönliche Ziele, kein Gefühl der Bindung an diese vergängliche Welt. Sein einziger Wunsch war, seinem Herrn wohlzugefallen, seine einzige Hoffnung, den heiligen Pfad zu beschreiten.
1 arabisch „Zweig“, bezeichnet die Verwandten des Báb
43:3 Später ging er nach Beirut und diente dort dem ehrenwerten Afnán. Lange Zeit verbrachte er auf die Weise, daß er immer wieder in die Gegenwart Bahá’u’lláhs zurückkehrte, um die Höchste Schönheit zu schauen. Später erkrankte er in Sidon. Zur Weiterreise nach ‚Akká nicht mehr fähig, stieg er völlig ergeben und zufrieden empor zum Reiche Abhá und tauchte ein in das Lichtmeer. Die Erhabenste Feder widmete seinem Gedenken unendliche Gnadengaben. Er war fürwahr einer der treuen, standhalten, unverbrüchlichen Pfeiler der Dienstbarkeit für Bahá’u’lláh. Wiederholt hörten wir sein Lob von den Lippen der Gesegneten Schönheit.
43:4 Mit ihm seien Gruß und Preis und die Herrlichkeit des Allherrlichen. Mit ihm seien die Barmherzigkeit und die größte Gnade des Herrn der hohen Himmel. Sein leuchtendes Grab ist in Sidon, nahe dem Platz, der nach dem heiligen Johannes benannt ist.
44 [149] Husayn Effendi Tabrízí
44:1 Dieser junge Mann stammte aus Tabríz und war von der Liebe Gottes erfüllt wie ein überquellender Kelch roten Weines. In der Blüte seiner Jugend verließ er Persien und reiste nach Griechenland. Dort verdiente er seinen Lebensunterhalt als Kaufmann, bis er eines Tages, durch göttliche Gnade geführt, von Griechenland nach Smyrna ging und dort die frohe Botschaft von einer neuen Manifestation Gottes auf Erden hörte. Er jauchzte laut, war verzückt und trunken von der Melodie der neuen Botschaft. Er entfloh seinen Kontobüchern, machte sich auf, den Herrn seines Herzens zu finden, und begegnete Bahá’u’lláh. Einige Zeit wartete er der Gesegneten Schönheit als vertrauenswürdiger Diener und Begleiter auf. Dann wurde er angewiesen, in der Stadt Haifa Wohnung zu nehmen.
44:2 Hier diente er treu den Gläubigen. Sein Heim war ein Rastplatz für Bahá’í-Reisende. Er war überaus begabt, hatte einen wunderbaren Charakter und hohe geistige Ziele, war freundlich zu Freunden wie zu Fremden, liebenswürdig zu den Menschen jeden Volkes und allen wohlgesinnt.
44:3 Als das Größte Licht zu den Himmlischen Heerscharen aufstieg, blieb Husayn Effendi treu, standhaft und fest. Wie zuvor war er den Freunden ein naher Freund. So lebte er eine ganze Weile und fühlte sich wohler als alle Könige der Erde. Er wurde der Schwiegersohn von Mírzá Muhammad-Qulí, dem Bruder der Gesegneten Schönheit, und blieb einige Zeit friedlich und ruhig. Sorgfältig mied er jeden Anlaß, in Irrtum verstrickt zu werden, da er fürchtete, der Sturm des Kummers könnte höher branden, sich zu Raserei steigern und so manche Seele in den bodenlosen Abgrund reißen.1 Er seufzte und klagte, denn diese Furcht nagte ohne Unterlaß an ihm. Schließlich konnte er die Welt nicht länger ertragen und legte mit eigener Hand das Kleid des Lebens ab.
44:4 Preis und Gruß, die Gnade Gottes und göttliche Annahme seien mit ihm. Möge Gott ihm vergeben und ihn den höchsten Himmel, das alles überragende Paradies, betreten lassen. Sein duftendes Grab ist in Haifa.
1 vorletzter Absatz: Über die auf das Hinscheiden Bahá’u’lláhs folgenden Trübsale siehe Gott geht vorüber, Kap. XV
45 [151] Jamshíd-i-Gurjí
45:1 Zu den Auswanderern und Siedlern gehörte auch der tapfere Jamshíd-i-Gurjí, der aus Georgien kam, aber in der Stadt Káshán aufwuchs, ein edler Jüngling, gläubig, vertrauenswürdig, von hohem Ehrgefühl. Als er hörte, daß ein neuer Glaube heraufdämmere, und ihn die Nachricht wachrüttelte, daß am Horizont Persiens die Sonne der Wahrheit aufgegangen war, da erfüllte ihn heilige Begeisterung, Sehnsucht und Liebe. Das neue Feuer verbrannte die Schleier der Ungewißheit und des Zweifels, die ihn umfangen hatten; das Licht der Wahrheit sandte seine Strahlen hernieder, die Lampe der Führung leuchtete ihm voran.
45:2 Eine Zeitlang blieb er in Persien, dann brach er auf nach Rumelien im Osmanischen Reich, und im Land der Geheimnisse, in Adrianopel, hatte er die Ehre, in die Gegenwart Bahá’u’lláhs zu gelangen. Dort fand seine große Begegnung statt, voll grenzenloser inbrünstiger Freude. Später reiste er auf Bahá’u’lláhs Befehl mit Áqá Muhamad-Báqir und Áqá ‚Abdu’l-Ghaffár nach Konstantinopel. In dieser Stadt kerkerten ihn die Tyrannen ein und legten ihn in Ketten.
45:3 Der persische Gesandte verleumdete Jamshíd und Ustád Muhammad-‚Alí-i-Dallák als feindliche Rädelsführer und Raufbolde. Jamshíd beschrieb er als einen zweiten Rustam1, Muhammad-Alí war nach der Darstellung des Gesandten ein reißender Löwe. Die beiden hochangesehenen Männer wurden zuerst verhaftet und eingekerkert, dann des türkischen Gebiets verwiesen und unter Bewachung an die persische Grenze gebracht. Sie sollten der persischen Regierung ausgeliefert und gekreuzigt werden. Den Wächtern wurden schreckliche Strafen angedroht für den Fall, daß sie in ihrer Wachsamkeit nachließen und den Gefangenen die Flucht gelänge. Deshalb wurden die Opfer bei jeder Rast an einem fast unzugänglichen Ort festgehalten. Einmal wurden sie in eine brunnenähnliche Grube geworfen und litten die ganze Nacht über Todesqualen. Am nächsten Morgen rief Jamshíd aus: „O ihr Unterdrücker! Sind wir der Prophet Joseph, daß ihr uns in diesen Brunnen warft? Erinnert ihr euch, daß er sich aus dem Brunnen heraus so hoch erhob wie der volle Mond? Auch wir wandeln auf dem Pfade Gottes, auch wir sind hier unten um Seinetwillen und wissen, daß diese Tiefen die Himmel des Herrn sind.“
1 der Herkules Persiens
45:4 An der persischen Grenze angekommen, wurden Jamshíd und Muhammad-‚Alí kurdischen Führern übergeben, die sie nach Tihrán bringen sollten. Diese kurdischen Führer erkannten, daß die Gefangenen als unschuldige, freundliche und wohlmeinende Männer ihren Feinden zum Raub gefallen waren. Statt sie in die Hauptstadt zu befördern, ließen sie sie frei. Glücklich eilten beide zu Fuß hinweg, kehrten zu Bahá’u’lláh zurück und fanden nahe bei Ihm im Größten Gefängnis eine Heimstatt.
45:5 Jamshíd verbrachte dort eine Zeit höchster Seligkeit, umgeben von Bahá’u’lláhs Gnade und Gunst, fast täglich in Seine Gegenwart vorgelassen. Er war ruhig und friedvoll. Die Gläubigen waren zufrieden mit ihm, und er war zufrieden mit Gott. In diesem Zustand hörte er das himmlische Gebot: „O du Seele, die du Ruhe gefunden hast. Kehre zurück zu deinem Herrn, wohlzufrieden mit Ihm und Ihm wohlgefällig.“1 Und auf Gottes Ruf: „Kehre zurück!“, antwortete er: „Ja, wahrlich!“ Er stieg aus dem Größten Gefängnis auf zum höchsten Himmel, er schwang sich aus dem Staub dieser Welt empor in ein reines, glänzendes Reich. Möge Gott ihm in der Himmlischen Heerschar beistehen2, ihn in das Paradies der Herrlichkeit führen und ihn auf göttlichen Auen ewig leben lassen.
45:6 Gruß und Preis seien ihm. Sein moschusduftendes Grab ist in ‚Akká.
1 Qur’án 89:27
2 Qur’án 4:71
46 [154] Hájí-Ja’far-i-Tabrízí und seine Brüder
46:1 Es waren drei Brüder aus Tabríz: Hájí Hasan, Hájí Ja’far und Hájí Taqí. Diese drei waren hochfliegenden Adlern gleich, drei Sterne des Glaubens, die das Licht der Liebe Gottes widerstrahlten.
46:2 Hájí Hasan war ein Gläubiger der ersten Stunde, vom ersten Aufdämmern des neuen Lichtes an, voll Eifer und Scharfsinn. Nach seiner Bekehrung reiste er überallhin durch die Städte und Dörfer Persiens; sein Odem belebte die Herzen sehnender Seelen. Dann brach er in den ‚Iráq auf und erreichte dort die Gegenwart des Geliebten während Dessen erster Reise. Sobald er dieses herrliche Licht erblickte, fand er sich in das Königreich des Strahlenglanzes entrückt, erglüht und gefangen in sehnsüchtiger Liebe. Da erhielt er den Auftrag, nach Persien zurückzukehren. Er war Hausierer und Kleinwarenhändler; so reiste er von Stadt zu Stadt.
46:3 Auf Bahá’u’lláhs zweiter Reise in den ‚Iráq verlangte es Hájí Hasan, Ihn wiederzusehen; in Baghdád sah er sich wiederum von Seiner Gegenwart geblendet. So oft er auch nach Persien reiste und zurückkehrte, seine Gedanken kreisten um das Lehren und die Förderung der Sache. Sein Geschäft geriet ins Hintertreffen. Diebe trugen seine Waren weg und befreiten ihn, wie er es ausdrückte, von seiner Last; er war ihrer ledig. Er mied jede weltliche Fessel und war wie von einem Magneten festgehalten, hoffnungslos, besinnungslos liebte er den zärtlichen Gefährten, den Vielgeliebten beider Welten. Überall wußte man um seine Verzückung; er erlebte außergewöhnliche Bewußtseinslagen. Manchmal lehrte er den Glauben mit größter Beredsamkeit, führte zum Beleg viele heilige Verse und Überlieferungen an und brachte klare Vernunftsbeweise vor. Dann bewunderten die Zuhörer seine Geisteskraft, seine Weisheit und Selbstbeherrschung. Es gab aber auch Zeiten, da die Liebe so plötzlich in ihm aufloderte, daß er keinen Augenblick mehr ruhig bleiben konnte. Dann hüpfte und tanzte er, mit lauter Stimme ließ er ein Dichterwort oder ein Lied erklingen. Am Ende seiner Tage wurde er ein enger Freund von Jináb-i-Muníb; die beiden tauschten manch tiefgründiges Geheimnis miteinander aus, und jeder trug zahllose Melodien in der Brust.
46:4 Auf seiner letzten Reise ging dieser Freund nach Ádhirbáyján. Dort rief er, jede Vorsicht in den Wind schlagend, laut den Größten Namen aus: „Yá Bahá’u’l-Abhá!“ Die Ungläubigen verständigten sich mit seinen Verwandten und lockten den unschuldigen, verzückten Mann in einen Garten. Hier stellten sie ihm zuerst Fragen und lauschten seinen Antworten. Er redete, erklärte die geheimen Wahrheiten des Glaubens und erbrachte schlüssige Beweise, daß das Kommen des Verheißenen wirklich eingetreten ist. Er sagte Verse aus dem Qur’án und den Überlieferungen auf, die vom Propheten Muhammad und den heiligen Imámen stammen. Darauf begann er in lodernder Liebe und sehnsüchtiger Begeisterung zu singen. Er sang eine Shahnáz-Weise auf Dichterworte des Inhalts, daß der Herr erschienen ist. Und sie töteten ihn, sie vergossen sein Blut. Sie zerrissen und zerhackten seine Glieder und verscharrten seinen Leichnam im Staub.
46:5 Der wohlgeborene Hájí Muhammad-Ja’far war wie sein Bruder von der Gesegneten Schönheit bezaubert. Im ‚Iráq trat er in die Gegenwart des Lichtes der Welt. Auch er fing Feuer an der göttlichen Liebe und war hingerissen von den sanften Winden Gottes. Wie sein Bruder war er Kleinwarenhändler, immer auf der Reise von einem Ort zum nächsten. Als Bahá’u’lláh Baghdád verließ und zur Hauptstadt des Isláms1 aufbrach, war Hájí Ja’far in Persien, und als sich die Gesegnete Schönheit und Sein Gefolge in Adrianopel niederließen, kamen Ja’far und sein Bruder Hájí Taqí von Ádhirbáyján dorthin. Sie fanden einen Schlupfwinkel und ließen sich nieder. Später streckten unsere Bedrücker vermessen die Hände aus, um Bahá’u’lláh weiter in das Größte Gefängnis zu schicken; sie verboten den Gläubigen, den wahrhaft Geliebten zu begleiten, denn sie hatten die Absicht, die Gesegnete Schönheit mit nur wenigen der Seinen in dieses Gefängnis zu bringen. Als Hájí Ja’far merkte, daß sie ihn aus der Gruppe der Verbannten ausgeschlossen hatten, nahm er ein Rasiermesser und schnitt sich die Kehle durch.2 Die Menschen waren bestürzt und erschreckt; die Obrigkeit erlaubte daraufhin allen Gläubigen, zusammen mit Bahá’u’lláh aufzubrechen – eine segensreiche Folge der Liebestat Ja’fars.
1 Konstantinopel
2 vgl. Gott geht vorüber, p.205
46:6 Sie nähten seine Wunde, aber niemand glaubte, daß er sich wieder erholen würde. Sie sagten ihm: „Du mußt jetzt erst einmal bleiben wo du bist. Wenn deine Kehle heilt, wirst du zusammen mit deinem Bruder nachgeschickt werden, sei dessen gewiß.“ Auch Bahá’u’lláh befahl, daß es so geschehe. So ließen wir Ja’far im Krankenhaus und brachen zum Gefängnis von ‚Akká auf. Zwei Monate später kamen er und Hájí Taqí in der Festung an und gesellten sich zu den anderen Gefangenen. Der glücklich errettete Hájí wuchs Tag für Tag an entflammter Liebe. Vom Abend bis zum Morgengrauen wachte er, sang Gebete, vergoß Tränen. Eines Nachts dann stürzte er vom Dach der Karawanserei und stieg auf in das Reich der Zeichen und Wunder.
46:7 Hájí Taqí, unter einem Glücksstern geboren, war in jeder Beziehung ein wahrer Bruder Hájí Ja’fars. Er war von der gleichen geistigen Art, aber ruhiger. Nach dem Tode Hájí Ja’fars blieb er ganz allein in einem Raum, die Ruhe selbst. Ordentlich und höflich saß er allein da, selbst die Nacht hindurch. Eines Nachts kletterte er auf das Dach, um Gebete zu singen. Am nächsten Morgen fand man ihn auf der Erde nahe der Mauer, die er hinabgefallen war. Er war bewußtlos; man konnte nicht sagen, ob es ein Unfall war oder ob er sich hinabgestürzt hatte. Als er zu sich kam, sagte er: „Ich war dieses Lebens müde und versuchte zu sterben. Keinen Augenblick länger möchte ich in dieser Welt verweilen. Betet, daß ich gehen darf.“
46:8 Das ist die Lebensgeschichte dieser drei Brüder. Alle drei waren zur Ruhe gekommene Seelen, alle drei waren wohlzufrieden mit ihrem Herrn und Ihm wohlgefällig.1 Sie waren entflammt, waren Gefangene des Glaubens, rein und heilig. Und deshalb stiegen sie auf, gelöst von der Welt, die Angesichter dem Höchsten Reiche zugewandt. Möge Gott im Reich der Vergebung sie in das Gewand Seiner Gnade hüllen und sie für ewig in die Fluten Seiner Barmherzigkeit tauchen. Gruß und Preis seien mit ihnen.
1 Qur’án 89:27-30
47 [158] Hájí Mírzá Muhammad-Taqí Afnán1
47:1 Zu den gerechten Seelen, die ein erleuchtetes Wesen besitzen und das Göttliche widerspiegeln, zählte Jináb-i-Muhammad-Taqí Afnán,1 Er führte den Titel Vakílu’d-Dawlih. Dieser hervorragende Zweig war ein Sproß des Heiligen Baumes; in ihm vereinte sich ein ausgezeichneter Charakter mit edler Abstammung. Seine Verwandtschaft war wirkliche Verwandtschaft. Er gehörte zu den Seelen, die nach dem ersten Lesen des Buches der Gewißheit Gläubige wurden, bezaubert von den süßen Düften Gottes, frohlockend beim Singen Seiner Verse. So groß war seine Erregung, daß er laut rief: „Herr, o Herr, hier bin ich!“ Freudig verließ er Persien und eilte in den ‚Iráq. Da er voll verlangender Liebe war, lief er ohne Rast und Ruhe über die Berge und durch die Wüsten, bis er Baghdád erreichte.
1 arabisch „Zweig“. bezeichnet die Verwandten des Báb
47:2 Er gelangte in Bahá’u’lláhs Gegenwart und fand Annahme in Seinen Augen. Welch heilige Begeisterung erfüllte ihn, welche Inbrunst, welche Loslösung von der Welt! Es ist unbeschreiblich. Sein gesegnetes Angesicht war so anmutig, so strahlend, daß die Freunde im ‚Iráq ihm einen Namen gaben, sie nannten ihn: „der Afnán voller Entzücken“. Fürwahr eine gesegnete Seele, ein verehrungswürdiger Mann! Vom ersten bis zum letzten Atemzug versäumte er niemals seine Pflicht. Als seine Tage begannen, bezauberten ihn die süßen Düfte Gottes, und als sie endeten, leistete er der Sache Gottes einen überragenden Dienst. Sein Leben war rechtschaffen, seine Rede angenehm, seine Taten würdig. Nie ließ er es an Dienstbarkeit, an Demut mangeln, und jedes größere Vorhaben nahm er mit lebhafter Freude auf. Sein ganzes Leben und Verhalten, sein Tun und Lassen, sein Umgang mit anderen – alles war ein Weg, den Glauben zu lehren, alles war Beispiel, den anderen zur Lehre.
47:3 Nachdem er in Baghdád die Ehre erlangt hatte, Bahá’u’lláh zu begegnen, kehrte er nach Persien zurück, wo er fortfuhr, mit beredter Zunge den Glauben zu lehren. Und so lehrt man: Mit beredter Zunge, mit flinker Feder, mit edlem Charakter, mit gefälligen Worten, mit redlichen Mitteln und Taten. Selbst Feinde bezeugten seine hochherzigen geistigen Tugenden und sagten: „Keiner läßt sich mit diesem Mann, seinen Worten und Taten, seiner Rechtschaffenheit, Vertrauenswürdigkeit und seinem festen Glauben vergleichen, in allem ist er einzigartig. Wie schade, daß er Bahá’i ist!“ Das heißt: „Wie schade, daß er nicht ist wie wir, verderbt, leichtsinnig, sündig und sinnlich, Sklaven unserer Leidenschaften!“ Gnädiger Gott! Mit eigenen Augen sahen sie, daß er in dem Augenblick, da er den Glauben kennenlernte, verwandelt war, daß er von der Welt gelöst war, daß er das Sonnenlicht der Wahrheit auszustrahlen begann. Und doch versäumten sie, aus seinem Beispiel Nutzen zu ziehen.
47:4 Während seiner Tage in Yazd ging er, nach außen hin, Handelsgeschäften nach; tatsächlich aber lehrte er den Glauben. Sein einziges Ziel war, das Wort Gottes zu erhöhen, sein einziger Wunsch, die göttlichen Düfte zu verbreiten, sein einziger Gedanke, den Gefilden des Herrn immer näher zu kommen. Kein Gedenken lag ihm auf den Lippen außer den Versen Gottes. Er war das verkörperte Wohlgefallen Bahá’u’lláhs, ein Dämmerort der Gnade des Größten Namens. Wiederholt äußerte Bahá’u’lláh Seinen Begleitern gegenüber, wie höchst zufrieden Er mit dem Afnán sei, und so war sich jeder sicher, daß der Afnán in der Zukunft eine besonders wichtige Aufgabe in Angriff nehmen werde.
47:5 Nach dem Hinscheiden Bahá’u’lláhs leistete der Afnán, treu und standhaft im Bündnis, noch größere Dienste als zuvor, trotz vieler Hindernisse und einer überwältigenden Last an Arbeit, trotz einer endlosen Vielzahl von Angelegenheiten, die alle seine Aufmerksamkeit erheischten. Er gab seine Bequemlichkeit, sein Geschäft, Hab und Gut, seine Besitzungen und Ländereien auf, eilte nach ‚Ishqábád und leitete die Errichtung des Mashriqu’l-Adhkárs in die Wege. Dies war ein sehr bedeutungsvoller Dienst, denn so wurde er der erste, der ein Bahá’í-Haus der Andacht erstellte, der erste Erbauer eines Hauses für die Einheit der Menschheit. Mit dem Beistand der Gläubigen in ‚Ishqábád errang er den Lorbeer. In ‚Ishqábád kannte er lange Zeit weder Rast noch Ruhe. Tag und Nacht spornte er die Gläubigen an. So steigerten auch sie ihre Anstrengungen und erbrachten Opfer weit über ihre Kraft; das Haus Gottes wuchs, und die Kunde davon verbreitete sich in Ost und West. Der Afnán gab seinen ganzen Besitz bis auf einen unbedeutenden Rest daran, dieses Gebäude zu errichten. So bringt man Opfer! Das ist wahrer Glaube!
47:6 Später reiste er ins Heilige Land und verbrachte seine Tage, heilig und rein, demütig zum Herrn flehend, nahe dem Ort, den die erwählten Engel umkreisen, im Schutze des Schreines des Báb. Allezeit hatte er Gottes Lob auf den Lippen, und mit Herz und Zunge sang er seine Gebete. Er war wunderbar geistig, eigenartig strahlend. Er ist eine der Seelen, die, bevor noch die Trommel dröhnt: „Bin Ich nicht euer Herr?“ zurücktrommelt: „Ja, wahrlich, Du bist es!“1 In der ‚Iráq-Zeit2 war es, in den siebziger und achtziger Jahren der Hijra, daß er zum ersten Mal Feuer fing, das Licht der Welt liebte, in Bahá’u’lláh die aufgehende Herrlichkeit erkannte, und die Erfüllung der Worte bezeugte: „Ich bin Der, welcher im Abhá-Reiche der Herrlichkeit wohnt.“
1 Qur’án 7:171
2 Bahá’u’lláh verbrachte die Zeit zwischen 1269 und 1279 n.d.H. (1853 bis 1863 n.Chr.) im ‚Iráq
47:7 Der Afnán war ein ungewöhnlich glücklicher Mensch. Wann immer ich traurig war, ging ich zu ihm, und sofort kehrte die Freude zurück. Preis sei Gott! Nahe dem Schrein des Báb eilte er schließlich zurück in das Reich Abhá; sein Verlust betrübte ‚Abdu’l-Bahá tief.
47:8 Sein leuchtendes Grab ist in Haifa, neben dem Haziratu’l-Quds, nahe der Höhle des Elias. Ein Grabmal muß dort errichtet werden, fest und schön gebaut. Möge Gott über seine Ruhestätte Licht aus dem Paradies der Herrlichkeit verbreiten und diesen heiligen Staub in den Regenschauern baden, die aus der Verborgenheit des Erhabenen Gefährten strömen. Auf ihm sei die Herrlichkeit des Allherrlichen.
48 [162] Abdu’lláh Baghdádí
48:1 In seiner frühen Jugend wurde ‚Abdu’lláh Baghdádí von den Leuten für einen Wüstling gehalten, der nur dem Vergnügen lebte. Alle sahen in ihm den Spielball maßloser Begierden, von leiblichen Genüssen in den Schmutz gezogen. Kaum jedoch hatte er den Glauben angenommen, da trugen ihn die süßen Düfte Gottes fort und er war wie neu erschaffen. Er sah sich seltsam verzückt und vollkommen verändert. Er hatte der Welt angehört, jetzt gehörte er dem Himmel an, er hatte im Fleisch gelebt, jetzt lebte er im Geiste, er war in der Finsternis gewandelt, jetzt wandelte er im Licht. Er war Sklave seiner Sinne gewesen, jetzt war er ein Knecht Gottes. Vorher war er Lehm und Staub gewesen, jetzt war er eine erlesene Perle; war er früher ein matter, glanzloser Stein, so war er jetzt ein glühender Rubin.
48:2 Selbst unter den Nichtgläubigen wunderte man sich über diese Veränderung. Was war wohl über diesen Jüngling gekommen, fragte man sich, was hatte bewirkt, daß er plötzlich von der Welt gelöst war, voll Eifer und Hingabe? „Er war befleckt und verdorben“, sagten sie, „nun ist er maßvoll und keusch. Er war seinen Gelüsten verfallen, aber jetzt ist er eine reine Seele und führt ein ehrsames Leben. Er hat die Welt hinter sich gelassen. Er hat die Schwelgerei abgebrochen, die Prasser von sich gewiesen, das Tischtuch des Festmahls zusammengefaltet. Die Liebe hält seinen Geist in ihrem Bann.“
48:3 Kurz, ergab seine Vergnügungen und Besitztümer auf und reiste zu Fuß nach ‚Akká. Sein Angesicht war so strahlend geworden, sein Wesen so erleuchtet, daß es eine Freude war, ihn anzuschauen. Ich fragte oft: „Áqá ‚Abdu’lláh, in welchem Zustand bist du?“ Und er erwiderte: „Ich war in der Finsternis, jetzt, durch die Gnade der Gesegneten Schönheit, bin ich im Licht. Ich war ein Staubhaufen, Er hat mich in ein fruchtbares Feld verwandelt. Ich war in ständiger Bedrängnis, jetzt habe ich Frieden. Ich liebte meine Ketten, Er hat sie gebrochen. Mich gelüstete nach diesem und jenem, jetzt halte ich mich an den Herrn. Ich war ein Vogel im Käfig, Er hat mich herausgelassen. Heute lebe ich in der Wüste und habe die bloße Erde zum Bett und Kissen, doch sie fühlt sich an wie Seide. Früher war meine Decke aus Satin, aber meine Seele lag auf der Folter. Jetzt bin ich unbehaust, aber glücklich.“
48:4 Doch dieses glühende Herz brach, als es sah, wie Bahá’u’lláh gequält wurde und mit welcher Geduld Er dies ertrug. ‚Abdu’lláh sehnte sich danach, für Ihn zu sterben. Und so kam es, daß er sein Leben für seinen sanften Gefährten gab und aus dieser dunklen Welt ins Land des Lichtes eilte. Sein leuchtendes Grab ist in ‚Akká. Die Herrlichkeit des Allherrlichen sei mit ihm, und mit ihm sei Erbarmen aus der Gnade Gottes.
49 [164] Muhammad-Mustafá Baghdádí
49:1 Muhammad-Mustafá war wie ein loderndes Licht. Als Sohn des berühmten Gelehrten Shaykh Muhammad-i-Shibl lebte er im ‚Iráq und war schon in frühester Jugend ein einzigartiger, unvergleichlicher Mensch: Man kannte ihn nah und fern als klug, tapfer, in jeder Hinsicht verdienstvoll. In seines Vaters Obhut hatte er schon als Kind in der Kapelle seines Herzens das Licht des Glaubens entfacht, hatte sich von den hemmenden Schleiern der Einbildung befreit, offenen Auges um sich geblickt, Gottes großartige neue Zeichen bezeugt und, ohne an die Folgen zu denken, laut ausgerufen: „Die Erde ist erleuchtet vom Lichte ihres Herrn.“1
1 Qur’án 39:69
49:2 Gnädiger Gott! Der Widerstand war damals erbittert, die Strafe hart, ängstlich verbargen alle Freunde ihren Glauben im hintersten Winkel. In solcher Zeit ging dieser unerschrockene Mann seinem Beruf nach, stellte sich mannhaft jedem Tyrannen. Im Jahr siebzig1 war im ‚Iráq einzig dieser geachtete Mann für seine Liebe zu Bahá’u’lláh bekannt. Einige andere Gläubige, die in und um Baghdád lebten, verkrochen sich in Schlupfwinkeln und Verstecken und verharrten dort wie gelähmt. Der bewundernswerte Muhammad-Mustafá hingegen kam und ging wie ein rechter Mann, kühn, stolz und aufrecht; wegen seiner Körperkräfte und seines Mutes wagten die Feinde nicht, ihn anzugreifen.
1 1270 n.d.H. = 1853/54 n.Chr.
49:3 Nach Bahá’u’lláhs Rückkehr aus Kurdistán wuchsen Mut und Manneskraft dieses Helden nur noch mehr. Sooft es ihm die Zeit erlaubte, wartete er Bahá’u’lláh auf, von Seinen Lippen hörte er Worte der Gunst und Gnade. Er war der Führer der Freunde im ‚Iráq, und nach der großen Trennung, als die Karawane des Geliebten nach Konstantinopel abgereist war, blieb er treu und standhaft, fest gegenüber den Feinden. Er rüstete sich zum Dienst an der Sache Gottes und lehrte den Glauben in aller Öffentlichkeit, vor aller Augen.
49:4 Kaum war Bahá’u’lláhs Erklärung als „Der, Den Gott offenbaren wird“1, weit und breit bekanntgeworden, da rief Muhammad-Mustafá aus: „Wahrlich, wir glauben!“, war er doch unter den Seelen, die schon vor der Erklärung, bevor dieser Ruf ergangen war, zu den Gläubigen zählten. Denn schon vor dieser Erklärung war das Licht durch die Schleier gedrungen, welche die Weltmenschen abhielten, so daß jedes sehende Auge den Glanz wahrnahm und jede sehnsüchtige Seele den Vielgeliebten schauen konnte.
1 der Verheißene des Báb
49:5 Mit all seiner Kraft erhob sich Muhammad Mustafá zum Dienst an der Sache Gottes. Weder am Tage noch bei Nacht gönnte er sich Ruhe. Als die Altehrwürdige Schönheit zum Größten Gefängnis weiterreiste, als die Freunde in Baghdád gefangengesetzt und nach Mosul abgeschoben wurden, als Gegner von Rang und Namen und die Baghdáder Bevölkerung dem Glauben feindselig entgegentraten, da schwankte er keineswegs, sondern blieb fest wie eh und je. So ging es lange Zeit. Aber die Sehnsucht nach Bahá’u’lláh verzehrte sein Herz, so daß er sich ganz allein auf den Weg ins Größte Gefängnis machte. Dort kam er in der Zeit der strengsten Beschränkungen an und hatte doch die Ehre, in Bahá’u’lláhs Gegenwart zu treten.
49:6 Daraufhin bat er um die Erlaubnis, in der Nähe von ‚Akká eine Bleibe zu suchen. Er durfte in Beirut wohnen. Dort diente er treu der Sache Gottes und half den Pilgern bei ihrer Hin- und Rückreise. Er war ein hervorragender Diener der Sache, ein großmütiger, gütiger Gastgeber, der sich aufopferungsvoll für die Durchreisenden einsetzte. Überall wurde er dafür bekannt.
49:7 Als die Sonne der Wahrheit untergegangen, das Licht der höchsten Heerscharen himmelan gestiegen war, blieb Muhammad-Mustafá dem Bündnis treu. Den Wankelmütigen trat er so fest entgegen, daß sie kaum zu atmen wagten. Er war wie eine Sternschnuppe, als Geschoß gegen die Dämonen geschleudert,1 ein rächendes Schwert gegen die Bündnisbrecher. Kein Bündnisbrecher traute sich, durch die Straße zu gehen, in der er wohnte, und wenn sie ihn zufällig trafen, waren sie – wie im Qur’án geschrieben steht, „taub, stumm und blind. Aus diesem Grunde können sie ihre Schritte vom Irrtum nicht zurückhalten.“2 So war er die Verkörperung des Spruches: „Der Tadel des Tadlers wird ihn nicht vom Pfade Gottes abbringen, so wenig ihn die furchtbare Macht des Verleumders erschüttern wird.“
1 Islámische Legende: Der Teufel ist der „Gesteinigte“, wobei Sternschnuppen Steine sind, mit denen die Engel die Dämonen aus dem Paradies vertreiben. Qur’án 3:31, 15:17, 34, 37:7, 67:52 Qur’án 2:17
49:8 Seine Lebensweise hatte sich nicht geändert: Er diente den Gläubigen mit freiem Geist in reiner Absicht. Aus ganzer Seele half er den ins Heilige Land Pilgernden, die gekommen waren, jene Stätte zu umschreiten, die von den höchsten Heerscharen umgeben ist. Später übersiedelte er von Beirut nach Iskandarún, wo er einige Zeit lebte, bis er – wie ein Magnet vom Herrn angezogen, von allem außer Ihm gelöst, über Seine frohen Botschaften jubelnd, an das Seil geklammert, das keiner zerreißen kann – auf den Schwingen des Geistes zu seinem erhabenen Gefährten emporstieg.
49:9 Möge Gott ihn zu den Scharen der Herrlichkeit in den höchsten Himmel erheben.1 Möge Gott ihn in das Land des Lichtes führen, in das geheimnisvolle Reich, zur Lichtschar des gewaltigen, allmächtigen Herrn. Mit ihm sei die Herrlichkeit des Allherrlichen.
1 Qur’án 4:71
50 [168] Sulaymán Khan-i-Tunukábání
50:1 Sulaymán Khán war ein Auswanderer und Siedler, dem der Titel Jamáli’d-Dín verliehen worden war. Er war als Sproß einer alteingesessenen Familie in Tunukábán geboren. Wohlstand war ihm in die Wiege gelegt, Behaglichkeit und ein Leben in Luxus genoß er von früh auf. Bereits in früher Kindheit strebte er hohe, edle Ziele an; er verkörperte Ehre und hehres Trachten. Anfangs plante er, alle Altersgenossen zu überflügeln und eine hohe Stellung zu erreichen. Dazu verließ er seine Heimatstadt und ging in die Hauptstadt Tihrán. Dort hoffte er, ein Führer zu werden und seine Zeitgenossen zu übertreffen.
50:2 In Tihrán jedoch wehte ihm der Hauch Gottes über den Weg; er hörte auf den Ruf des Vielgeliebten. Das heilte ihn vom unnützen Streben nach einer hohen Stellung, von all dem Lärm und Geschwätz, dem falschen Ruhm, Pomp und Prunk, von der Welt, dieser Handvoll Staub. Er warf die Ketten ab und fand durch Gottes Gnade Frieden. Der Ehrenplatz war für ihn jetzt dort, wo man die Schuhe vor der Türe ließ, ein hohes Amt war ihm verlorene Liebesmüh. Von den Makeln des Lebens war er gereinigt, sein Herz war befriedet, denn die Fesseln, die ihn an das Erdenleben banden, hatte er gesprengt.
50:3 So legte er das Pilgerkleid an, machte sich auf, seinen Geliebten zu finden, und erreichte das Größte Gefängnis. Dort verweilte er eine Zeitlang unter dem Schutze der Altehrwürdigen Schönheit; ihm wurde die Ehre zuteil, in Bahá’u’lláhs Gegenwart zu treten und den bedeutungsvollen Lehren von Seinen heiligen Lippen zu lauschen. Als er den süßen Duft eingeatmet hatte, als seine Augen erleuchtet, seine Ohren auf die Worte des Herrn eingestimmt waren, wurde ihm gestattet, eine Reise nach Indien anzutreten, mit dem Auftrag, dort die echten Wahrheitssucher zu lehren.
50:4 Das Herz auf Gott gerichtet, voll Liebe zu den süßen Düften Gottes und entflammt von der Liebe zu Gott, zog er nach Indien. Dort wanderte er umher, und jedesmal, wenn er in eine Stadt kam, erhob er den Ruf des Königreiches Gottes und übermittelte die frohe Botschaft, daß der Sprecher des Berges gekommen ist. So wurde er einer der Ackerknechte Gottes, die den heiligen Samen der Lehren säen. Seine Saat ging auf, eine beträchtliche Zahl von Menschen fand durch ihn den Weg zur Arche der Erlösung. Das Licht göttlicher Führung ergoß sich über diese Seelen, ihre Augen wurden durch die Schau der mächtigen Zeichen Gottes erleuchtet. Bei jeder Versammlung war er der Brennpunkt und der Ehrengast. Bis auf den heutigen Tag sind in Indien die Ergebnisse seiner glückhaften Gegenwart deutlich, und diejenigen, die er lehrte, bringen nun ihrerseits andere Menschen zum Glauben.
50:5 Von seiner Indienreise kehrte Sulaymán Khán zu Bahá’u’lláh zurück, aber er kam nach Bahá’u’lláhs Heimgang an. Fortwährend vergoß er nun Tränen, sein Herz war voll Trauer. Aber er blieb treu im Bündnis, denn er hatte im Himmelreich Wurzeln geschlagen.
50:6 Kurz vor Seinem Hinscheiden hatte Bahá’u’lláh gesagt: „Falls jemand nach Persien kommt und die Möglichkeit dazu hat, muß folgende Botschaft Amínu’s-Sultán1 übermittelt werden: „Sie haben Maßnahmen ergriffen, den Gefangenen zu helfen; Sie haben ihnen großzügig einen Dienst erwiesen. Das wird Ihnen nicht vergessen werden. Seien Sie versichert, daß Ihnen dies zur Ehre gereichen und Segen für alle Ihre Angelegenheiten bringen wird. O Amínu’s-Sultán! Jedes hochragende Haus wird einmal in Trümmer fallen; nur das Haus Gottes wird Tag für Tag fester werden und besser geschützt. So dienen Sie denn am Hofe Gottes nach besten Kräften, damit Sie den Weg zu einer himmlischen Wohnstatt entdecken und den Grund zu einem Bauwerk legen, das ewig erhalten bleibt.“ Nach dem Hinscheiden Bahá’u’lláhs wurde Amínu’s-Sultán diese Botschaft übermittelt.
1 der damalige Premierminister
50:7 Türkische Geistliche hatten in Ádhirbáyján Áqá Siyyid Asadu’lláh aufgelauert, ihn bis Ardabíl gejagt und sich verschworen, sein Blut zu vergießen. Der Gouverneur konnte ihn durch eine List davor retten, daß er gemartert und dann ermordet wurde. Er schickte Asadu’lláh in Ketten nach Tabríz und ließ ihn von dort nach Tihrán bringen. Amínu’s-Sultán kam dem Gefangenen zu Hilfe und gewährte Asadu’lláh in seiner eigenen Amtswohnung Zuflucht. Eines Tages, als der Premierminister krank war, kam Nasiri’d-Dín Sháh ihn besuchen. Der Minister erläuterte ihm die Situation und spendete seinem Gefangenen so hohes Lob, daß der Sháh beim Abschied Asadu’lláh große Freundlichkeit erwies und Worte des Trostes fand. In früheren Jahren wäre der Gefangene sofort zum Richtplatz geführt und erschossen worden.
50:8 Einige Zeit später verlor Amínu’s-Sultán die Gunst des Herrschers. Verhaßt und in Ungnade gefallen, wurde er nach der Stadt Qum verbannt. Daraufhin sandte dieser Diener Sulaymán Khán nach Persien, um ein Gebet und eine Botschaft zu übermitteln. In dem Gebet wurden Gottes Hilfe, Gnade und Beistand für den verstoßenen Minister erfleht, damit er aus dem Winkel des Vergessens zurückgerufen werde und die verlorene Gunst wiedererlange. In dem Brief war deutlich zu lesen: „Bereiten Sie sich vor, nach Tihrán zurückzukehren. Bald wird Gott helfen, und das Licht der Gnade wird wieder auf Sie scheinen, mit allen Vollmachten ausgestattet werden Sie sich befreit sehen und wieder Premierminister sein. Dies ist Ihr Lohn für die Mühe, die Sie an einen Unterdrückten gewendet haben.“ Brief und Gebet befinden sich heute im Besitz der Familie Amínu’s-Sultáns.
50:9 Von Tihrán aus reiste Sulaymán Khán nach Qum, wo er wie angewiesen in einer Zelle am Schrein der Reinen wohnte.1 Die Verwandten Amínu’s-Sultáns kamen den Schrein besuchen. Sulaymán Khán fragte nach dem gestürzten Minister und drückte den Wunsch aus, ihn zu treffen. Als der Minister davon hörte, ließ er Sulaymán Khán zu sich bitten. Dieser setzte sein ganzes Vertrauen in Gott und eilte in das Haus des Ministers. Dort begegnete er ihm unter vier Augen und überreichte ihm den Brief ‚Abdu’l-Bahás. Der Minister erhob sich und nahm den Brief mit äußerster Hochachtung entgegen. Er wandte sich an den Khán und sprach: „Ich hatte die Hoffnung aufgegeben. Wenn mein Verlangen erfüllt wird, will ich mich zum Dienst erheben. Ich werde die Freunde Gottes schützen und unterstützen.“ Dann brachte er seine tiefe Dankbarkeit und Freude zum Ausdruck und fügte hinzu: „Gott sei gepriesen, ich schöpfe wieder Hoffnung. Durch Seine Hilfe, so spüre ich, wird sich mein Traum erfüllen.“
1 Qum ist die Stadt mit dem Schrein von Fátimih, der „Reinen“, einer Schwester des 8. Imáms, Imám Ridá, die hier 816 n.Chr. beerdigt wurde.
50:10 Kurz gesagt, der Minister versprach, den Freunden zu dienen, und Sulaymán Khán nahm Abschied. Der Minister wollte ihm eine Summe Geldes zur Deckung seiner Reisekosten geben, aber Sulaymán Khán schlug das Geld aus; und obwohl ihn der Minister sehr bedrängte, nahm er nichts an. Der Khán war noch nicht ins Heilige Land zurückgekehrt, als Amínu’s-Sultán aus dem Exil zurückgerufen und sofort wieder als Premierminister eingesetzt wurde. Er nahm die Berufung an und waltete voll seines Amtes. Zunächst unterstützte er auch wirklich die Gläubigen, wurde aber am Ende im Falle der Märtyrer von Yazd nachlässig. Diese Märtyrer unterstützte oder beschützte er in keiner Weise; er verschloß sich ihren wiederholten Gesuchen, bis sie alle getötet wurden. So wurde auch er abgesetzt, ein gebrochener Mann. Dieses Banner, das so stolz geweht hatte, wurde eingeholt, dieses Herz voller Hoffnung verzweifelte.
50:11 Sulaymán Khán lebte weiter im Heiligen Land, in der Nähe des Schreines, den die Höchste Versammlung umkreist. Mit den Gläubigen pflegte er Gemeinschaft bis zum Tage unausweichlichen Todes, bis er zum Palaste Dessen aufbrach, der ewig lebt und niemals stirbt. Der Welt, dieser Handvoll Staub, wandte er den Rücken und eilte in das Land des Lichtes. Aus dem Käfig zufälligen Seins brach er aus und betrat das Reich des Unendlichen, des Raumlosen. Möge Gott ihn in die Wasser Seiner Gnade tauchen, Seine Vergebung auf ihn herabströmen und ihn die Wunder grenzenloser Gnade erfahren lassen. Gruß und Lobpreis seien mit ihm!
51 [173] Abdu’r-Rahmán, der Kupferschmied
51:1 Er war ein geduldiger, langmütiger Mann, der aus Káshán stammte, einer der allerersten Gläubigen. Als er den Kelch der Gottesliebe leerte, mit eigenen Augen die himmlische Tafel vor sich ausgebreitet sah und seinen Glauben, seinen Anteil an der unendlichen Gnade empfing, da war er noch ein bartloser Jüngling.
51:2 Kurz darauf verließ er sein Heim und machte sich auf in den Rosengarten zu Bagdád, wo ihm die Ehre zuteil wurde, in Bahá’u’lláhs Gegenwart zu treten. Einige Zeit blieb er im ‚Iráq und erlangte die Krone unendlicher Gunst. Er durfte zu Bahá’u’lláh gehen und durfte Ihn so manches Mal zu Fuß an den Schrein der beiden Kázám begleiten – eine große Freude für ‚Abdu’r-Rahmán.
51:3 ‚Abdu’r-Rahmán war unter den Gefangenen, die nach Mosul verbannt wurden. Später schleppte er sich geradezu in die Festung ‚Akká. Dort lebte er im Segen Bahá’u’lláhs. Er betrieb ein kleines Geschäft, ganz unbedeutend, aber ihm war es recht, er war glücklich und zufrieden. So beschritt er den Pfad der Rechtschaffenheit bis zu seinem 80. Lebensjahre, um dann in heiterer Gelassenheit zur Schwelle Gottes aufzusteigen. Dort möge ihn Gott mit Seinem gnädigen Erbarmen umfangen und ihn in das Gewand der Vergebung hüllen. Sein lichtvolles Grab ist in ‚Akká.
52 [174] Muhammad-Ibráhím-i-Tabrízí
52:1 Dieser edle, großmütige Mann war der Sohn des angesehenen ‚Abdu’l-Fattáh, der in ‚Akká eingekerkert war. Als er hörte, daß sein Vater dort gefangensaß, kam er in höchster Eile zu der Festung, um an den schweren Leiden teilzuhaben. Ihn zeichneten Weisheit und Verständnis aus; vom Wein der Liebe Gottes war er zutiefst erregt, aber doch in einer wundersamen Grundstimmung heiterer Gelassenheit.
52:2 Er hatte den Charakter seines Vaters geerbt und war ein Beispiel für das Sprichwort, daß das Kind das geheime Wesen seines Vaters ist. Aus diesem Grunde genoß er in der Nähe der Göttlichen Gegenwart lange Zeit vollkommenen Frieden. Tagsüber betrieb er sein Geschäft, um dann abends zur Türe des Hauses zu eilen, wo er mit den Freunden zusammensein konnte. Er war allen nahe, die treu und standhaft waren, er selbst war mutig, dankbar gegen Gott, genügsam und keusch; er hoffte auf die barmherzige Gnade des Herrn und vertraute auf Ihn. Er brachte die Lampe seines Vaters zum Leuchten, erhellte den Haushalt ‚Abdu’l-Fattáhs und hinterließ Nachkommen in dieser rasch dahineilenden Welt.
52:3 Stets tat er für das Glück der Gläubigen, was ihm möglich war, und trug immer zu ihrem Wohle bei, klug, würdevoll, standhaft. Bis zu seinem Lebensende blieb er durch Gottes Gnade treu und fest im Glauben. Möge ihm Gott aus dem Kelch der Vergebung zu trinken geben, möge er vom Quell göttlichen Segens und Wohlgefallens kosten und möge Gott ihn zu den Höhen himmlischer Gnadengaben emporheben. Sein duftendes Grab ist in ‚Akká.
53 [176] Muhammad-Alíy-i-Ardikání
53:1 In der Blüte seiner Jugend hörte Muhammad-‚Alí, der Erleuchtete, den Ruf Gottes und verlor sein Herz an die himmlische Gnade. Er trat in die Dienste des Afnán, des Zweigs am Heiligen Baume, und lebte glücklich und zufrieden. So kam er nach ‚Akká, wo er einige Zeit an der Heiligen Schwelle weilte und wo er die Krone ewigen Ruhmes erwarb. Das Auge der Gunst und Gnade Bahá’u’lláhs wachte über ihm. Er diente mit treuem Herzen, hatte eine fröhliche Wesensart und ein hübsches Gesicht. Er war ein gläubiger Sucher, in Prüfungen erstarkt.
53:2 Zu Lebzeiten Bahá’u’lláhs blieb Muhammad-‚Alí standhaft; auch nach der Größten Heimsuchung wurde er nicht wankelmütig, denn er hatte den Wein des Bundes getrunken, und seine Gedanken waren auf Gottes Gaben gerichtet. So übersiedelte er nach Haifa und lebte in unerschütterlichem Glauben im Huzíratu’l-Quds am Heiligen Schrein auf dem Berge Karmel, bis er den letzten Atemzug tat, bis der Tod den Teppich seines Erdenlebens zusammenrollte und forttrug.
53:3 Muhammad-‚Alí war der erhabenen Schwelle ein aufrichtiger Diener, den Gläubigen ein guter Freund. Alle waren mit ihm zufrieden, alle schätzten ihn als einen sanften, angenehmen Gefährten. Möge Gott ihm beistehen in Seinem erhabenen Königreich, möge Er ihn beherbergen im Reiche Abhá und ihm überströmende Gnade schenken aus den himmlischen Gärten, dem Orte der Versammlung, der Stätte der mystischen Schau Gottes. Sein nach Ambra duftender Staub ruht in Haifa.
54 [178] Hájí-Áqáy-i-Tabrízí
54:1 Dieser vergeistigte Mann aus Tabríz hatte schon in seiner Jugend mystische Erkenntnisse. Er hatte den berauschenden Wein Gottes getrunken und blieb auch dann im Glauben fest, als er im Alter hilflos wurde.
54:2 Einige Zeit lebte er in Ádhirbáyján in trunkener Liebe zum Herrn. Als die Menschen allenthalben erfuhren, daß er Gottes Namen trug, zerstörten sie sein Leben. Seine Verwandten und Freunde wandten sich gegen ihn und fanden täglich einen neuen Vorwand, ihn herumzuhetzen. Schließlich löste er seine Wohnung auf und floh mit seiner Familie nach Adrianopel. Er kam dort an, als die Zeit in Adrianopel zu Ende ging, und wurde von den Unterdrückern gefangengenommen.
54:3 Mit uns heimatlosen Wanderern, in der Obhut der Altehrwürdigen Schönheit, kam er zum Größten Gefängnis. Er war ein vertrauter Gefährte, der demütig und ausdauernd mit uns Trübsale und Qualen erduldete. Später, als die Beschränkungen etwas gelockert wurden, trieb er Handel und lebte durch Bahá’u’lláhs Gabenfülle behaglich und zufrieden. Aber sein Körper war von den früheren Entbehrungen und all den Leiden geschwächt, seine Kraft hatte abgenommen, so daß er schließlich krank wurde, ohne Hoffnung auf Heilung. Nicht weit von Bahá’u’lláh, unter Seinem Schutz und Schirm, eilte er aus dieser geringen Welt zu den hohen Himmeln, von dieser dunklen Stätte in das Reich des Lichts. Möge Gott ihn in die Paradiesgärten leiten und ihn dort auf ewig sicher bewahren. Sein reiner Staub ruht in ‚Akká.
55 [180] Qulám-Alíy-i-Najjár
56:1 Dieser Zimmermann und Handwerksmeister kam aus Káshán. Was Glauben und Gewißheit anging, glich er einem gezogenen Schwert. In seiner Heimatstadt war er als rechtschaffen, zuverlässig und vertrauenswürdig bekannt, denn er war von edler Gesinnung, maßvoll und keusch. Als er den Glauben annahm, war sein brennendes Verlangen, Bahá’u’lláh zu sehen, nicht mehr zu stillen. Von der Liebe freudig erfüllt, verließ er das Land Káf1 und reiste in den ‚Iráq, wo er den Glanz der aufgehenden Sonne schaute.
55:2 Er war sanftmütig, geduldig, still und lebte meist zurückgezogen. In Baghdád ging er seinem Handwerk nach, hatte Verbindung mit den Freunden und schöpfte Kraft aus der Gegenwart Bahá’u’lláhs. Eine Zeitlang lebte er in höchstem Glück und Frieden. Dann wurden die zuvor Verhafteten nach Mosul geschickt. Qulám-‚Alí war unter den Opfern und wie die anderen den Unterdrückern und ihrer Wut ausgesetzt. Lange Zeit blieb er in Gefangenschaft. Als er freikam, wanderte er nach ‚Akká. Auch hier war er ein Freund der Gefangenen und betrieb in der Festung weiterhin sein Handwerk. Wie bisher neigte er zur Einsamkeit, hielt sich abseits von Freunden und Fremden gleichermaßen und lebte die meiste Zeit allein.
1 Káshán
55:3 Dann kam die schwerste Prüfung, die große Trübsal über uns. Qulám-‚Alí übernahm die Schreinerarbeiten für das Heilige Grab. Er bot all seine Kräfte auf. Bis heute ist das Glasdach über dem Innenhof von Bahá’u’lláhs Schrein als eine Frucht seiner Geschicklichkeit erhalten geblieben. Er war ein Mann mit kristallklarem Herzen. Sein Antlitz leuchtete, sein inneres Wesen war fest, niemals war er unbeständig oder wankelmütig. Bis zum letzten Atemzug war er unerschütterlich, liebevoll und treu.
55:4 Nach einigen Jahren in unserer Nähe stieg er auf zur Nähe der alles umfassenden Gnade Gottes und wurde zum Freund derer, die in den hohen Himmeln wohnen. Er hatte die Ehre, Bahá’u’lláh in beiden Welten zu begegnen. Dies ist die wertvollste Gabe, das kostbarste aller Geschenke. Ihm seien Lobpreis und Ehre. Sein leuchtendes Grab ist in ‚Akká.
56 [182] Jináb-i-Muníb, auf ihm ruhe die Herrlichkeit des Allherrlichen
56:1 Er hieß Mírzá Áqá und kam aus Káshán. Er war reiner Geist. In den Tagen des Báb wurde er von Gottes süßen Düften angezogen; so fing er Feuer. Er war ein edler Jüngling, stattlich, voll Charme und Grazie, unübertrefflich in der Schönschreibekunst; außerdem dichtete er und sang auffallend schön. Er war klug, von rascher Auffassung, standhaft im Glauben Gottes, eine Flamme der Liebe Gottes, gelöst von allem außer Gott.
56:2 Als Bahá’u’lláh im ‚Iráq lebte, verließ Jináb-i-Muníb Káshán und eilte in Seine Gegenwart. In einem kleinen, bescheidenen Haus richtete er sich ein und fand kaum sein Auskommen. So machte er sich daran, die Worte Gottes abzuschreiben. Die Gnadengaben der Manifestation Gottes waren ihm von der Stirn zu lesen. Alles, was er in dieser sterblichen Welt besaß, war eine Tochter, und sogar sie hatte er in Persien zurückgelassen, als er in den ‚Iráq geeilt war.
56:3 Als Bahá’u’lláh und Sein Gefolge mit großem Gepränge von Baghdád abreisten, war Jináb-i-Muníb zu Fuß dabei. In Persien war er für sein unbeschwertes, angenehmes Leben, seine Neigung zum Vergnügen bekannt gewesen; auch galt er als weich, kränklich und eigensinnig. Man kann sich vorstellen, was ein solcher Mensch ertrug, als er zu Fuß von Baghdád nach Konstantinopel ging. Trotzdem maß er froh die öden Meilen, Tag und Nacht sang er Gebete und hielt vertraute Zwiesprache mit Gott.
56:4 Auf dieser Reise war er mein vertrauter Gefährte. Manche Nacht gingen wir an den beiden Seiten von Bahá’u’lláhs Howdah1; die Freude, die wir dabei empfanden, ist unbeschreiblich. Manchmal sang er Gedichte, auch Oden von Háfíz, wie die mit dem Anfang: „Kommt, laßt uns verstreuen diese Rosen, und vergießen diesen Wein“2, oder diese:
1 Überdachter Sitz auf einem Elefanten, Kamel, Pferd oder Maultier.
2 Der Rest des Verses lautet: „Laßt uns das Dach des Himmels spalten und einen neuen Plan entwerfen.!“
56:5 „Vor unserem Kaiser beugen wir das Knie,
Könige sind wir des Morgensterns.
Wir wechseln unsere Farben nicht Hochrote Löwen, schwarze Drachen sind wir!“
56:6 Als die Gesegnete Schönheit aus Konstantinopel weiterzog, wies Er Jináb-i-Muníb an, nach Persien zurückzukehren und den Glauben zu verkünden. So ging er dorthin zurück und leistete geraume Zeit hervorragende Dienste, besonders in Tihrán. Dann kam er von Persien wieder nach Adrianopel und gelangte in die Gegenwart Bahá’u’lláhs. Er genoß das Vorrecht, Bahá’u’lláh aufwarten zu dürfen. Als die größte Katastrophe eintrat, die Verbannung nach ‚Akká, wurde auch er auf dem Pfade Gottes zum Gefangenen und reiste, nunmehr schwach und krank, in Bahá’u’lláhs Gefolge.
56:7 Er war von einem schweren Leiden befallen und dadurch erbarmungswürdig schwach. Trotzdem weigerte er sich, in Adrianopel zurückzubleiben, um behandelt zu werden, denn er wollte sein Leben opfern und vor den Füßen seines Herrn fallen. Als wir auf unserem Weg zum Meer gelangten, war er so schwach, daß drei Mann ihn aufheben und ins Schiff tragen mußten. An Bord verschlimmerte sich sein Zustand derart, daß der Kapitän ihn vom Schiff schaffen wollte. Auf unser ständiges Flehen wartete er, bis wir nach Smyrna kamen. Dort sagte er zu dem uns begleitenden Regierungsvertreter, Oberst Umar Bayk: „Wenn Sie diesen Mann nicht an Land bringen, werde ich es mit Gewalt tun, denn das Schiff nimmt keinen Passagier in diesem Zustand auf.“
56:8 So waren wir gezwungen, Jináb-i-Muníb ins Krankenhaus von Smyma zu bringen. Schwach wie er war, unfähig, auch nur ein Wort hervorzubringen, schleppte er sich zu Bahá’u’lláh, warf sich Ihm zu Füßen und weinte. Auch auf Bahá’u’lláhs Antlitz stand großer Schmerz.
56:9 Wir trugen Jináb-i-Muníb ins Krankenhaus, aber die Beamten ließen uns nur eine Stunde Zeit. Deshalb legten wir ihn auf das Krankenlager, betteten sein edles Haupt auf das Kissen, umarmten ihn und küßten ihn vielmals. Dann trieben sie uns weg. Man kann sich vorstellen, was wir empfanden. Sooft ich an diesen Augenblick denke, kommen mir die Tränen, das Herz wird mir schwer, und ich rufe mir ins Gedächtnis, was für ein Mensch er war: ein wahrhaft großer Mann, unermeßlich weise, standhaft, bescheiden und ernst. Keiner besaß seinen Glauben, seine feste Überzeugung. Innere und äußere Vollkommenheiten, seelische wie leibliche, waren in ihm vereint. So konnte er unendliche Gnade und Gunst erlangen.
56:10 Sein Grab liegt in Smyrma, einsam und verlassen. Die Freunde müssen sobald wie möglich danach suchen und diesen vergessenen Staub in einen vielbesuchten Schrein verwandeln,1 damit die Pilger dort den süßen Duft seiner letzten Ruhestatt atmen.
1 Qur’án 52:4
57 [185] Mírzá Mustafá Naráqí
57:1 Zu der Gemeinschaft reiner, edler Seelen gehörte Mírzá Mustafá, ein angesehener Bürger der Stadt Naráq und einer der frühesten Gläubigen. Sein Gesicht strahlte die Liebe Gottes aus, sein Geist beschäftigte sich mit den Anemonen mystischer Bedeutungen, lieblich wie grünende Auen und blühende Beete.
57:2 In den Tagen des Báb kosteten seine Lippen zum ersten Mal vom berauschenden Kelch geistiger Wahrheit, sein Verstand geriet seltsam in Verwirrung, sein Herz barst vor Sehnsucht. Auf dem Pfade Gottes warf er allen Besitz von sich. Er ließ alles fahren, Heim und Herd, Weib und Kind, leibliches Wohl und Seelenfrieden gab er auf. Wie ein gestrandeter Fisch kämpfte er, das Wasser des Lebens zu erreichen. Er kam in den ‚Iráq, traf mit seinen geistigen Freunden zusammen und gelangte in Bahá’u’lláhs Gegenwart. Einige Zeit lebte er hier glücklich und zufrieden und empfing grenzenlose Gnadengaben. Dann wurde er zurück nach Persien gesandt, wo er bis an die Grenzen seiner Kraft dem Glauben diente. Er war ein ganzer Mann, hochgebildet, fest und stark wie ein Fels, verläßlich und vertrauenswürdig. In all dem Aufruhr und Schrecken waren ihm die heulenden Hunde nur summende Fliegen; Leiden und Prüfungen beruhigten sein Gemüt, und in das Feuer der Heimsuchungen geworfen, erwies er sich als leuchtendes Gold.
57:3 An dem Tage, als die Karawane Bahá’u’lláhs Konstantinopel verließ, um nach Adrianopel zu ziehen, traf Mírzá Mustafá aus Persien ein. Nur diese eine Gelegenheit hatte er, Bahá’u’lláh zu sehen; dann wurde er nach Persien zurückgesandt. In einem solchen Augenblick hatte er die Ehre, empfangen zu werden.
57:4 Als Mírzá Mustafá nach Ádhirbáyján kam, begann er, dort den Glauben zu verbreiten. Tag und Nacht verharrte er in Gebetshaltung, und in Tabríz trank er den bis zum Rande gefüllten Kelch. Seine Begeisterung wuchs, seine Lehrtätigkeit erregte Aufruhr. Dann kam der berühmte und gelehrte Shaykh Ahmad-i-Khurásání nach Ádhirbáyján, und beide vereinigten ihre Kräfte. Dies ergab ein so verzehrendes Feuer des Geistes, daß sie den Glauben in aller Öffentlichkeit lehrten. Das Volk von Tabríz erhob sich im Zorn.
57:5 Die Farrásh jagten sie und fingen Mírzá Mustafá. Da sagten die Unterdrücker: „Mírzá Mustafá hatte zwei lange Haarlocken, dies kann nicht der Richtige sein.“ Sogleich nahm Mírzá Mustafá den Hut ab, so daß seine Haarlocken herabfielen. „Seht her“, rief er, „ich bin es doch!“ So verhafteten sie ihn. Sie folterten ihn und Shaykh Ahmad, bis diese beiden großen Männer in Tabríz zuletzt den Kelch des Todes tranken. Als Märtyrer eilten sie dem Höchsten Horizonte zu.
57:6 Auf dem Richtplatz rief Mírzá Mustafá: „Tötet mich zuerst, tötet mich vor Shaykh Ahmad, damit ich nicht sehen muß, wie sein Blut vergossen wird!“
57:7 Ihre Größe ist für alle Zeiten in den Schriften Bahá’u’lláhs überliefert. Sie empfingen zahlreiche Sendschreiben von Ihm, und nach ihrem Tode berichtete Er mit Seiner erhabenen Feder von den Qualen, die sie erlitten.
57:8 Dieser hervorragende Mann, Mírzá Mustafá, hatte von Jugend an bis ins hohe Alter sein ganzes Leben dem Dienst auf dem Pfade Gottes geweiht. Nun lebt er im Reiche der Herrlichkeit, nahe der unauslöschlichen Gnade Gottes, erfreut sich höchster Glückseligkeit und preist seinen Herrn. Segen sei ihm und eine gute Wohnstatt.1 Möge er die Botschaft großer Freude vom Herrn aller Herren empfangen. Möge Gott ihm eine hohe Stufe in jener hehren Schar gewähren.
1 Qur’án 13:28
58 [188] Zaynu’l-Muqarribín
58:1 Dieser edle Mann gehörte zu den Bedeutendsten unter den Gefährten des Báb und den Geliebten Bahá’u’lláhs. Schon als er noch Muslim war, rühmte man seine reine, heilige Lebensführung. Er war begabt und auf vielen Gebieten äußerst bewandert, ein Führer und geistiges Vorbild der gesamten Bevölkerung von Najaf-Ábád, und die Würdenträger dieses Gebietes zollten ihm uneingeschränkten Respekt. Wenn er seine Meinung äußerte, war sie ausschlaggebend; wenn er Recht sprach, wurde es wirksam, denn er war bekannt als Maßstab und letztgültige Autorität.
58:2 Kaum hatte er von der Erklärung des Báb erfahren, als es aus seines Herzens Tiefen rief: „O unser Herr! Wir haben wahrhaftig die Stimme eines Rufers gehört. Er rief uns zum Glauben – `Glaubt an euren Herrn` – und wir haben geglaubt.“1 Von allen lästigen Schleiern befreite er sich, seine Zweifel schwanden, und er begann, die seit alters verheißene Schönheit zu preisen und zu verherrlichen. In seiner Heimat und in Isfahán wurde er überall dafür bekannt, daß er die Botschaft vom Kommen des Langersehnten verkündete. Die Heuchler verspotteten, verfluchten und quälten ihn. Die „breite Masse wie die Schlange im Grase“, das Volk, das ihn zuvor so verehrt hatte, fügte ihm nun alles Leid zu. Jeder Tag brachte ihm neue, grausame Qualen von seinen Unterdrückern. Er erduldete alles und fuhr fort, mit großer Wortgewalt zu lehren, und je mehr ihr Haß anschwoll, desto unerschütterlicher zeigte er sich in seiner Standhaftigkeit. In seinen Händen trug er den gefüllten Kelch der göttlichen frohen Botschaften und bot jedem, der da kam, den berauschenden Trank der Erkenntnis Gottes dar. Ohne die geringste Furcht, alle Gefahren mißachtend, beschritt er eilends den heiligen Pfad Gottes.
1 Qur’án 3:190
58:3 Nach dem Attentat auf den Sháh jedoch gab es keine Zuflucht mehr; kein Morgen und kein Abend vergingen ohne heftige Heimsuchung. Da sein Bleiben in Najaf-Ábád zu jener Zeit für die Gläubigen große Gefahr gebracht hätte, ging er fort und reiste in den ‚Iráq. Es war zu der Zeit, als die Gesegnete Schönheit zurückgezogen in Kurdistán weilte, in einer Höhle am Sar-Galú, daß Jináb-i-Zayn in Baghdád ankam. Seine Hoffnungen schwanden dahin, sein Herz war von Kummer schwer, denn überall herrschte Schweigen. Kein Wort über die Sache Gottes war zu hören, Name und Klang vergessen, keine Versammlung fand statt, kein Ruf erscholl. Yahyá, hatte sich vor Schreck in ein finsteres Loch verkrochen. Stumpf und schlapp war er von der Bildfläche verschwunden. Mochte er auch noch so suchen, Jináb-i-Zayn konnte keine einzige Seele finden. Ein einziges Mal traf er mit Seiner Hoheit Kalím zusammen. Aber zu dieser Zeit mußten die Gläubigen große Vorsicht walten lassen, und so ging er nach Karbilá. Dort verbrachte er einige Zeit mit Abschriften aus den heiligen Texten. Dann kehrte er nach Najaf-Ábád zurück, wo die bösartigen Verfolgungen und Angriffe seiner erbarmungslosen Feinde kaum auszuhalten waren.
58:4 Als aber die Posaune zum zweiten Mal erscholl,1 wachte er zu neuem Leben auf. Seine Seele antwortete auf die Botschaft vom Erscheinen Bahá’u’lláhs; auf den Trommelwirbel: „Bin ich nicht euer Herr?“ trommelte sein pochendes Herz die Antwort zurück: „Ja, wahrlich!“2 Wortgewandt lehrte er wieder; mit Vemunfts- und Geschichtsbeweisen zeigte er auf, daß Der, Den Gott offenbaren wird, der Verheißene des Báb, tatsächlich erschienen war. Den Dürstenden war er erfrischendes Wasser, dem Sucher klare Antwort der Himmlischen Heerscharen. In Wort und Schrift war er der erste unter den Gerechten, mit seinen Erläuterungen und Kommentaren war er ein mächtiges Zeichen Gottes.
1 Qur’án 39:68
2 Qur’án 7:171
58:5 In Persien schwebte er in ständiger Lebensgefahr, und da sein Verbleib in Najaf-Ábád die Aufwiegler erregt und Unruhen bewirkt hätte, eilte er nach Adrianopel, bei Gott Zuflucht zu suchen, und im Wandern rief er: „Herr, o Herr, hier bin ich!“ Im Pilgergewand des Liebenden erreichte er das Mekka seiner Sehnsucht. Eine Zeitlang blieb er in Bahá’u’lláhs Gegenwart; dann wurde ihm geboten, abzureisen und zusammen mit Jináb-i-Mírzá Ja’far-i-Yazdí den Glauben zu verbreiten. Er kehrte nach Persien zurück und lehrte dort so redegewandt, daß die frohe Botschaft von der Ankunft des Herrn bis hoch in die Himmel ertönte. Gemeinsam mit Mírzá Ja’far reiste er überallhin, durch blühende wie zerfallene Städte, und verkündete die frohe Botschaft, daß die Gesegnete Schönheit nunmehr offenbar ist.
58:6 Noch einmal kehrte er in den ‚Iráq zurück, wo er im Mittelpunkt jeder Zusammenkunft stand und seine Hörer erfreute. Stets gab er weisen Rat, stets verzehrte er sich vor Liebe zu Gott.
58:7 Als man die Gläubigen im ‚Iráq gefangennahm und nach Mosul verbannte, wurde Jináb-i-Zayn ihr Oberhaupt. Eine Zeitlang blieb er in Mosul, ein Trost für die anderen, bemüht um die Lösung ihrer vielen Probleme. Er verstand es, Liebe in den Menschenherzen zu entzünden, so daß sie freundlich zueinander wurden. Später fragte er um die Erlaubnis, Bahá’u’lláh besuchen zu dürfen. Als sie erteilt wurde, traf er im Gefängnis ein und hatte die Ehre, in die Gegenwart seines Meistgeliebten zu treten. Dann befleißigte er sich, die heiligen Verse niederzuschreiben und den Freunden Mut zuzusprechen. Für die Verbannten war er die Liebe selbst, er erwärmte der Pilger Herz. Keinen Augenblick lang gönnte er sich Ruhe, jeden Tag empfing er neue Gnade die Fülle, mit makelloser Sorgfalt schrieb er die Bahá’í-Schriften nieder.
58:8 Von früher Jugend bis zum letzten Atemzug ermattete dieser hervorragende Mann nie im Dienst für die Manifestation Gottes. Nach Bahá’u’lláhs Hinscheiden verzehrte er sich vor Schmerz, in ständigen Tränen und solcher Seelenpein, daß er mit jedem Tag schwächer wurde. Dem Bündnis blieb er treu; diesem Diener des Lichtes der Welt war er ein vertrauter Gefährte; aber er sehnte sich fort aus diesem Leben. Von Tag zu Tag wartete er auf seinen Abschied. Schließlich entschwebte er heiter und glücklich in jenes geheimnisvolle Land, voll des Frohlockens über die Botschaft vom Reiche Gottes. Dort wurde er ledig allen Leides, in helles Licht getaucht am Sammelpunkt ewigen Strahlenglanzes.
58:9 Ihm seien Gruß und Preis aus dem Reiche des Lichtes, ihm sei die Herrlichkeit des Allherrlichen von den Scharen der Höhe, ihm sei große Freude in dem Reiche, das ewig währt. Möge Gott ihm eine hohe Stufe verleihen im Paradiese Abhá.
59 [192] Azím-i-Tafríshí
59:1 Dieser Gottesmann stammte aus der Gegend von Tafrísh. Er war losgelöst von der Welt, furchtlos, unabhängig von Verwandten und Fremden. Er war einer der frühesten Gläubigen und gehörte zur Gemeinschaft der Getreuen. In Persien erlangte er die Ehre des Glaubens und begann die Freunde zu unterstützen; jedem Gläubigen ein Diener, jedem Reisenden ein vertrauter Helfer. Mit Músáy-Qumí – auf ihm sei die Herrlichkeit Gottes – kam er in den ‚Iráq, erhielt sein Teil an der Gabenfülle des Lichtes der Welt und hatte die Ehre, in Bahá’u’lláhs Gegenwart zu gelangen, Ihm zu dienen und Seine Gnadengaben zu empfangen.
59:2 Nach einiger Zeit gingen ‚Azím und Hájí Mírzá Músá zurück nach Persien, wo ‚Azím fortfuhr, den Freunden Dienste zu erweisen, allein um Gottes willen. Ohne Lohn oder Gehalt diente er mehrere Jahre Mírzá Nasru’lláh von Tafrísh, während sein Glaube und seine Gewißheit mit jedem Tag wuchsen. Dann verließ Mírzá Nasru’lláh Persien, um nach Adrianopel zu reisen; mit ihm kam Jináb-i-‚Azím und gelangte in Bahá’u’lláhs Gegenwart. Er fuhr fort, mit Liebe und Treue zu dienen, allein um Gottes willen; als die Karawane nach ‚Akká aufbrach, erhielt ‚Azím die Auszeichnung, Bahá’u’lláh zu begleiten, und so kam er ins Größte Gefängnis. Im Gefängnis wurde er auserwählt, dem Haushalt zu dienen; er wurde der Wasserträger sowohl innerhalb als außerhalb des Hauses. Viele schwere Aufgaben führte er in der Kaserne aus und ruhte weder tags noch nachts. ‚Azím – „der Große, der Herrliche“ – war von großartiger Wesensart: Er war geduldig, ergeben und langmütig, er mied allen Schmutz dieser Welt. Da er der Wasserträger der Familie war, hatte er die Ehre, täglich in Bahá’u’lláhs Gegenwart zu gelangen.
59:4 Allen Freunden war er ein guter Gefährte, ihren Herzen ein Trost; allen brachte er Glück, den Anwesenden wie den Abwesenden. Sehr oft hörte man Bahá’u’lláh Seine Zufriedenheit mit diesem Manne ausdrücken. Er befand sich immer in dem gleichen inneren Zustand; er war beständig, nie wankelmütig. Immer sah er glücklich aus. Er wußte nicht, was Erschöpfung bedeutet. Nie war er verzagt. Wenn ihn jemand um einen Dienst bat, führte er ihn sofort aus. Er war fest und treu in seinem Glauben, ein Baum im duftenden Garten der Zärtlichkeit Gottes.
59:5 Nachdem er viele lange Jahre an der Heiligen Schwelle gedient hatte, eilte er ruhig und heiter, voll des Frohlockens über die Botschaft vom Reiche Gottes, hinweg aus diesem rasch schwindenden Leben in die Welt, die nie vergeht. Alle Freunde trauerten über sein Hinscheiden, aber die Gesegnete Schönheit tröstete ihre Herzen, indem Er Gunst und Lobpreis die Fülle über den Dahingegangenen ergoß.
59:6 Mögen die Gnadengaben aus dem Reich des göttlichen Mitleids auf ‚Azím ruhen, möge Gottes Herrlichkeit mit ihm sein, des Abends und beim Aufgang der Sonne.
60 [194] Mírzá Ja’far-i-Yazdí
60:1 Dieser Ritter auf dem Schlachtfeld war einer der gelehrtesten Wahrheitssucher, wohl bewandert in vielen Wissenszweigen. Lange Zeit besuchte er Schulen, wo er vor allem die Grundlagen der Religion und religiöses Recht studierte und auf den Gebieten der Philosophie und Metaphysik, der Logik und der Geschichte, der betrachtenden wie der beschreibenden Wissenschaften1 forschte. Bald jedoch merkte er, daß seine Mitstudenten anmaßend und selbstzufrieden waren, und das stieß ihn ab. Damals hörte er den Ruf der Himmlischen Heerscharen. Ohne einen Augenblick zu zögern, erhob er die Stimme und rief: „Ja, wahrlich!“ Er sprach die Worte: „O unser Herr! Wir haben die Stimme eines Rufers gehört. Er rief uns zum Glauben – `Glaubt an euren Herrn` – und wir haben geglaubt.“2
1 Manqúl va ma’qúl = „übernommenes“ und „ersonnenes“ Wissen
2 Our’án 3:190
60:2 Als er den großen Aufruhr und die Unruhen in Yazd sah, verließ er seine Heimat und ging nach Najaf, der edlen Stadt. Aus Sicherheitsgründen mischte er sich unter die Religionsgelehrten und wurde bei ihnen berühmt für sein reiches Wissen. Dann hörte er die Stimme aus Baghdád, eilte hin und wechselte die Kleider: Er setzte sich den Hut eines Laien auf und arbeitete als Zimmermann, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er reiste einmal nach Tihrán und kehrte wieder zurück. Beschirmt von der Gnade Bahá’u’lláhs, war er geduldig und zufrieden, freudevoll im Gewande der Armut. Ungeachtet seiner großen Gelehrsamkeit war er demütig, selbstlos, bescheiden, zu allen Zeiten schweigsam und Menschen aller Art ein guter Gefährte.
60:3 Auf der Reise vom ‚Iráq nach Konstaninopel gehörte Mírzá Ja’far zum Gefolge Bahá’u’lláhs. Gemeinsam mit diesem Diener kümmerte er sich um die Bedürfnisse der Freunde. Immer wenn wir an einen Rastplatz kamen, ruhten oder schliefen die Gläubigen, von den langen Stunden der Reise erschöpft. Mírzá Ja’far und ich gingen in die umliegenden Dörfer, um Hafer, Stroh und andere Versorgungsgüter für die Karawane zu besorgen.1 Da in dieser Gegend eine Hungersnot herrschte, mußten wir manchmal von Dorf zu Dorf ziehen, vom frühen Nachmittag bis gegen Mitternacht. So gut es ging, kauften wir auf, was wir erhalten konnten, und kehrten dann zur Karawane zurück.
1 Bahá’u’lláh wurde von Mitgliedern Seiner Familie und sechsundzwanzig Jüngern begleitet. Die Karawane umfaßte eine Reiterwache von zehn Soldaten mit ihrem Offizier, einen Zug von fünfzig Maultieren und sieben Paar Howdahs, jedes Paar von vier Sonnenschirmen überdacht. Die Reise nach Konstantinopel dauerte vom 3. Mai bis zum 16. August 1863. Siehe Shoghi Effendi, Gott geht vorüber, p.177f und Adib Taherzadeh, Die Offenbarung Bahá’u’lláhs, I p.333f
60:4 Mírzá Ja’far war geduldig und ausdauernd, ein treuer Diener an der Heiligen Schwelle. Allen Freunden diente er und arbeitete Tag und Nacht. Er war ein ruhiger Mann, zurückhaltend in der Rede; in allen Dingen vertraute er allein auf Gott. In Adrianopel diente er weiterhin, bis die Verbannung nach ‚Akká befohlen und auch er gefangengenommen wurde. Er war dankbar dafür, sagte unentwegt Dank und sprach: „Preis sei Gott! Ich bin in der vollbesetzten Arche!“1
1 Qur’án 26:l19 , 36:41
60:5 Für ihn war das Gefängnis ein Rosengarten, seine enge Zelle ein weiter, dufterfüllter Saal. Während wir in der Kaserne lagen, wurde er schwer krank und war ans Bett gefesselt. Sein Zustand verschlimmerte sich so sehr, daß ihn der Arzt schließlich aufgab und nicht mehr nach ihm schaute. Als der Kranke den letzten Atem aushauchte, lief Mírzá Áqá Ján zu Bahá’u’lláh, um Ihm den Tod zu melden. Der Kranke hatte aufgehört zu atmen; sein Körper war leblos. Seine Familie versammelte sich , um ihn zu beweinen, und vergoß bittere Tränen. Da sprach Bahá’u’lláh: „Geht, singt das Gebet Yá Sháfí – O Du Allheilender -, und Mírzá Ja’far wird wieder zum Leben erweckt. Er wird schnell so gesund werden wie je zuvor.“ Ich kam an sein Lager. Sein Körper war kalt; alle Zeichen des Todes waren festzustellen. Langsam begann er sich zu rühren; bald konnte er seine Glieder bewegen, und bevor eine Stunde vorüber war, hob er den Kopf, saß auf, fing an zu lachen und erzählte Witze.
60:6 Danach lebte er noch lange Zeit, wie immer mit dem Dienst an den Freunden beschäftigt. Diese Haltung des Dienens war sein ganzer Stolz: Allen war er zu Diensten. Er war immer demütig und bescheiden, des Göttlichen bewußt und in höchstem Maße voll Glauben und Hoffnung. Schließlich gab er im Größten Gefängnis dieses irdische Leben hin und nahm seinen Flug ins jenseitige Leben.
60:7 Gruß und Preis seien mit ihm; auf ihm sei die Herrlichkeit des Allherrlichen und das gnädige Auge des Herrn. Sein lichtvolles Grab ist in ‚Akká.
61 [197] Husayn Áqáy-i-Tabrízí
61:1 Husayn Áqá stand der Göttlichen Schwelle nahe und war der geachtete Sohn des ‚Alí-‚Askar-i-Tabrízí. In sehnsüchtiger Liebe kam er mit seinem Vater von Tabríz nach Adrianopel und zog auf eigenen Wunsch voll Freude und Hoffnung weiter zum Größten Gefängnis. Vom Tage seiner Ankunft in der Festung von ‚Akká an übernahm er den Kaffeedienst und betreute die Freunde. Dieser gebildete Mann war so geduldig und gefügig, daß er über vierzig Jahre hinweg trotz größter Schwierigkeiten – denn Tag und Nacht drängten sich Freunde und Fremde gleicherweise an der Tür – jeden Ankömmling bediente und ihnen allen getreulich half. Während all dieser Zeit betrübte Husayn Áqá niemals eine Seele, noch äußerte jemand eine Beschwerde über ihn. Dies war wirklich ein Wunder; kein anderer konnte ein solches Zeugnis des Dienstes aufweisen. Immer lächelte er, immer war er achtsam bei den Aufgaben, die seiner Sorge anbefohlen waren, bekannt als ein Mann, dem man vertrauen konnte. In der Sache Gottes war er standhaft, mutig und aufrichtig; in Zeiten der Not war er geduldig und ausdauernd.
61:2 Nach dem Hinscheiden Bahá’u’lláhs loderten die Feuer der Prüfung auf; wie ein Wirbelwind zerstörte der Bündnisbruch das ganze Gefüge. Dieser Gläubige aber blieb trotz enger Familienbande treu; er zeigte solche Stärke und Beständigkeit, daß er die Worte kundtat: „In der Sache Gottes soll er den Tadel der Tadler nicht fürchten.“1 Keinen Augenblick zögerte er, noch wankte er im Glauben, vielmehr stand er sicher wie ein Berg, stolz wie eine feste Burg, tief im Glauben verwurzelt.
1 vgl. Qur’án 5:59
61:3 Seine Mutter brachte man ins Haus der Bündnisbrecher, wo ihre Tochter lebte. Sie taten alles, was sie ersinnen konnten, um ihren Glauben zu erschüttern, überhäuften sie mit unglaublichen Gefälligkeiten, setzten ihr mit Freundlichkeiten zu und verhehlten, daß sie selbst das Bündnis gebrochen hatten. Schließlich aber spürte diese achtbare Dienerin Bahá’u’lláhs den Ruch des Bündnisbruches. Sofort verließ sie das Landhaus in Bahjí und eilte zurück nach ‚Akká. „Ich bin die Dienerin der Gesegneten Schönheit“, sagte sie, „treu Seinem Bund und Testament. Wäre mein Schwiegersohn ein Fürst dieses Reiches, was nützte mir das? Mich kann man nicht gewinnen durch Verwandtschaft und Freundschaftsbeweise. Mich berühren keine äußerlichen Zeichen der Freundlichkeit von denen, die die wahre Verkörperung eigensüchtigen Verlangens sind. Ich stehe zum Bündnis und halte mich an das Testament.“ Sie war nicht bereit, die Bündnisbrecher wiederzusehen; sie befreite sich völlig von ihnen und wandte ihr Angesicht Gott zu.
61:4 Was Husayn-Áqá betrifft, er trennte sich niemals von ‚Abdu’l-Bahá. Er bezeugte mir größte Hochachtung, war mein ständiger Begleiter, und so war sein Hinscheiden ein schwerer Schicksalsschlag. Selbst jetzt, wann immer ich an ihn denke, bin ich betrübt und trauere um seinen Verlust. Aber Gott sei gelobt, daß dieser Mann Gottes in den Tagen der Gesegneten Schönheit allezeit Seinem Hause nahe blieb und Sein Wohlgefallen fand. Immer wieder hörte man Bahá’u’lláh erklären, daß Husayn-Áqá erschaffen sei, diesen Dienst zu tun.
61:5 Nach vierzig Jahren des Dienens entsagte er dieser flüchtigen Welt und schwang sich auf in die Reiche Gottes. Gruß und Preis seien ihm und die Gnade seines mildtätigen Herrn. Möge sein Grab umfangen sein vom Lichte, das von dem erhabenen Gefährten herabströmt. Seine Ruhestatt ist in ‚Akká.
62 [200] Hájí Alí-Askar-i-Tabrízí
62:1 Der edle ‚Alí-‚Askar war ein Kaufmann aus Tabríz. Er wurde in Ádhirbáyján von allen, die ihn kannten, hoch geachtet und seiner Gottesfurcht, seiner Vertrauenswürdigkeit, seiner Frömmigkeit und seines starken Glaubens wegen anerkannt. Die Einwohner von Tabríz, einer wie der andere, bezeugten seine Vortrefflichkeit und rühmten seinen Charakter, seine Lebensart, seine Tugenden und Anlagen. Er war einer der ersten Gläubigen und einer der bemerkenswertesten.
62:2 Als die Posaune das erste Mal erscholl, fiel er in Ohnmacht, und beim zweiten Posaunenstoß wurde er zu neuem Leben erweckt.1 Er wurde eine Kerze, die von der Liebe Gottes brannte, ein prächtiger Baum in den Gärten Abhá. Er führte seinen ganzen Haushalt, seine übrigen Verwandten und Freunde zum Glauben und tat erfolgreich viele Dienste. Aber die Grausamkeit der Gottlosen brachte ihn in eine verzweifelte Lage; er sah sich jeden Tag von neuen Schwierigkeiten heimgesucht. Dennoch erlahmte er nicht und war nicht entmutigt. Im Gegenteil, sein Glauben, seine Gewißheit und sein Opfersinn wuchsen noch mehr. Schließlich konnte er seine Heimat nicht mehr ertragen. Begleitet von seiner Familie, kam er nach Adrianopel und lebte dort mit wenig Geld, aber zufrieden, in Würde, Geduld, Ergebung und Dankbarkeit.
1 Qur’án 39:68-69: „Und da wird in die Posaune gestoßen, und alle im Himmel und auf Erden werden in Ohnmacht fallen, außer jenen, denen Gott das Leben gewährt. Dann wird erneut in die Posaune gestoßen, und siehe! Sich erhebend werden sie um sich schauen: Und die Erde wird im Lichte ihres Herrn erstrahlen . . . “
62:3 Dann verließ er Adrianopel mit ein paar Waren, um in der Stadt Jum’ih-Bázár seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Was er mit sich hatte, war unbedeutend, wurde ihm aber dennoch gestohlen. Als der persische Konsul davon erfuhr, überreichte er der Regierung ein Dokument, das eine riesige Summe als Wert der gestohlenen Güter angab. Zufällig wurden die Diebe gefaßt; es stellte sich heraus, daß sie im Besitz eines beträchtlichen Vermögens waren. So wurde entschieden, den Fall zu untersuchen. Der Konsul rief Hájí ‚Alí-‚Askar zu sich und sagte ihm: „Diese Diebe sind sehr reich. In meinem Bericht an die Regierung gab ich den Wert des Gestohlenen als groß an. Deshalb mußt du der Gerichtsverhandlung beiwohnen und übereinstimmend mit meinen Angaben aussagen.“
62:4 Der Hájí antwortete: „Euer Ehren, Khán, die gestohlenen Güter beliefen sich auf sehr wenig. Wie kann ich aussagen, was nicht wahr ist? Wenn ich gefragt werde, werde ich die Tatsachen so, wie sie sind, schildern, ich betrachte das – und nur das – als meine Pflicht.“
62:5 „Hájí“, sagte der Konsul, „wir haben hier eine goldene Gelegenheit, du und ich, wir können beide Gewinn daraus schlagen. Laß dir eine so einzigartige Chance nicht durch die Finger gleiten!“
62:6 Der Hájí antwortete: „Khán, wie könnte ich das vor Gott rechtfertigen? Laß mich in Ruhe. Ich werde die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagen.“
62:7 Der Konsul war außer sich. Er begann, ‚Alí-‚Askar zu bedrohen und zu prügeln. „Willst du, daß ich als Lügner dastehe? “ schrie er. „Willst du mich zur Zielscheibe des Spottes machen? Ich werde dich einkerkern, ich werde dich ausweisen lassen, ich werde dir keine Folter ersparen! Jetzt sofort werde ich dich der Polizei übergeben und ihr sagen, du seiest ein Staatsfeind; dann mögen sie dir Handschellen anlegen und dich an die persische Grenze bringen.“
62:8 Der Hájí lächelte nur. „Jináb-i-Khán“, sagte er, „ich gebe mein Leben für die Wahrheit. Ich habe nichts anderes. Du sagst mir, daß ich lügen und falsch aussagen soll. Mache mit mir, was du für richtig hältst; ich werde mich nicht vom Rechten abkehren.“
62:9 Als der Konsul merkte, daß es keine Möglichkeit gab, ‚Alí ‚Askar zu einer Falschaussage zu veranlassen, sagte er: „Es ist besser für dich, diesen Ort zu verlassen. Dann kann ich der Regierung mitteilen, daß der Eigentümer der Handelsgüter nicht erreichbar und fortgezogen ist. Andernfalls gerate ich in Schande.“
62:10 Der Hájí kehrte nach Adrianopel zurück und verlor kein Wort über seine gestohlenen Waren; aber die Angelegenheit wurde allgemein bekannt und rief beträchtliche Verwunderung hervor.
62:11 Dieser vornehme, treffliche alte Mann wurde mit den anderen in Adrianopel gefangengenommen und begleitete die Gesegnete Schönheit in die Festung ‚Akká das Gefängnis der Sorgen. Mit seiner ganzen Familie war er etliche Jahre auf dem Pfade Gottes eingekerkert. Immer war er voller Dankbarkeit, denn das Gefängnis war ein Palast für ihn und die Gefangenschaft ein Grund des Frohlockens. In all diesen Jahren kannte man ihn nicht anders als mit Lob und Dank auf den Lippen. Je größer die Tyrannei der Unterdrücker, desto glücklicher war er. Immer wieder hörte man Bahá’u’lláh über ihn voll Güte sprechen; Er pflegte zu sagen: „Ich bin zufrieden mit ihm.“ Dieser Mann, der verkörperter Geist war, blieb standhaft, wahrhaftig und freudig bis zu seinem Ende. Nach einigen Jahren tauschte er die Welt des Staubes gegen das Königreich ohne Makel ein. Die Wirkung, die er hinterließ, war groß.
62:12 Immer war er ein naher Gefährte ‚Abdu’l-Bahás. Zu Beginn unserer Gefängniszeit eilte ich eines Tages in den Winkel der Kaserne, in dem er hauste – zu der Zelle, die sein schäbiges Heim war. Er lag da in hohem Fieber, ohne Besinnung. An seiner rechten Seite lag seine Frau, zitternd vor Schüttelfrost. Zu seiner Linken war seine Tochter Fátimih, vom Typhus ausgezehrt. Gegenüber lag sein Sohn Husayn-Áqá im Scharlachfieber. Er hatte vergessen, wie man persisch spricht und schrie fortwährend auf türkisch: „Meine Eingeweide stehen in Flammen!“ Zu den Füßen des Vaters lag die andere Tochter, schwer erkrankt, und an der Wand lag sein Bruder, Mashhadí Fattáb, rasend im Fieberwahn. Unter diesen Umständen bewegte ‚Alí-‚Askar die Lippen: Er brachte Gott seinen Dank dar und seine Freude zum Ausdruck.
62:13 Preis sei Gott! Er starb im Größten Gefängnis, bis zuletzt geduldig und dankbar, voll Würde und fest im Glauben. Er erhob sich zur Wohnstatt des mitleidvollen Herrn. Mit ihm sei die Herrlichkeit des Allherrlichen, mit ihm seien Gruß und Preis, mit ihm seien Gnade und Vergebung für Zeit und Ewigkeit.
63 [204] Áqá Alíy-i-Qazvíní
64:1 Dieser bedeutende Mann hatte erhabene Bestrebungen und Ziele. Er war überaus standhaft, treu, fest verwurzelt in seinem Glauben und einer der frühesten, bedeutendsten Gläubigen. Im ersten Morgenlicht des neuen Tags der Führung entflammte sein Herz für den Báb, und er begann sogleich zu lehren. Vom Morgen bis zum Einbruch der Dunkelheit arbeitete er in seinem Handwerk, dann lud er fast jeden Abend die Freunde zum Essen ein. Auf diese Weise Gastgeber für gleichgesinnte Freunde, führte er viele Sucher zum Glauben, zog sie an mit der Melodie der Liebe Gottes. Er war erstaunlich standhaft, tatkräftig und ausdauernd.
63:2 Als dann die duftende Brise aus den Gärten des Allherrlichen in Bewegung kam, fing er Feuer an der neu entfachten Flamme. Seine Trugbilder und Einbildungen verbrannten; er erhob sich, die Sache Bahá’u’lláhs zu verkünden. Jede Nacht war eine Versammlung, harmonischer als die Blumen in den Beeten. Die Verse wurden gelesen, Gebete gesungen, die frohe Botschaft des Größten Advents ward ausgetauscht. Die meiste Zeit verbrachte Áqá ‚Alí damit, Freund und Fremd gleich liebenswürdig entgegenzukommen. Er war ein großmütiges Wesen mit offener Hand und weitem Herzen.
63:3 Der Tag kam, da er sich zum Größten Gefängnis aufmachte und mit seiner Familie in der Festung von ‚Akká eintraf. Auf der Reise litt er viel Mühsal und Not, doch seine Sehnsucht, Bahá’u’lláh zu sehen, war so groß, daß er alle Trübsal als leicht empfand; so maß er die Meilen und hoffte auf ein Heim in Gottes schützender Gnade.
63:4 Anfangs hatte er Geld; das Leben war bequem und sorgenfrei. Später wurde er mittellos und sah sich harten Prüfungen ausgesetzt. Meist war seine Nahrung Brot, weiter nichts, statt Tee trank er Wasser aus dem Bach. Dennoch blieb er glücklich und zufrieden. Seine große Freude war, in Bahá’u’lláhs Gegenwart zu treten, Vereinigung mit seinem Geliebten war Geschenk genug; seine Speise war, die Schönheit der Manifestation zu schauen, sein Wein, bei Bahá’u’lláh zu sein. Er lächelte immer, war immer ruhig, aber gleichzeitig jauchzte, hüpfte und tanzte sein Herz.
63:5 Oft war er in der Gesellschaft ‚Abdu’l-Bahás. Er war ein vortrefflicher Freund und Gefährte, voll Glück und Freude. Von Bahá’u’lláh bestätigt, von den Freunden geschätzt, mied er die Welt und vertraute auf Gott. Kein Wankelmut war in ihm, seine innere Haltung blieb unveränderlich: er war von festem Charakter, standhaft, tief gegründet wie ein Berg.
63:6 Wann immer ich ihn mir ins Gedächtnis zurückrufe und mich an diese Geduld und Ruhe, diese Treue und Zufriedenheit erinnere, bitte ich Gott unwillkürlich, Seine Gnadengaben über Áqá ‚Alí zu ergießen. Immer wieder brachen Mißgeschicke und Trübsale über diesen achtenswerten Mann herein. Immer war er krank und unzähligen körperlichen Leiden ausgesetzt. Die Ursache seines Leidens war die Mißhandlung durch Feinde, welche ihn, als er noch zuhause war und dem Glauben in Qazvín diente, ergriffen und so grausam über den Kopf geschlagen hatten, daß die Folgen ihn bis zu seiner Todesstunde begleiteten. Sie hatten ihn auf vielerlei Weise mißhandelt und gequält, es für gottgefällig gehalten, ihm jede Art von Grausamkeit zuzufügen, wo es doch sein einziges Verbrechen war, gläubig geworden zu sein, und seine einzige Sünde, Gott zu lieben. Die Worte des Dichters veranschaulichen Áqá ‚Alís Mühsal :
63:7 `Den königlichen Aar bedrängen Eulen.
Sie zausen ihn, obwohl er schuldlos ist.
Warum nur, höhnen sie, vergißt du nicht
Dein königlich Gewand, dein hohes Schloß?
Sein königliches Wesen – sein Verbrechen!
Was, außer schön zu sein, war Josephs Schuld?`
63:8 Kurz gesagt, dieser große Mann verbrachte seine Zeit im Gefängnis von ‚Akká mit Beten und Bitten, sein Angesicht allezeit Gott zugewandt. Unbegrenzte Gnadengaben umhüllten ihn, er war von Bahá’u’lláh gern gesehen, wurde oft in Seine Gegenwart vorgelassen und mit endloser Gnade überhäuft. Dies war seine Freude und sein Entzücken, sein großes Glück und sein liebster Wunsch.
63:9 Dann schlug seine festgesetzte Stunde, der Tagesanbruch seiner Hoffnungen. Es kam die Reihe an ihn, in das unsichtbare Reich emporzusteigen. Unter dem Schutz Bahá’u’lláhs enteilte er in jenes geheimnisvolle Land. Mit ihm seien Gruß und Preis, gnädig sei ihm der Herr dieser und der kommenden Welt. Möge Gott seinen Ruheplatz erleuchten mit den Strahlen des himmlischen Gefährten.
64 [207] Áqá Muhammad-Báqir und Áqá Muhammad-Ismá’íl, der Schneider
64:1 Sie waren zwei Brüder, die auf dem Pfade Gottes wandelten, zusammen mit den übrigen als Gefangene in die Festung von ‚Akká gesperrt. Sie waren Brüder des verstorbenen Pahlaván Ridá, verließen Persien und wanderten, Bahá’u’lláhs Gnade entgegeneilend, nach Adrianopel aus. Unter Seinem Schutz gelangten sie nach ‚Akká.
64:2 Pahlaván Ridá – Gottes Gnade, Sein Segen und Glanz seien auf ihm, Gruß und Lobpreis mit ihm – war dem äußeren Anschein nach ein ungebildeter Mensch ohne Wissen, ein Händler. Wie die anderen, die die Sache zu Beginn annahmen, warf er aus Liebe zu Gott alles von sich und erlangte mit einem Schritt die höchsten Bereiche des Wissens. Er gehörte zu den Gläubigen der ersten Stunde. So redegewandt wurde er mit einem Male, daß die Leute von Káshán verblüfft waren. Zum Beispiel begab sich dieser offensichtlich ungebildete Mann zum Hájí Muhammad-Karím Khán in Káshán und legte folgende Frage vor:
64:3 „O Herr, bist du der Vierte Pfeiler? Ich bin ein Mann, den es nach geistiger Wahrheit dürstet, und ich sehne mich danach, den Vierten Pfeiler kennenzulernen.“1
1 In der Shaykhí-Terminologie ist der Vierte Pfeiler oder die Vierte Säule ein vollkommener Mensch oder Kanal der Gnade, den zu suchen man verpflichtet ist. Hájí Muhammad-Karím Khán betrachtete sich selbst als solchen. Vgl. Bahá’u’lláh, Kitáb-i-Íqán, Das Buch der Gewißheit, p.124ff, ‚Abdu’l-Bahá, A Traveller’s Narrative, p.4 und Adib Taherzadeh, Die Offenbararug Bahá’u’lláhs, Band 1 p.390ff
64:4 Da nun einige politische und militärische Führer anwesend waren, antwortete der Hájí: „Verdammt sei dieser Gedanke! Ich meide all jene, die mich für den Vierten Pfeiler ansehen. Niemals habe ich einen solchen Anspruch erhoben. Wer dies behauptet, spricht die Unwahrheit, möge Gottes Fluch über ihn kommen!“
64:5 Einige Tage später suchte Pahlaván Ridá den Hájí wiederum auf und sagte ihm: „O Herr, ich habe soeben dein Buch „Irshádu’l-‚Avám“ (Führer für die Unwissenden ) zu Ende gelesen; ich habe es von vorne bis hinten durchgelesen, und es wird darin gesagt, daß man verpflichtet sei, den Vierten Pfeiler oder die Vierte Säule zu kennen. Du betrachtest den Vierten Pfeiler als einen Waffenbruder für den Herrn des Zeitalters1. Deshalb sehne ich mich danach, ihn kennenzulernen und anzuerkennen. Ich bin ganz sicher, daß du um ihn weißt. Zeige ihn mir, ich bitte dich.“
1 der verheißene zwölfte Imám
64:6 Der Hájí war wütend. Er sagte: „Der Vierte Pfeiler ist keine Erfindung. Er ist allen deutlich sichtbar. Wie ich hat er einen Turban auf dem Kopf, trägt eine ‚Abá und hält einen Stock in der Hand.“ Pahlaván Ridá lächelte ihn an. „Ich möchte nicht unhöflich sein, aber es gibt da einen Widerspruch in Euer Ehren Lehren. Erst sagst du etwas, dann sagst du etwas anderes.“
64:7 Außer sich antwortete der Hájí : „Ich habe jetzt zu tun. Laß uns diesen Gegenstand ein andermal diskutieren. Heute darf ich mich entschuldigen.“
64:8 Der springende Punkt ist, daß Ridá, ein Mann, der als unwissend galt, in der Lage war, diesen gelehrten „Vierten Pfeiler“ in der Diskussion zu übertreffen. In den Worten ‚Allámiy-i-Hillís gesprochen, bezwang er ihn mit der Vierten Säule.1
1 ‚Allámiy-i-Hillí, „der sehr gelehrte Doktor“, Titel des berühmten shí’itischen Theologen Jamálu’d-Dán Hasan ibn-i-Yúsuf ibn-i-‚Alí aus Hilla (1250 -1325 n.Chr.)
64:9 Wann immer dieser tapfere Vorkämpfer der Erkenntnis zu sprechen begann, waren seine Zuhörer erstaunt, und er blieb bis zum letzten Atemzug der Beschützer und Helfer aller Wahrheitssucher. Schließlich, weit und breit als Bahá’í bekannt, verlor er Haus und Hof und stieg zum Reiche Abhá empor.
64:10 Nun zu seinen zwei Brüdern: Durch die Gnade der Gesegneten Schönheit wurden sie, nachdem die Tyrannen sie gefangengenommen hatten, im Größten Gefängnis eingesperrt, wo sie das Schicksal der anderen heimatlosen Wanderer teilten. Dort eilten sie während der ersten Zeit in ‚Akká in vollkommener Loslösung und glühender Liebe fort zum allherrlichen Reich. Denn unsere erbarmungslosen Unterdrücker sperrten uns alle gleich nach unserer Ankunft innerhalb der Festungsmauern in die Kaserne und verschlossen alle Ausgänge, so daß niemand herein oder hinaus konnte. Zu jener Zeit war die Luft ‚Akkás verpestet; jeder Fremde erkrankte sofort nach seiner Ankunft. Muhammad-Báqir und Muhammad-Ismá’íl wurden schwer krank; wir bekamen weder einen Arzt noch Medizin. So starben diese beiden Verkörperungen des Lichts in derselben Nacht, einer den anderen in den Armen haltend. Sie stiegen auf zum unsterblichen Königreich und ließen die Freunde zurück, sie für immer zu betrauern. Es gab niemanden, der in jener Nacht nicht weinte.
64:11 Als der Morgen kam, wollten wir ihre geheiligten Körper forttragen. Die Unterdrücker sagten uns: „Es ist euch untersagt, die Festung zu verlassen. Ihr müßt uns diese zwei Leichname aushändigen. Wir werden sie waschen, einhüllen und begraben. Aber zuerst müßt ihr dafür bezahlen.“ Doch wir hatten kein Geld, nur einen Gebetsteppich, der unter den Füßen Bahá’u’lláhs lag. Er nahm ihn auf und sagte: „Verkauft ihn. Gebt den Wachen das Geld.“ Der Gebetsteppich wurde für 170 Piaster1 verkauft und dieser Betrag übergeben. Aber die beiden wurden niemals für ihr Begräbnis gewaschen noch in Tücher gehüllt; die Wachen hoben nur ein Loch aus und warfen sie hinein, wie sie waren, in den Kleidern, die sie trugen; so daß ihre Gräber auch jetzt noch eines sind, und wie ihre Seelen im Reich Abhá vereint sind, so sind hier auch unter der Erde ihre Körper beieinander, jeder den anderen in enger Umarmung haltend.
1 Der türkische Ghurúsh oder Piaster dieser Zeit hatte 40 Para und entsprach etwa zehn Pfennigen.
64:12 Die Gesegnete Schönheit ergoß Seinen Segen über diese beiden Brüder. Im Leben waren sie von Seiner Gnade und Gunst umgeben; im Tod wurde ihrer in Seinen Tablets gedacht. Ihr Grab liegt in ‚Akká. Grüße seien mit ihnen und Lobpreis. Die Herrlichkeit des Allherrlichen sei auf ihnen, und Gottes Barmherzigkeit und Sein Segen.
65 [211] Abu’l Qásim von Sultán-Ábád
65:1 Unter den Gefangenen war auch Abu’l-Qásim von Sultán-Ábád, der Reisegefährte Áqá Farajs. Sie waren beide bescheiden, treu und zuverlässig. Kaum waren ihre Seelen vom Geist des Glaubens zum Leben erweckt, da eilten sie aus Persien nach Adrianopel, denn wegen der anhaltenden Grausamkeit der Übeltäter konnten sie nicht länger in ihrer Heimat bleiben. Zu Fuß, frei von jeder Bindung, zogen sie über Berg und Tal, durch weglose Wasser und steinige Wüsten.
65:2 Wieviele Nächte konnten sie nicht schlafen, unter dem freien Himmel ohne einen Platz, ihr Haupt niederzulegen, ohne Speis und Trank, nur die bloße Erde als Bett und nur karge Gräser zu essen. Irgendwie schlugen sie sich durch und schafften es, Adrianopel zu erreichen. Sie kamen während der letzten Tage unseres Aufenthalts in jener Stadt an, wurden mit den übrigen gefangengenommen und reisten in Begleitung Bahá’u’lláhs zum Größten Gefängnis.
65:3 Abu’l-Qásim erkrankte schwer an Typhus. Er starb etwa zur selben Zeit wie die beiden Brüder Muhammad-Báqir und Muhammad-Ismá’íl. Seine reinen sterblichen Reste wurden außerhalb von ‚Akká begraben. Die Gesegnete Schönheit drückte Zufriedenheit mit ihm aus, alle Freunde weinten über seine Leiden und beklagten ihn. Auf ihm sei die Herrlichkeit des Allherrlichen!
66 [212] Áqá Faraj
66:1 In all diesen Schwierigkeiten war Áqá Faraj der Gefährte von Abu’l-Qásim. Als er im persischen ‚Iráq zum ersten Mal von dem Aufruhr hörte, den der Advent des Größten Lichtes verursacht hatte, erbebte er, zitterte, schlug die Hände zusammen, schrie auf vor Entzücken und eilte in den ‚Iráq. Von Freude überwältigt, trat er in die Gegenwart seines heiligen Herrn. Er wurde in die Schar der Liebenden aufgenommen und war glücklich über die Ehre, Bahá’u’lláh aufwarten zu dürfen. Darauf ging er mit frohen Botschaften nach Sultán-Ábád zurück.
66:2 Dort lagen die Übelwollenden schon auf der Lauer. Unruhen brachen aus, mit dem Ergebnis, daß der heilige Mullá-Báshí und einige weitere Gläubige, die niemanden zum Verteidiger hatten, niedergeschlagen und getötet wurden. Áqá Faraj und Abu’l-Qásim, die sich verborgen gehalten hatten, eilten nach Adrianopel, um schließlich zusammen mit den anderen Gläubigen und ihrem Vielgeliebten in das Gefängnis von ‚Akká geworfen zu werden.
66:3 Áqá Faraj wurde dann die Ehre zuteil, der Altehrwürdigen Schönheit aufzuwarten. Er diente der Heiligen Schwelle alle Zeit und war ein Trost für die Freunde. Zu Lebzeiten Bahá’u’lláhs war er Sein treuer Diener, den Gläubigen ein naher Gefährte. Auch nach dem Hinscheiden Bahá’u’lláhs blieb er dem Bündnis treu. In der Dienstbarkeit Reich stand er wie eine hochragende Palme, ein edler, überlegener Mensch, geduldig in schlimmer Bedrängnis, in allen Lebenslagen zufrieden.
66:4 Fest im Glauben, gottergeben, schied er aus diesem Leben und wandte sein Angesicht dem Königreich Gottes zu, endlose Gnade zu empfangen. Auf ihm ruhe die Barmherzigkeit und das Wohlgefallen Gottes in Seinem Paradiese. Gruß und Preis seien ihm in den himmlischen Auen.
67 [214] Die Gemahlin des Königs der Märtyrer
67:1 Unter den Frauen, die ihre Heimat verließen, war die leidgeprüfte Fátimih Begum, die Witwe des Königs der Märtyrer. Sie war ein heiliges Blatt am Baume Gottes. Von frühester Jugend an war sie von unzähligen Prüfungen heimgesucht worden. Zuerst wurde ihr edler Vater in der Umgebung von Badasht von Unglück ereilt, nach schrecklichen Leiden starb er in einer verlassenen Karawanserei eines schweren Todes – hilflos und fern der Heimat.
67:2 Das Mädchen blieb als Waise voll Kummer zurück, bis sie durch Gottes Gnade die Frau des Königs der Märtyrer wurde. Aber da man diesen überall als Bahá’í kannte, als glühenden Verehrer Bahá’u’lláhs, als einen begeisterten, entrückten Mann, und da Nasiri’d-Dín Sháh nach Blut dürstete, lauerten die Feinde im Hinterhalt, denunzierten und verleumdeten ihn täglich aufs neue, erhoben neues Geschrei, verursachten neues Unheil. So war auch seine Familie immer um seine Sicherheit besorgt, lebte ununterbrochen in Angst, die Stunde seines Märtyrertums ahnend und fürchtend. Hier war die Familie, überall als Bahá’í bekannt; dort ihre Feinde, hartherzige Tyrannen, eine unbeugsame, ihnen ständig feindliche Regierung, ein blutgieriger Souverän.
67:3 Man kann sich vorstellen, wie das Leben einer solchen Familie war. Täglich gab es neue Vorfälle, mehr Unruhe, frische Aufregung, keinen Atemzug konnten sie in Ruhe tun. Dann erlitt er den Märtyrertod. Die Regierung erwies sich in solchem Maße rücksichtslos und grausam, daß das Menschengeschlecht aufschrie und erzitterte. All sein Besitz wurde geplündert und geraubt, so daß es seiner Familie selbst am täglichen Brot mangelte.
67:4 Fátimih verbrachte die Nächte mit Weinen, nur Tränen waren ihre Gefährten bis zum Morgengrauen. Jeder Blick auf ihre Kinder ließ sie seufzen, sie verzehrte sich gleich einer Kerze in brennendem Gram. Aber sie dankte auch Gott und sagte: „Verherrlicht sei Gott, denn dieses Elend wird für Bahá’u’lláh erlitten, dieses Glück zerbrach um Seinetwillen.“ Sie gedachte der wehrlosen Familie des gemarterten Husayn und des Elends, das sie auf dem Pfade Gottes zu ertragen das Vorrecht hatten. Und als sie sich dieser Ereignisse erinnerte, schlug ihr Herz froh und sie rief aus: „Preis sei Gott! Wir sind zu Angehörigen des Haushalts des Propheten geworden!“1
1 Gibbon schreibt über das Martyrium des Imám Husayn und das Schicksal seines Hauses, daß „das tragische Ereignis in fernen Zeiten und Gegenden auch beim unempfindlichsten Leser Mitgefühl erwecken wird“.
67:5 Weil die Familie solche Not litt, ließ sie Bahá’u’lláh zum Größten Gefängnis kommen, damit sie, beschirmt in diesen Gefilden überströmender Gnade, für alles Vergangene entschädigt würde. Sie lebte dort eine Zeitlang glücklich, dankbar im Lobpreis Gottes. Und auch als Mírzá ‚Abdu’l-Husayn, der Sohn des Königs der Märtyrer, im Gefängnis starb, fügte sich seine Mutter Fátimih und beugte sich dem Willen Gottes. Sie seufzte und weinte nicht einmal, noch trauerte sie. Mit keinem Wort äußerte sie ihren Kummer.
67:6 Diese Magd Gottes war unendlich geduldig, würdig, beherrscht und allezeit dankbar. Aber dann schied Bahá’u’lláh aus dieser Welt, und das bedeutete höchste Heimsuchung, äußerste Qual und ging über ihre Kräfte. Die Bestürzung und das Entsetzen waren so groß, daß sie sich wie ein Fisch auf dem Trockenen krümmte, sie zitterte und bebte, als wäre ihr ganzes Sein erschüttert. Schließlich nahm sie Abschied von ihren Kindern und starb. Sie erhob sich in den Schatten der Gnade Gottes und tauchte ein in das Meer des Lichts. Mit ihr seien Gruß und Preis, Mitleid und Herrlichkeit. Möge Gott ihren Ruheplatz im Regen Seiner himmlischen Gnade duften lassen, ihre Wohnstätte im Schatten des göttlichen Lotosbaumes ehren.1
1 Der Sadratu’l-Muntahá, auch als der Sidrah-Baum übersetzt, bezeichnet die Grenze, der Lotosbaum die der entgegengesetzten Seite (vgl. Qur’án 53:14). Er soll am entferntesten Punkt des Paradieses stehen und die Stelle kennzeichnen, die weder Menschen noch Engel überschreiten können. In der Bahá’í-Terminologie bezieht sich der Begriff auf die Manifestation Gottes.
68 [217] Shams-i-Duhá
68:1 Khurshíd Begum, die den Titel Shams-i-Duhá, die Morgensonne, erhalten hatte, war die Schwiegermutter des Königs der Märtyrer. Diese redegewandte, begeisterte Magd Gottes war von ihres Vaters Seite her die Cousine des berühmten Muhammad-Báqir aus Isfahán, des weitbekannten Oberhauptes der ‚Ulamás jener Stadt. Noch als Kind verlor sie beide Eltern; sie wurde von ihrer Großmutter im Hause jenes berühmten, gelehrten Mujtahid aufgezogen und in verschiedenen Fachgebieten, in Theologie, Wissenschaften und Künsten unterrichtet.
68:2 Als sie erwachsen war, wurde sie mit Mírzá Hádíy-1-Nahrí verheiratet; und da beide, sie und ihr Mann, stark hingezogen waren zu den Lehren jener großen Leuchte, des vortrefflichen, ausgezeichneten Siyyid Kázim-i-Rashtí1, machten sie sich auf nach Karbilá, begleitet von Mírzá Hádís Bruder Mírzá Muhammad-‚Alíy-i-Nahrí2. Hier besuchten sie gewöhnlich die Vorlesungen des Siyyid, tranken sein Wissen, so daß diese Magd gründlich über Themen unterrichtet wurde, die sich auf das Göttliche, die heiligen Schriften und deren innere Bedeutungen bezogen. Das Paar hatte zwei Kinder, ein Mädchen und einen Jungen. Sie nannten ihren Sohn Siyyid ‚Alí und ihre Tochter Fátimih Begum. Als sie herangewachsen war, wurde sie mit dem König der Märtyrer verheiratet.
1 Ein Vorläufer des Báb und Mitbegründer der Shaykhí-Schule, s. Anhang
2 Seine Tochter wurde später die Ehefrau ‚Abdu’l-Bahás; siehe Gott geht vorüber. p.148 und The Dawn-Breakers, p.461
68:3 Shams-i-Quhá war in Karbílá, als der Ruf des erhabenen Herrn in Shíráz erhoben wurde, und laut antwortete sie: „Ja, wahrlich!“ Ihr Mann und sein Bruder brachen sofort nach Shíráz auf; denn beide hatten, als sie den Schrein des Imám Husayn besuchten, die Schönheit des Ersten Punktes, des Báb, erblickt; beide waren erstaunt gewesen über das, was sie in jenem leuchtenden Angesicht, in jenen himmlischen Wesenszügen und Verhaltensweisen gesehen hatten, und waren sich darüber einig, daß ein solcher Mensch tatsächlich ein erhabenes Wesen sein müßte. Also antworteten sie, sobald sie Seinen göttlichen Ruf vernahmen: „Ja, wahrlich!“ und entflammten in sehnsüchtiger Liebe zu Gott. Außerdem waren sie jeden Tag an jenem heiligen Ort gewesen, wo der selige Siyyid lehrte, und hatten ihn klar sagen hören: „Die Wiederkunft ist nahe, die Sache ist schwer zu fassen, äußerst geheimnisvoll. Es ziemt jedem zu suchen und zu forschen, denn es ist möglich, daß der Verheißene gerade jetzt unter den Menschen weilt, gerade jetzt sichtbar ist, während alle um Ihn her gedankenlos, achtlos sind, mit verbundenen Augen, wie es die heiligen Überlieferungen vorausgesagt haben.“
68:4 Als die beiden Brüder in Persien ankamen, hörten sie, daß sich der Báb auf die Pilgerreise nach Mekka begeben hatte. So reiste Siyyid Muhammad-‚Alí nach Isfahán, Mírzá Hádí kehrte nach Karbilá zurück. Mittlerweile hatte sich Shams-i-Duhá mit der „Nachtigall des Paradieses“, der Schwester Mullá Husayns, des Bábu’l-Báb1, angefreundet. Durch diese Frau hatte sie Táhirih, Qurratu’l-‚Ayn2, getroffen und begonnen, die meiste Zeit in beider Gesellschaft zu verbringen, den Glauben lehrend. In jenen frühen Tagen der Sache Gottes hatten die Menschen noch keine Angst davor. Aus dem Zusammensein mit Táhirih zog Shams unermeßlichen Nutzen und war mehr denn je Feuer und Flamme für den Glauben. Drei Jahre verbrachten sie in inniger Gesellschaft mit Táhirih in Karbilá. Tag und Nacht war sie bewegt wie das Meer durch die Brisen des Allbarmherzigen, und sie lehrte mit beredter Zunge.
1 „Tor zum Tor“, ein Titel Mullá Husayns, der als erster an den Báb glaubte. Von seiner Schwester wird berichtet in Nabíls Bericht, Bd. 2 p.410f Fußnote 11
2 „Augentrost“
68:5 Als Táhirih in ganz Karbilá berühmt wurde und sich die Sache Seiner Erhabenen Heiligkeit, des Báb, über ganz Persien ausbreitete, erhoben sich die ‚Ulamás jener Zeit, um den Báb und Seine Sache zu leugnen, mit Spott zu überhäufen und zu zerstören. Sie erließen ein Fatvá, ein Urteil, das zu einem allgemeinen Massaker aufrief. Táhirih gehörte zu denen, die von den gottlosen ‚Ulamás der Stadt zu Ungläubigen erklärt wurden, und fälschlicherweise meinten sie, sie halte sich im Heim Shams-i-Duhás auf. So überfielen sie Shams‘ Haus, umringten sie, beschimpften und beleidigten sie und fügten ihr schweres körperliches Leid zu. Sie zerrten sie aus dem Haus durch die Straßen zum Bazar; schlugen sie mit Knüppeln, steinigten sie, brandmarkten sie mit gemeinen Worten und bedrohten sie immer wieder tätlich. Währenddessen gelangte Hájí Siyyid Mihdí, der Vater ihres ehrenwerten Mannes, zum Schauplatz. „Diese Frau ist nicht Táhirih!“, schrie er sie an. Aber er hatte keinen Zeugen, dies zu beweisen,1 und die Farrásh, die Polizei und der Pöbel wollten keine Ruhe geben. Da schrie eine Stimme in den Aufruhr hinein: „Qurratu’l-‚Ayn ist verhaftet!“ Daraufhin ließen die Leute von Shams-i-Duhá ab.
1 In jenen Tagen waren die persischen Frauen in der Öffentlichkeit tief verschleiert.
68:6 Wachen wurden am Tor von Táhirihs Haus aufgestellt; niemand durfte hinein- oder herausgehen, während die Behörden noch auf Anordnungen aus Baghdád und Konstantinopel warteten. Als sich die Wartezeit in die Länge zog, bat Táhirih um die Erlaubnis, nach Baghdád aufbrechen zu dürfen. „Laßt uns selbst dort hingehen“, sagte sie ihnen. „Wir sind allem ergeben. Was immer uns auch geschieht, es ist das Beste und Angenehmste, was geschehen kann.“ Mit Regierungserlaubnis verließen Táhirih, die Nachtigall des Paradieses, ihre Mutter sowie Shams-i-Duhá Karbilá und reisten nach Baghdád. Aber der Pöbel, diese falsche Schlange, folgte ihnen ein gutes Stück Weg und bewarf sie aus geringer Entfernung mit Steinen.
68:7 In Baghdád angekommen, wohnten sie im Haus von Shaykh Muhammad-i-Shíbl, dem Vater Muhammad-Mustafás. Viele drängten sich vor den Türen; es kam zu einem Aufruhr im ganzen Viertel, so daß Táhirih ihre Wohnung verlegte und eine eigene Unterkunft bezog, wo sie ohne Unterlaß den Glauben lehrte und das Wort Gottes verkündete. Hier lauschten ihr die ‚Ulamás, die Shaykhs und andere, stellten ihre Fragen und erhielten Táhirihs Antworten. Bald schon war sie in ganz Baghdád wohlbekannt, da sie die dunkelsten, schwierigsten theologischen Themen erklärte.
68:8 Als die Kunde hiervon die Regierungsstellen erreichte, brachten sie Táhirih, Shams-i-Duhá und die Nachtigall zum Haus des Muftís, wo sie drei Monate blieben, bis eine Nachricht zu ihrem Fall aus Konstantinopel eintraf. Im Haus des Muftís verbrachte Táhirih viel Zeit in Gesprächen mit ihm; sie legte ihm überzeugende Beweise zu den Lehren vor, untersuchte und erläuterte Fragen über Gott, den Herrn, sprach über den Tag der Auferstehung, die Waage und die Abrechnung1 und entwirrte verschlungene innere Wahrheiten.
1 Qur’án 7:7, 14:42, 21:48, 57:25, etc.
68:9 Eines Tages kam des Muftís Vater herein und bearbeitete beide lange und heftig. Dies brachte den Muftí etwas aus der Fassung; er entschuldigte sich für seinen Vater. Dann fügte er hinzu: „Ihr habt Antwort aus Konstantinopel. Der Herrscher hat euch freigelassen, aber unter der Bedingung, daß ihr sein Reich verlaßt.“ Am nächsten Morgen verließen sie das Haus des Muftís und begaben sich zu den öffentlichen Bädern. Währenddessen trafen Shaykh Muhammad-i-Shibl und Shaykh Sultán-i-Arab die nötigen Vorbereitungen für ihre Reise, und als drei Tage vergangen waren, verließen sie Baghdád; das heißt, Táhirih, Shams-i-Duhá, die Nachtigall des Paradieses, die Mutter von Mírzá Hádí und einige Siyyids aus Yazd machten sich auf den Weg nach Persien. Alle ihre Reisekosten wurden von Shaykh Muhammad getragen.
68:10 Sie kamen nach Kirmánsháh, wo die Frauen in einem Haus wohnten, die Männer in einem anderen. Die Lehrarbeit wurde zu allen Zeiten fortgeführt, und sobald die ‚Ulamás dessen gewahr wurden, ordneten sie an, daß die Gruppe ausgewiesen werden sollte. Der Bezirksvorsteher brach mit einer Horde von Leuten in das Haus ein und nahm ihnen ihre Habe weg; dann verfrachtete man die Reisenden in offene Howdahs und trieb sie aus der Stadt. Im freien Feld setzten die Maultiertreiber sie auf dem bloßen Boden ab, nahmen Tiere und Howdahs mit und ließen die Reisenden zurück ohne Nahrung oder Gepäck und ohne Dach über dem Kopf.
68:11 Daraufhin schrieb Táhirih einen Brief an den Gouverneur von Kirmánsháh. „Wir waren Reisende“, schrieb sie, „Gäste eurer Stadt. `Ehre deinen Gast`, sagt der Prophet, `sei er auch ein Ungläubiger.` Ist es recht, daß ein Gast so geringgeschätzt und beraubt wird?“ Der Gouverneur befahl, das gestohlene Hab und Gut zurückzubringen und alles den Eigentümern zu erstatten. So kamen auch die Maultiertreiber zurück, setzten die Reisenden wieder in die Howdahs und reisten mit ihnen weiter nach Hamadán. Die Damen Hamadáns, sogar die Prinzessinnen, kamen jeden Tag, um Táhirih zu treffen. Zwei Monate blieb sie in der Stadt.1 Einige Reisegefährten verabschiedete sie dort, so daß sie nach Baghdád zurückkehren konnten; andere begleiteten sie weiter nach Qazvín.
1 siehe Nabíls Bericht, Kapitel XV
68:12 Auf der Reise näherten sich einige Reiter, Verwandte Táhirihs, das heißt ihre Brüder. „Wir sind auf Befehl unseres Vaters gekommen“, so sagten sie, „um sie allein mitzunehmen.“ Aber Táhirih weigerte sich; so blieb die ganze Gruppe zusammen, bis man in Qazvín ankam. Hier ging Táhirih zum Haus ihres Vaters; die Freunde, die geritten oder zu Fuß gegangen waren, stiegen in einer Karawanserei ab. Mírzá Hádí, der Mann Shams-i-Duhás, war nach Máh-Kú gegangen, um den Báb aufzusuchen. Auf der Rückreise erwartete er die Ankunft von Shams in Qazvín, worauf das Ehepaar nach Isfahán aufbrach. Nachdem sie dort angekommen waren, reiste Mírzá Hádí weiter nach Badasht. In der Nähe dieses Dorfes wurde er überfallen, gefoltert, sogar gesteinigt und solchen Qualen ausgesetzt, daß er schließlich in einer verfallenen Karawanserei starb. Sein Bruder Mírzá Muhammad-‚Ali begrub ihn dort am Straßenrand.
68:13 Shams-i-Duhá blieb in Isfahán. Sie verbrachte ihre Tage und Nächte im Gedenken an Gott und lehrte die Frauen der Stadt Seine Sache. Sie war mit beredter Zunge begabt; ihre Worte waren wunderbar anzuhören. So wurde sie von den führenden Frauen Isfaháns hochgeehrt, gerühmt für ihre Gottesfurcht, ihre Frömmigkeit und die Reinheit ihres Lebens. Sie war die verkörperte Keuschheit; all ihre Stunden verbrachte sie damit, die Heilige Schrift vorzutragen, die Texte zu erläutern, die schwierigsten geistigen Fragen zu enträtseln oder die süßen Düfte Gottes weithin zu verbreiten.
68:14 Dies waren die Gründe, weshalb der König der Märtyrer ihre verehrte Tochter heiratete und ihr Schwiegersohn wurde. Und als Shams in sein fürstliches Haus zog, belagerten die Leute Tag und Nacht seine Tore, denn die tonangebenden Frauen der Stadt, ob befreundet oder fremd, ob nahestehend oder nicht, gingen bei ihr aus und ein, war sie doch ein von der Liebe Gottes entzündetes Feuer, mit großer Inbrunst und Begeisterung das Wort Gottes verkündend, so daß sie unter den Ungläubigen als Fátimih, als Frau des Lichtes1 der Bahá’í, bekannt wurde.
1 Dies bezieht sich auf Muhammads Tochter Fátimih, die „strahlende und schöngesichtige, die Frau des Lichts“.
68:15 Und so verging die Zeit bis zu dem Tag, als die „Schlange“ und der „Wolf“ sich verschworen und einen Rechtsspruch, eine Fatvá, erließen, die den König der Märtyrer zum Tode verurteilte. Sie verschworen sich auch mit dem Gouverneur der Stadt, so daß sie zu dritt die großen Reichtümer des Opfers rauben, plündern und wegschaffen konnten. Dann machte der Sháh mit jenen beiden wilden Bestien gemeinsame Sache und ordnete an, daß das Blut beider Brüder, des Königs der Märtyrer und des Geliebten der Märtyrer, vergossen werde. Ohne Warnung fielen jene grausamen Männer, die Schlange und der Wolf mit ihren rohen Farráshen und Gendarmen über sie her, legten die beiden Brüder in Ketten und brachten sie ins Gefängnis, plünderten ihre reich ausgestatteten Häuser, entrissen ihnen allen Besitz und verschonten niemanden, nicht einmal die Säuglinge. Sie quälten, verfluchten, verleumdeten, verspotteten und schlugen die Verwandten und anderen Haushaltsangehörigen der Opfer und wurden der Verfolgungen nicht müde.
68:16 In Paris berichtete Zillu’s-Sultán1 folgendes, wobei er die Wahrheit mit seinem Eid beschwor: „Immer wieder warnte ich die beiden großen Nachkommen aus dem Hause des Propheten, aber ohne Erfolg. Zuletzt ließ ich sie eines Abends rufen und sagte ihnen äußerst eindringlich mit vielen Worten: `Meine Herren, der Sháh hat Sie dreimal zum Tode verurteilt. Seine Farmán kommen weiter. Das Urteil ist unabänderlich und nur ein Weg steht Ihnen jetzt noch offen: Sie müssen sich in der Gegenwart der ‚Ulamás rechtfertigen und Ihren Glauben verfluchen.` Ihre Antwort war: `Yá Bahá’u’l-Abhá! O Du Herrlichkeit des Allherrlichen! Mögen unsere Leben geopfert werden!` Schließlich gestand ich ihnen zu, daß sie ihren Glauben nicht verfluchen müßten. Ich sagte ihnen, alles was sie zu sagen hätten sei: `Wir sind nicht Bahá’í!` `Nur diese wenigen Worte`, sagte ich, `sind genug; dann kann ich meinen Bericht an den Sháh abfassen, und Sie sind gerettet.` `Das ist unmöglich`, antworteten sie, `denn wir sind Bahá’í. O Du Herrlichkeit des Allherrlichen, unsere Herzen dürsten nach dem Martyrium! Yá Bahá’u’l-Abhá! `Ich wurde wütend und versuchte dann, sie durch meine Härte zu zwingen, ihren Glauben zu widerrufen; aber es war hoffnungslos. Das Urteil der raubgierigen Schlange und des Wolfs sowie die Befehle des Sháhs wurden vollstreckt.“
1 Ältester Sohn des Sháh und Herrscher über mehr als zwei Fünftel des Reiches. Er bestätigte das Todesurteil. Kurz nach diesen Ereignissen fiel er in Ungnade. Siehe Gott geht vorüber, p.228, p.265
68:17 Nachdem die beiden den Märtyrertod gestorben waren, machte man Jagd auf Shams-i-Duhá. Sie mußte im Haus ihres Bruders Zuflucht suchen. Obwohl kein Gläubiger, war er in Isfahán als aufrechter, frommer und gottesfürchtiger Mann bekannt, als ein Gelehrter, ein Asket, der wie ein Einsiedler für sich blieb, dafür hoch angesehen war und das Vertrauen aller genoß. Sie blieb bei ihm, aber die Regierung gab die Suche nicht auf, entdeckte schließlich ihren Aufenthalt und lud sie vor. Die gottlosen ‚Ulamás hatten dabei die Hand im Spiel und machten gemeinsame Sache mit den staatlichen Stellen. So war ihr Bruder gezwungen, Shams-i-Duhá zum Hause des Gouverneurs zu geleiten. Er blieb draußen, während man seine Schwester in die Frauengemächer schickte; der Gouverneur kam dort an die Tür und stieß und trat sie so roh mit Füßen, daß sie ohnmächtig wurde. Dann rief der Gouverneur seiner Frau zu: „Prinzessin, Prinzessin! Komm und wirf einen Blick auf die Frau des Lichtes der Bahá’í!“
68:18 Die Frauen richteten sie auf und brachten sie in einen der Räume. Währenddessen wartete ihr Bruder entsetzt außerhalb der Residenz. Schließlich versuchte er, dem Gouverneur ins Gewissen zu reden, und sagte: „Meine Schwester ist so heftig geschlagen worden, daß sie dem Tode nahe ist. Was nützt es, sie hier zu behalten? Für sie ist jetzt keine Hoffnung mehr. Mit Ihrer Erlaubnis kann ich sie zurück in mein Haus bringen. Es wäre besser, sie dort sterben zu lassen als hier, denn immerhin ist sie Nachkomme des Propheten, gehört zur edlen Familie Muhammads und hat nichts Böses getan. Nichts spricht gegen sie außer ihre Verwandtschaft mit dem Schwiegersohn.“ Der Gouverneur entgegnete: „Sie ist eine der großen Anführerinnen und Heldinnen der Bahá’í. Sie wird einfach neuen Aufruhr verursachen.“ Der Bruder sagte: „Ich verspreche Ihnen, daß sie kein Wort äußern wird. Es ist gewiß, daß sie in wenigen Tagen nicht einmal mehr am Leben sein wird. Ihr Körper ist gebrechlich und schwach, fast ohne Leben, hat sie doch schreckliches Leid erlitten.“
68:19 Da der Bruder sehr geachtet war und hoch und niedrig ihm gleichermaßen vertraute, ließ der Gouverneur Shams-i-Duhá gehen und übergab sie seiner Obhut. Sie lebte eine Weile in seinem Haus, voll Jammer, härmte sich, vergoß Tränen und beklagte ihre Toten. Weder hatte der Bruder Ruhe, noch wollten die Feindseligen sie in Ruhe lassen; jeden Tag gab es neuen Aufruhr und allgemeines Geschrei. Der Bruder hielt es schließlich für das beste, mit Shams eine Pilgerreise nach Mashhad zu machen, in der Hoffnung, daß das Feuer der Unruhen verlöschen würde.
68:20 Sie gingen nach Mashhad und bezogen ein leerstehendes Haus nahe dem Schrein des Imám Ridá1
1 Der achte Imám, der wahrscheinlich auf Befehl des Kalifen Ma’múm 203 n.d.H. (818 n. Chr.) vergiftet wurde, nachdem er offiziell zum rechtmäßigen Erben des Kalifen bestimmt worden war. Sein Schrein mit seiner goldenen Kuppel wurde der Ruhm der shí’itischen Welt genannt. „Ein Teil Meines Körpers wird in Khurásán begraben werden“, sagte der Prophet laut Überlieferung.
68:21 Weil der Bruder ein so frommer Mann war, ging er jeden Morgen den Schrein besuchen und blieb dort bis fast zum Mittag, mit Andachten beschäftigt. Auch nachmittags eilte er zu dem heiligen Ort und betete dort bis zum Abend. Da das Haus leer war, gelang es Shams-i-Duhá, mit verschiedenen weiblichen Gläubigen Verbindung aufzunehmen und mit ihnen zu verkehren; und weil die Liebe Gottes so heftig in ihrem Herzen loderte, konnte sie unmöglich schweigen, so daß es in den Stunden, in denen der Bruder nicht da war, in dem Haus recht lebhaft zuging. Die Bahá’í-Frauen strömten dort zusammen und nahmen ihre glänzenden, beredten Ansprachen in sich auf.
68:22 In jenen Tagen war das Leben hart für die Gläubigen in Mashhad, die Übelwollenden waren immer auf der Hut. Hatten sie jemanden auch nur in Verdacht, so ermordeten sie ihn. Es gab keinerlei Sicherheit, keinen Frieden. Aber Shams-i-Duhá konnte sich nicht zurückhalten: Trotz all der schrecklichen Heimsuchungen, die sie erduldet hatte, mißachtete sie die Gefahr, sie hätte sich auch in die Flammen oder ins Meer stürzen können. Da ihr Bruder niemanden besuchte, wußte er nichts von dem, was da vorging. Tag und Nacht verließ er das Haus nur, um zum Schrein zu gehen, den Schrein nur, um nach Hause zu gehen; er war ein Einsiedler, hatte keine Freunde und sprach mit keinem anderen Menschen. Nichtsdestoweniger kam ein Tag, an dem er merkte, daß Unruhe in der Stadt ausgebrochen war, und erkannte, daß sie zu schwerem Leid führen würde. Er war ein so ruhiger, stiller Mensch, daß er seiner Schwester keine Vorwürfe machte; er nahm sie einfach ohne Vorwarnung aus Mashhad fort und kehrte mit ihr nach Isfahán zurück. Hier schickte er sie zu ihrer Tochter, der Witwe des Königs der Märtyrer, denn er wollte ihr nicht länger Schutz unter seinem Dach gewähren.
68:23 Shams-i-Duhá war also zurück in Isfahán, wo sie mutig den Glauben lehrte und die süßen Düfte Gottes verbreitete. So heftig brannte die feurige Liebe in ihrem Herzen, daß sie einfach gezwungen war, darüber zu sprechen, wann immer sie ein offenes Ohr fand. Und als man merkte, daß dem Hause des Königs der Märtyrer wieder einmal Unheil drohte und daß sie dort in Isfahán schlimme Not erduldeten, wünschte Bahá’u’lláh, daß sie ins Größte Gefängnis kämen. Und Shams-i-Duhá langte mit der Witwe des Königs der Märtyrer und den Kindern im Heiligen Land an. Hier verbrachte sie voll Freude ihre Tage, bis der Sohn des Königs der Märtyrer, Mírzá ‚Abdu’l-Husayn, nach den schrecklichen Leiden, denen er in Isfahán ausgesetzt war, an Tuberkulose erkrankte und in ‚Akká starb.
68:24 Shams-i-Duhá war das Herz schwer. Sie beklagte seinen Tod und verzehrte sich in Sehnsucht nach ihm. Alles wurde noch schmerzlicher, weil zu der Zeit die Höchste Heimsuchung über uns kam, die alles übersteigende Qual. Die Grundlage ihres Lebens war untergraben; wie eine Kerze verbrannte sie vor Gram. Sie wurde so schwach, daß sie das Bett nicht mehr verlassen, sich nicht mehr bewegen konnte. Dennoch blieb sie rastlos, keinen Augenblick ruhig. Sie erzählte von längst vergangenen Tagen, von Dingen, die sich in der Sache Gottes ereignet hatten, sie trug aus den Heiligen Schriften vor, flehte zu Gott, sang ihre Gebete – bis sie sich aus dem Größten Gefängnis in die Welt Gottes emporschwang. Aus diesem staubigen Tal des Verderbens eilte sie in ein unbeflecktes Land; sie packte ihr Bündel und wanderte ins Land des Lichts. Auf ihr seien Gruß und Preis und größte Gnade, beschützt im Mitleid ihres allmächtigen Herrn.
68:25 [228] Er ist Gott!
Du siehst, o mein Herr, die Versammlung Deiner Geliebten, die Gemeinde Deiner Freunde, zusammengekommen in der Umfriedung Deines allgenügenden Schreines, in der Nachbarschaft Deines erhabenen Gartens, an einem der Tage Deines Ridván-Festes – dieser gesegneten Zeit, da Du über der Welt erschienest und auf sie das Licht Deiner Heiligkeit ergossest, den Strahlenglanz Deiner Einheit verströmtest und aus Baghdád hervorgingst mit einer Macht und Majestät, die die ganze Menschheit umfing; mit einer Herrlichkeit, die alle Dir zu Füßen fallen ließ, die alle Häupter neigte, jeden Nacken beugte und alle Menschen die Augen niederschlagen ließ. Sie gedenken Deiner und erwähnen Dich, die Brust geweitet vom Licht Deiner Gaben, die Seelen erquickt durch Deine Segenszeichen, sprechen sie Dein Lob, wenden ihre Angesichter Deinem Reiche zu und flehen demütig zu Deinen Gefilden der Höhe.
68:26 Sie sind hier versammelt, um Deiner strahlenden, heiligen Magd zu gedenken, des Blattes an Deinem grünen Himmelsbaum, einer lichten Wirklichkeit, des geistigen Wesens, das immerdar Dein zartes Mitleid erfleht. Sie wurde hineingeboren in die Arme göttlicher Weisheit und gestillt an der Brust der Gewißheit; sie erblühte in der Wiege des Glaubens und frohlockte am Herzen Deiner Liebe, o gnädiger, o mitleidvoller Herr! Und sie wuchs zur Frau heran in einem Hause, aus dem die süßen Düfte der Einheit weithin wehten. Doch noch als Mädchen überkam sie Leid auf Deinem Pfad, Unglück traf sie, o Du Schenkender, und in schutzloser Jugend leerte sie voll Liebe zu Deiner Schönheit den Kelch der Sorge und Pein, o Du Vergeber.
68:27 Du weißt um das Unheil, o mein Gott, das sie froh auf Deinem Pfad ertrug, um die Prüfungen, denen sie sich in Deiner Liebe freudestrahlenden Angesichtes stellte. Wieviele Nächte, da andere in sanftem Schlummer auf ihrem Bette lagen, wachte sie und flehte demütig zu Deinem himmlischen Reich. Wieviele Tage verbrachte Dein Volk sicher in der Feste Deiner schützenden Hut, während ihr Herz sich härmte über das, was Deine Heiligen befiel.
68:28 O mein Herr, ihre Tage und Jahre vergingen, und wann immer sie das Morgenlicht erblickte, weinte sie über die Leiden Deiner Diener, und wenn die Schatten der Nacht hereinbrachen, klagte sie voll Jammer und verglühte in heißem Schmerz über das, was Deinen Knechten widerfuhr. Und sie erhob sich mit aller Kraft, Dir zu dienen, zum Himmel Deiner Gnade zu flehen, Dich in Demut zu bitten und ihr Herz auf Dich zu richten. Gehüllt in Heiligkeit trat sie hervor, das Gewand unbefleckt vom Wesen Deines Volks, und ging die Ehe ein mit Deinem Diener, dem Du Deine reichsten Gaben schenktest, in dem Du die Zeichen Deiner unendlichen Gnade offenbartest und dessen Angesicht Du in Deinem Allherrlichen Reich mit ewigem Licht leuchten lässest. Sie heiratete ihn, den Du aufnahmst in der Schar der Wiedervereinigung, die eins ist mit der Himmlischen Heerschar, den Du von aller himmlischen Nahrung essen, auf den Du Deinen Segen strömen ließest und dem Du den Titel „König der Märtyrer“ verliehest.
68:29 Und sie verweilte manche Jahre im Schutz dieses offenbaren Lichtes; mit ganzer Seele diente sie an Deiner Schwelle, heilig und leuchtend. Sie bereitete die Nahrung, einen Ort der Ruhe und ein Lager für all Deine Geliebten, die da kamen, und hatte keine andere Freude als diese. Bescheiden und demütig war sie gegen jede Deiner Mägde, zollte einer jeden Achtung, diente jeder mit Herz und Seele und ganzem Sein aus Liebe zu Deiner Schönheit und um Deines Wohlgefallens willen. Bis dann ihr Haus durch Deinen Namen bekannt wurde, und der Ruhm ihres Mannes als Deines Angehörigen laut erklang, bis das Land Sád (Isfahán) vor Freude erbebte und frohlockte über den steten Segen von diesem Deinem mächtigen Verfechter; bis die süßen Kräuter Deiner Erkenntnis, die Rosen Deiner Huld zu sprießen begannen und viele Menschen zum Strom Deiner Gnade geführt wurden.
68:30 Dann erhoben sich die Niedrigen und Unwissenden Deiner Geschöpfe gegen ihn, und fällten sein Todesurteil mit tyrannischer Bosheit und Tücke; ohne Recht, mit grausamer Härte vergossen sie sein reines Blut. Unter dem blitzenden Schwert schrie dieser edle Mensch auf zu Dir: „Preis sei Dir, o mein Gott, daß Du mir am Verheißenen Tag geholfen hast, diese offenbare Gunst zu erlangen; daß Du mit meinem Blut, vergossen auf Deinem Pfad, den Staub rot färbtest, damit er rote Blüten treibe. Dein sind Gunst und Gnade, mir diese Gabe zu gewähren, die ich mehr als alles in der Welt ersehnte. Dir sei Dank, daß Du mir beistandest, mich bestätigtest und mir zu trinken gabst aus diesem Kelch, der gemischt war an der Kampferquelle1, dargereicht am Tage der Offenbarung vom Mundschenk des Martyriums in der Versammlung der Freuden. Du bist wahrlich der Gnadenvolle, der Großmütige, der Gabenreiche.“
1 Qur’án 76:5
68:31 Und als sie ihn getötet hatten, überfielen sie sein fürstliches Haus. Sie griffen an wie hungrige Wölfe, wie Löwen auf der Jagd, raubten, plünderten und verwüsteten, und rissen die kostbaren Möbel, den Schmuck und die Edelsteine an sich. Deine Magd war damals in schrecklicher Gefahr, allein mit den Splittern ihres gebrochenen Herzens. Dieser heftige Angriff ereignete sich, als die Kunde von seinem Märtyrertod sich verbreitete. Laut schluchzten die Kinder, als Entsetzen ihre Herzen ergriff; sie jammerten und vergossen Tränen, und Klagelaute hallten aus diesem prächtigen Haus. Da war keiner, der um sie weinte, keiner, der Mitleid mit ihnen hatte. Vielmehr sollte sich die Nacht der Tyrannei um sie her noch vertiefen, die feurige Hölle des Unrechts noch heißer lodern als zuvor. Keine Qual gab es, die die Übeltäter nicht angewandt hätten, keine Pein, die sie ihnen nicht zufügten. Und dieses heilige Blatt blieb mit ihren Kindern in der Unterdrücker Hand, der Bosheit der Achtlosen ausgesetzt, und es gab niemanden, der sie geschützt hätte.
68:32 So vergingen die Tage, da allein Tränen ihre Begleiter und Klagen ihre Gefährten waren, Tage, da sie der Qual vermählt war und nur den Gram zum Freunde hatte. Und doch hörte sie in diesen Leiden nicht auf, o mein Herr, Dich zu lieben; sie enttäuschte Dich nicht, o mein Geliebter, in diesen lodernden Heimsuchungen. Obwohl Unglück auf Unglück folgte, Leiden sie von allen Seiten umgaben, ertrug sie doch alles, nahm alles geduldig auf sich. Unglück und Leiden waren ihr Deine Gabe und Gunst, und in all ihrer Todespein – o Du, Herr der schönsten Namen – war Dein Lob auf ihren Lippen.
68:33 Dann gab sie Heimat, Ruhe, Schutz und Zuflucht auf, nahm ihre Kinder, und wie die Zugvögel flog sie mit ihnen in dieses helle, heilige Land – daß sie hier niste und den Vögeln gleich Dein Lob singe, mit aller Kraft tätig in Deiner Liebe, Dir mit ganzem Wesen, mit ganzer Seele, aus ganzem Herzen dienend. Sie war bescheiden gegen alle Deine Mägde, demütig vor jedem Blatt im Garten Deiner Sache, Deiner gedenkend und gelöst von allem außer Dir.
68:34 Und ihre Klage erklang zur Morgendämmerung, der süße Tonfall ihres Gesanges war des Nachts und am hellen Mittag zu vernehmen, bis sie zu Dir zurückkehrte und dahineilte zu Deinem Königreich; sie kam, den Schutz Deiner Schwelle zu suchen, und schwang sich empor zu Deinem ewigen Firmament. O mein Herr, belohne sie mit dem Anblick Deiner Schönheit, speise sie an der Tafel Deiner Ewigkeit, gib ihr ein Heim in Deiner Nähe, stärke sie in den Gärten Deiner Heiligkeit, wie Du willst und wie es Dir gefällt; segne ihre Wohnstatt, bewahre sie sicher im Schatten Deines himmlischen Baumes, führe sie, o Herr, in die Zelte Deiner Göttlichkeit, mache sie zu einem Deiner Zeichen, einer Deiner Leuchten.
68:35 Wahrlich, Du bist der Großmütige, der Spender, der Vergeber, der Allerbarmer.
69 [232] Táhirih
69:1 Eine Frau, keusch und heilig, ein Zeugnis und Zeichen unerreichter Schönheit, eine Fackel der Liebe Gottes, ein Leuchtfeuer Seiner Segnungen war Jináb-i-Táhirih. Ihr Name war Umm-Salmá; sie war die Tochter des Hájí Mullá Sálih, eines Mujtahid aus Qazvín, und ihr Onkel väterlicherseits war Mullá Taqí, der Imám-Jum’ih oder Vorbeter in der Hauptmoschee jener Stadt. Die beiden verheirateten sie mit Mullá Muhammad, dem Sohn von Mullá Taqí, und sie schenkte drei Kindern, zwei Söhnen und einer Tochter, das Leben. Alle drei waren der Gnade, die ihre Mutter umgab, beraubt; alle versäumten sie es, die Wahrheit der Sache Gottes zu erkennen.
69:2 Als sie noch ein Kind war, suchte ihr Vater einen Lehrer für sie aus. Sie studierte verschiedene Zweige des Wissens und der Künste und erlangte bemerkenswerte Fähigkeiten auf schriftstellerischem Gebiet. Ihre Gelehrsamkeit und ihre Fertigkeiten waren von solchem Rang, daß ihr Vater oft mit Bedauern sagte: „Ich wollte, sie wäre ein Junge geworden; der hätte Licht über mein Haus ausgestrahlt und wäre in meine Fußstapfen getreten.“1
1 vgl. Nabíls Bericht, I p.113, Fußnote 86. Einige Zeilen aus der dortigen Übersetzung von Shoghi Effendi wurden hier einbezogen.
69:3 Eines Tages war sie bei Mullá Javád, ihrem Vetter mütterlicherseits, zu Gast. In seiner Bibliothek stieß sie auf die Schriften des Shaykh Ahmad-i-Ahsá’í1. Voll Freude über das, was der Shaykh zu sagen hatte, wollte sich Táhirih diese Schriften ausleihen und sie mit nach Hause nehmen. Aber Mullá Javád widersprach heftig und sagte ihr: „Dein Vater ist ein Feind der beiden strahlenden Leuchten, Shaykh Ahmad und Siyyid Kázim. Wenn er auch nur davon träumt, daß dir ein Wort dieser beiden großen Gestalten, nur ein Duft aus dem Garten jener Wirklichkeiten über den Weg gekommen ist, dann trachtet er mir nach dem Leben, und du wirst gleichfalls das Ziel seines Zornes.“ Táhirih antwortete: „Schon lange dürste ich danach, sehne ich mich nach solchen Darlegungen, solchen inneren Wahrheiten. Gib mir alles, was du an diesen Büchern hast, und kümmere dich nicht darum, ob es meinen Vater erzürnt.“ Wie gewünscht sandte ihr Mullá Javád die Schriften des Shaykh und des Siyyid.
1 Vorläufer des Báb, der erste der beiden Begründer der Shaykhí-Schule
69:4 Eines Abends suchte Táhirih ihren Vater in seiner Bibliothek auf und begann, über die Lehren von Shaykh Ahmad zu sprechen. Kaum merkte Mullá Sálih, daß seine Tochter um die Shaykhí-Lehren wußte, da brach er in Verwünschungen aus und schrie: „Javád hat deine Seele verdorben!“ Táhirih antwortete: „Der verstorbene Shaykh war ein wahrer Gottgelehrter; ich habe aus seinen Büchern unzählige geistige Wahrheiten gelernt. Überdies gründet alles, was er sagt, auf die Überlieferungen der heiligen Imáme. Du nennst dich einen Eingeweihten und einen Gottesmann, du betrachtest deinen geschätzten Onkel gleichfalls als gelehrt und sehr fromm – und doch finde ich in keinem von euch beiden eine Spur dieser Eigenschaften!“
69:5 Einige Zeit führte sie die erregte Diskussion mit ihrem Vater fort und setzte sich mit ihm über Fragen wie die Auferstehung und den Tag des Gerichts, die nächtliche Himmelfahrt Muhammads, die Verheißung und die Drohung sowie das Kommen des Verheißenen auseinander.1 Da ihm Argumente fehlten, verlegte ihr Vater sich auf Flüche und Beschimpfungen. Dann führte Táhirih eines Abends zur Unterstützung ihrer Behauptung eine heilige Überlieferung vom Imám Ja’far-i-Sádiq2 an. Weil diese Überlieferung bestätigte, was Táhirih sagte, brach ihr Vater in Gelächter aus und spottete darüber. Táhirih sprach: „O mein Vater, dies sind die Worte des heiligen Imám. Wie kannst du sie verspotten und verleugnen?“
1 Qur’án 17:1, 30:56, 50:19 usw.
2 der sechste Imám
69:6 Von diesem Abend an ließ sie von dem Wortstreit mit ihrem Vater ab. Sie stand inzwischen heimlich mit Siyyid Kázim im Briefwechsel über die Lösung schwieriger theologischer Probleme, und dabei kam es, daß ihr der Siyyid den Namen „Trost der Augen“ (Qurratu’l-‚Ayn) verlieh. Was den Titel Táhirih („die Reine“) anbetrifft, so wurde dieser das erste Mal in Badasht in Verbindung mit ihr gebraucht; später wurde er vom Báb gutgeheißen und in Sendschreiben verzeichnet.
69:7 Táhirih hatte Feuer gefangen. Sie machte sich auf nach Karbilá in der Hoffnung, Siyyid Kázim zu begegnen, aber sie kam zu spät: Zehn Tage, bevor sie die Stadt erreichte, war er verstorben. Kurz vor seinem Tod hatte der Siyyid seinen Schülern die frohe Nachricht anvertraut, daß das Kommen des Verheißenen kurz bevorstehe. „Gehet hin“, sagte er ihnen wiederholt, „und suchet nach eurem Herrn.“ So versammelten sich die wichtigsten seiner Anhänger in der Masjid-i-Kúfih, um zurückgezogen zu beten, zu fasten und Nachtwachen zu halten, während andere das Kommen in Karbilá erwarteten. Unter ihnen war Táhirih. Am Tage fastete sie und verrichtete religiöse Übungen; die Nacht verbrachte sie mit Wachen und sang Gebete. Eines Nachts, als es schon gegen Morgen ging, legte sie den Kopf auf ihr Kissen, verlor alles Bewußtsein um dieses Erdenleben und hatte einen Traum. Sie sah einen Jüngling, einen Siyyid, der einen schwarzen Mantel und einen grünen Turban trug, in den Himmeln vor ihr. Er stand in der Luft, trug Verse vor und betete mit erhobenen Händen. Sofort prägte sie sich einen dieser Verse ein und schrieb ihn in ihr Notizbuch, als sie erwachte. Nachdem der Báb Seine Sendung erklärt hatte und Sein erstes Buch, „Die erhabenste Geschichte“1, in Umlauf kam, las Táhirih eines Tages einen Abschnitt daraus und stieß dort auf denselben Vers, den sie aus ihrem Traum niedergeschrieben hatte. Dankbar fiel sie sofort auf die Knie und senkte die Stirn zu Boden, überzeugt, daß die Botschaft des Báb die Wahrheit ist.
1 „Ahsanu’l-Qisas“, der Kommentar des Báb zur Súrih Joseph, wurde der Qur’án der Bábí genannt und von Táhirih aus dem Arabischen ins Persische übersetzt. vgl. Gott geht vorüber, p.25f
69:8 Diese frohe Nachricht erreichte sie in Karbilá, und sie begann sogleich zu lehren. Sie übersetzte „Die erhabenste Geschichte“ und erläuterte sie, wobei sie persisch und arabisch schrieb; sie verfaßte Oden und Gedichte und verrichtete demütig ihre Andachten, auch jene, die freiwillig sind und das vorgegebene Maß überschreiten. Als die gottlosen ‚Ulamá in Karbilá dem auf die Spur kamen, als sie erfuhren, daß eine Frau das Volk zu einer neuen Religion rief und bereits Einfluß auf eine beträchtliche Zahl gewonnen hatte, da gingen sie zum Gouverneur und erstatteten Anzeige. Kurz, ihre Beschuldigungen führten zu heftigen Angriffen auf Táhirih und zu Leiden, die sie voll des Dankes und Lobpreises hinnahm. Die Häscher jagten sie, griffen aber zuerst Shams-i-Duhá, die sie für Táhirih hielten. Sobald sie jedoch hörten, daß Táhirih gefangen war, ließen sie Shams laufen; denn Táhirih hatte dem Gouverneur eine Botschaft gesandt: „Ich stehe zu eurer Verfügung. Laßt andere unbelästigt.“
69:9 Der Gouverneur stellte Wachen vor ihrem Haus auf und schloß sie ein. Dann schrieb er nach Baghdád und bat um Weisungen, wie er weiter vorgehen solle. Drei Monate lang lebte sie in einer Art Belagerung, völlig isoliert, mit Wachen um ihr Haus. Da die Ortsbehörden noch immer keine Antwort aus Baghdád hatten, trug Táhirih ihren Fall dem Gouverneur vor und sagte: „Kein Wort ist bis jetzt aus Baghdád oder Konstantinopel gekommen. So werden wir selbst nach Baghdád gehen und dort auf Antwort warten.“ Der Gouverneur gab die Erlaubnis, und sie machte sich in Begleitung von Shams-i-Duhá sowie der Nachtigall des Paradieses (der Schwester von Mullá Husayn) und ihrer Mutter auf die Reise. In Baghdád wohnte sie zuerst im Haus von Shaykh Muhammad, dem angesehenen Vater des Áqá Muhammad-Mustafá. Aber das Gedränge der Menschen um sie her war so groß, daß sie in ein anderes Stadtviertel umzog. Tag und Nacht verbreitete sie den Glauben und verkehrte frei mit den Einwohnern von Baghdád. So wurde sie in der ganzen Stadt bekannt, und es herrschte große Unruhe.
69:10 Táhirih stand auch in Briefwechsel mit den ‚Ulamá von Kázimayn. Sie unterbreitete ihnen unwiderlegliche Beweise, und wenn der eine oder andere von ihnen Táhirih besuchte, bot sie ihm überzeugende Argumente. Schließlich sandte sie eine Botschaft an die shí’itischen Geistlichen: „Wenn ihr mit diesen schlüssigen Beweisen nicht zufrieden seid, fordere ich euch heraus zu einer Prüfung durch ein Gottesgericht.“1 Bei den Geistlichen bewirkte dies lautes Geschrei; der Gouverneur war gezwungen, Táhirih und ihre Gefährtinnen in das Haus des Ibn-i-Álúsí, des Muftís von Baghdád, zu senden. Dort blieben sie etwa drei Monate, auf Nachricht und Weisungen aus Konstantinopel wartend. Ibn-i-Álúsí zog Táhirih in gelehrte Gespräche; Fragen wurden vorgetragen und Antworten gegeben, und er stellte nicht in Abrede, was sie zu sagen hatte.
1 Qur’án 3:54: „Dann werden wir Gott anrufen und Seine Verwünschung auf die Lügner laden!“
69:11 Eines Tages berichtete der Muftí einen seiner Träume und bat Táhirih um ihre Meinung, was er zu bedeuten habe. Er berichtete: „In meinem Traum sah ich die Shí’ih-‚Ulamá zum heiligen Grab des Imám Husayn, des Prinzen der Märtyrer, kommen. Sie nahmen die Barriere hinweg, die das Grabmal umgibt. Dann brachen sie das leuchtende Grab auf, so daß der makellose Leichnam offen vor ihren Augen lag. Sie versuchten, die heilige Gestalt herauszuheben, aber ich warf mich über den Leichnam und wehrte sie ab.“ Táhirih antwortete: „Dies ist die Bedeutung deines Traumes: Bald wirst du mich aus den Händen der Shí’ih-Geistlichen befreien.“ „Auch ich habe den Traum so ausgelegt“, sagte Ibn-i-Álúsí.
69:12 Da er bemerkt hatte, daß sie in gelehrten Fragen, in den heiligen Kommentaren und Texten gut Bescheid wußte, führten die beiden oft lange Debatten. Sie sprach über Themen wie den Tag der Auferstehung, die Waage, den Sirát1, und er wandte sich keineswegs ab.
1 Qur’án 11:48, 19:37 usw. Im lslám spannt sich die Brücke zum Sirát, scharf wie ein Schwert und dünner als ein Haar, über die Hölle hinweg in den Himmel.
69:13 Dann sprach eines Abends der Vater von Ibn-i-Álúsí im Hause seines Sohnes vor. Er hatte auch eine Begegnung mit Táhirih, und völlig unerwartet, ohne auch nur eine Frage zu stellen, begann er sie zu verhöhnen, zu verunglimpfen und zu verfluchen. Verlegen über seines Vaters Benehmen entschuldigte sich Ibn-i-Álúsí. Dann sagte er: „Die Antwort aus Konstantinopel ist da. Der König hat befohlen, daß du freigesetzt wirst, aber unter der Bedingung, daß du sein Reich verlässest. Gehe denn morgen, triff deine Vorkehrungen für die Reise, und eile hinweg aus diesem Land.“
69:14 So verließ Táhirih mit ihren Begleiterinnen das Haus des Muftís, traf die nötigen Vorbereitungen und reiste aus Baghdád ab. Als sie die Stadt verließen, ritten einige arabische Gläubige in Waffen neben ihrem Zug einher. Zu diesem Geleit gehörten Shaykh Sultán, Shaykh Muhammad und sein ehrenwerter Sohn Muhammad-Mustafá sowie Shaykh Sálih. Sie waren alle zu Pferde. Shaykh Muhammad trug die Kosten der Reise.
69:15 In Kirmánsháh angekommen, stiegen die Frauen in einem Haus für sich ab, die Männer in einem anderen. Die Einwohner der Stadt strömten unaufhörlich herbei, um sich über den neuen Glauben zu erkundigen. Wie überall sonst waren auch hier die ‚Ulamá bald in einem Zustand der Raserei und befahlen, daß die Neuankömmlinge vertrieben werden. So belagerte der Kad-Khudá oder Oberaufseher des Stadtviertels mit einem Trupp Leute das Haus, in dem Táhirih war, und plünderte es aus. Dann verfrachteten sie Táhirih und ihre Gefährtinnen in eine unüberdachte Howdah, trugen sie aus der Stadt aufs freie Feld und setzten sie dort ab. Die Treiber kehrten mit ihren Tieren in die Stadt zurück, und die armen Opfer blieben verlassen auf dem nackten Boden, ohne Nahrung, Obdach und Reiseproviant.
69:16 Táhirih schrieb sofort einen Brief an den Prinzen jenes Gebiets: „O du gerechter Gouverneur! Wir waren Gäste in deiner Stadt. Ist das die Art, wie du deine Gäste behandelst?“ Als ihr Brief dem Gouverneur vom Kirmánsháh überbracht wurde, sagte er: „Ich wußte nichts von diesem Unrecht. Dieser Unfug ist von den Geistlichen angerichtet worden.“ Sofort befahl er dem Kad-Khudá, den Reisenden ihr ganzes Eigentum zurückzugeben. Der Beamte gab die gestohlenen Sachen heraus, die Treiber kamen mit ihren Tieren aus der Stadt zurück, die Reisenden nahmen ihre Plätze ein und setzten die Reise fort.
69:17 Sie kamen nach Hamadán, und hier hatten sie einen glücklichen Aufenthalt. Die vornehmsten Damen der Stadt, sogar die Prinzessinnen, machten Táhirih Besuch und suchten Bereicherung aus ihren Lehren. In Hamadán entließ Táhirih einen Teil ihres Gefolges und sandte es zurück nach Baghdád, während sie andere, darunter Shams-i-Duhá und Shaykh Sálih, mit nach Qazvín nahm.
69:18 Unterwegs kamen ihnen Reiter entgegen, Verwandte Táhirihs aus Qazvín. Sie verlangten, Táhirih allein mit sich zu nehmen und ohne ihre Gefolgsleute in ihres Vaters Haus zu bringen. Táhirih lehnte dies ab und sagte: „Sie sind alle in meiner Gesellschaft.“ So zogen sie in Qazvín ein. Táhirih stieg in ihres Vaters Haus ab, ihre arabischen Gefolgsleute in einer Karawanserei. Bald verließ Táhirih ihren Vater wieder, um bei ihrem Bruder zu leben. Dorthin kamen die großen Damen der Stadt sie besuchen, bis Mullá Taqí1 ermordet und jeder Bábí in Qazvín gefangengesetzt wurde. Manche wurden nach Tihrán verbracht, kamen nach Qazvín zurück und starben dort den Märtyrertod.
1 Vgl. Nabíls Bericht, II p.309f. Der Mörder war kein Bábí, aber ein glühender Verehrer der beiden Shaykhí-Führer.
69:19 Zu dem Mord an Mullá Taqí kam es auf folgende Weise: Kaum hatte dieser törichte Tyrann eines Tages seine Kanzel bestiegen, als er auch schon damit anfing, den großen Shaykh Ahmad-i-Ahsá’í zu verhöhnen und zu verunglimpfen. Ohne Scham und Anstand verbreitete er groben Unflat und schrie: „Jener Shaykh war es, der dieses Höllenfeuer entfacht hat, der die ganze Welt diesem Gottesgericht ausgeliefert hat!“ Ein Student unter den Zuhörern, aus Shíráz stammend, meinte, dieser Hohn, Spott und Unflat seien mehr, als er tragen könne. Im Schutze der Dunkelheit begab er sich in die Moschee, warf Mullá Taqí eine Lanzenspitze zwischen die Lippen und entfloh. Am nächsten Morgen verhaftete man die wehrlosen Gläubigen und unterwarf sie schmerzlicher Folter, obwohl sie alle unschuldig waren und nicht wußten, was überhaupt geschehen war. Man dachte nicht daran, den Tatbestand ordnungsgemäß zu ermitteln. Wiederholt beteuerten die Gläubigen ihre Unschuld, aber niemand kümmerte sich darum. Nach einigen Tagen stellte sich der Mörder selbst; er bekannte vor den Behörden und gab an, er habe den Mord begangen, weil Mullá Taqá Shaykh Ahmad herabgewürdigt habe. „lch gebe mich in eure Hände“, sagte er ihnen, „damit ihr diese unschuldigen Menschen frei laßt.“ Man nahm ihn gleichfalls fest, legte ihn in Ketten und in den Stock, um ihn mit den anderen in Ketten nach Tihrán zu bringen.
69:20 In Tihrán angekommen, merkte er, daß trotz seines Geständnisses die anderen nicht freigelassen wurden. Bei Nacht gelang ihm die Flucht aus dem Gefängnis. Er ging zum Haus von Ridá Khán, jenem höchst vortrefflichen Mann, jenem Stern unter den hingeopferten Geliebten Gottes, dem Sohn des Muhammad Khán, des Oberstallmeisters von Muhammad Sháh. Dort blieb er einige Zeit, bis er mit Ridá Khán heimlich zur Feste des Shaykh Tabarsí in Mázindarán1 ritt. Muhammad Khán sandte Reiter hinter ihnen her, um sie zurückzuholen, aber so sehr sie auch suchten, sie konnten die beiden nicht finden. Beide kamen in der Feste Tabarsí an, und beide errangen dort den Märtyrertod. Von den anderen Freunden jedoch, die im Gefängnis von Tihrán saßen, wurden einige nach Qazvín zurückgebracht; auch diese erlitten den Märtyrertod.
1 vgl.Nabíls Bericht, II p.310
69:21 Eines Tages ließ der Finanzverwalter, Mírzá Shafí den Mörder kommen und redete ihn an mit den Worten: „Jináb, gehörst du zu einem Derwischorden oder folgst du dem Gesetz? Wenn du das Gesetz befolgst, warum hast du dann dem gelehrten Mujtahid einen grausamen Todesstoß in den Mund hinein versetzt? Wenn du ein Derwisch bist und dem Pfade folgst, dann ist doch eine Regel des Pfades, keinen Menschen zu verletzen. Wie konntest du da jenen eifrigen Geistlichen ermorden?“ „Mein Herr“, war die Antwort, „neben dem Gesetz und neben dem Pfad haben wir auch die Wahrheit. Im Dienste der Wahrheit habe ich ihm seine Untat heimgezahlt.“1
1 Dies bezieht sich auf die Uhraussage, daß es drei Wege zu Gott gebe: das Gesetz (sharí’at), den Pfad (taríqat) und die Wahrheit (haqíqat), d.h. das Gesetz des Rechtgläubigen, den Pfad des Derwischs und die Wahrheit.
69:22 All dies trug sich zu, bevor die Wirklichkeit der Sache Gottes offenbar und bevor alles offenkundig geworden war. In jenen Tagen wußte niemand, daß die Manifestation des Báb in der Manifestation der Gesegneten Schönheit gipfeln, daß das Gesetz der Vergeltung abgeschafft und zur Hauptgrundlage des Gesetzes Gottes der Satz erhoben werde: „Es ist besser für euch, getötet zu werden, als selbst zu töten“, daß Zwietracht und Streit beendet und die Regel des Krieges und der Metzelei wegfallen würde. In jenen Tagen konnten die geschilderten Dinge noch geschehen. Aber, Preis sei Gott, mit dem Kommen der Gesegneten Schönheit hat sich solch ein Strahlenglanz der Eintracht und des Friedens ergossen, solch ein Geist der Milde und der Langmut ausgebreitet, daß, als Männer, Frauen und Kinder in Yazd Zielscheiben für die Feuersalven der Feinde oder dem Schwert ausgeliefert wurden, als sich die führenden Beamten, die gottlosen ‚Ulamá und ihr Anhang zusammentaten, um gemeinsam jene wehrlosen Opfer anzufallen und deren Blut zu vergießen, um die Körper keuscher Frauen zu zerhacken und vierzuteilen, um mit ihren Dolchen den Kindern, die sie zu Waisen gemacht hatten, die Kehlen durchzuschneiden, um sodann die zerfetzten Glieder ins Feuer zu werfen -, daß bei alledem keiner der Freunde Gottes die Hand gegen sie erhob. In der Tat war unter diesen Märtyrern, unter diesen wahren Gefährten jener, die vor langer Zeit in Karbilá das Leben gelassen hatten, ein Mann, der, als er das Schwert über sich blitzen sah, seinem Mörder Kandiszucker in den Mund warf und rief: „Mit einem süßen Geschmack auf den Lippen sollst du mir den Tod geben, denn du bringst mir das Martyrium, meinen liebsten Wunsch!“
69:23 Laßt uns zum Thema zurückkehren. Nach dem Mord an ihrem gottvergessenen Onkel Mullá Taqí kam Táhirih in Qazvín sehr in Not. Sie war eine Gefangene, und schweren Herzens grämte sie sich über die schmerzlichen Ereignisse, die eingetreten waren. Von allen Seiten wurde sie bewacht, von den Dienstboten, von Wachen, von den Farrásh und von ihren Feinden. So schmachtete sie dahin. Da sandte Bahá’u’lláh aus der Hauptstadt Hádíy-i-Qazvíní, den Gatten der gefeierten Khátún-Ján, und sie bewerkstelligten es durch eine List, Táhirih aus dieser Umstrickung zu befreien und nachts nach Tihrán zu bringen. Sie stieg im Hause Bahá’u’lláhs ab und wurde in einem Gemach des Obergeschosses untergebracht.
69:24 Als sich dies in Tihrán herumsprach, suchte die Regierung in allen Winkeln nach ihr. Trotzdem kamen die Freunde in einem stetigen Strom, sie zu treffen. Táhirih pflegte sich hinter einem Vorhang sitzend mit ihnen zu unterhalten. Eines Tages war der große Siyyid Yahyá, mit Ehrennamen Vahid, zugegen. Er saß draußen vor dem Vorhang; Táhirih hörte ihn hinter dem Schleier an. Ich war damals ein Kind und saß auf ihrem Schoß. In feuriger Rede sprach Vahid weitläufig über die Zeichen und Verse, die das Kommen der neuen Manifestation bezeugen. Plötzlich unterbrach sie ihn und erklärte mit leidenschaftlich erhobener Stimme: „O Yahyá! Laß Taten, nicht Worte, Zeugnis für deinen Glauben ablegen, wenn du ein wahrhaft Gelehrter bist! Höre auf, die Überlieferungen der Vergangenheit müßig aufzusagen, denn der Tag des Dienstes, der standhaften Tat, ist angebrochen. Jetzt ist es an der Zeit, die wahren Zeichen Gottes hervorzukehren, die Schleier eitlen Wahns zu zerreißen, das Wort Gottes zu verkünden und uns selbst auf Seinem Pfade zu opfern. Laß Taten, nicht Worte, unsere Zierde sein!“
69:25 Die Gesegnete Schönheit traf genaue Vorkehrungen für Táhirihs Reise nach Badasht und sandte sie in einer Kutsche mit Begleitung auf den Weg. Seine eigene Gesellschaft reiste wenige Tage später in jene Gegend ab.
69:26 In Badasht war ein großes, offenes Feld. Mittendurch floß ein Bach; rechts, links und im Hintergrund waren drei Gärten, der Neid des Paradieses. Einer dieser Gärten war Quddús1 zugeteilt; aber dies wurde geheimgehalten. Der zweite Garten war Táhirih vorbehalten, und im dritten wurde Bahá’u’lláhs Zelt errichtet. Auf dem Feld zwischen den drei Gärten bauten die Gläubigen ihre Zelte auf. An den Abenden kamen Bahá’u’lláh, Quddús und Táhirih zusammen. Damals war die Tatsache, daß der Báb der Qá’im ist, noch nicht allgemein verkündet. Es waren die Gesegnete Schönheit und Quddús, welche die Verkündigung einer umfassenden Wiederkehr sowie die Aufhebung und Ablehnung der veralteten Gesetze in die Wege leiteten.
1 Der achtzehnte „Buchstabe des Lebendigen“, der mit unaussprechlicher Grausamkeit auf dem Marktplatz von Bárfurúsh im Alter von siebenundzwanzig Jahren ermordet wurde. Bahá’u’lláh sprach ihm eine Stufe zu, die nur derjenigen des Báb nachstehe. Vgl. Nabíls Bericht, II p.436f
69:27 Dann wurde Bahá’u’lláh eines Tages krank. Darin lag eine Weisheit, das heißt, Seine Unpäßlichkeit diente einem wichtigen Zweck. Plötzlich und vor aller Augen kam Quddús aus seinem Garten und trat in das Zelt Bahá’u’lláhs. Aber Táhirih sandte ihm eine Botschaft und ließ ihm sagen, ihr beiderseitiger Gastgeber sei krank geworden; Quddús solle stattdessen in ihren eigenen Garten kommen. Seine Antwort war: „Dieser Garten hier ist vorzuziehen. Komme du in diesen.“ Táhirih trat mit unverschleiertem Angesicht aus ihrem Garten hervor und schritt zum Zelt Bahá’u’lláhs. Als sie näherkam, rief sie laut diese Worte: „Die Posaune ertönt! Die große Trompete wird geblasen! Die umfassende Wiederkehr ist nun verkündet!“1 Die in dem Zelt versammelten Gläubigen waren starr vor Schreck. Jeder fragte sich: „Wie kann das Gesetz aufgehoben werden? Wie kann diese Frau hier stehen ohne ihren Schleier?“
1 vgl. Qur’án 74:8 und 6:73, ebenso Jesaja 27:13 und Zacharias 9:14
69:28 „Leset die Súrih vom Unvermeidlichen!“1 sagte Bahá’u’lláh, und der Vorleser begann: „Wenn der Tag, der kommen muß, plötzlich da ist … der Tag, der erniedrigen wird! Der Tag, der erhöhen wird! … “ Und so wurde die neue Sendung verkündet und die große Auferstehung offenbart. Am Anfang ergriffen die Anwesenden die Flucht. Einige gaben ihren Glauben auf, andere fielen dem Argwohn und dem Zweifel zum Opfer, aber eine Anzahl kehrte nach anfänglichem Zaudern in die Gegenwart Bahá’u’lláhs zurück. Die Konferenz von Badasht ging auseinander, aber die umfassende Wiederkehr war verkündet.
1 Qur’án, Súrih 56
69:29 Quddús eilte anschließend in die Feste Tabarsí.1 Die Gesegnete Schönheit reiste mit Vorräten und Ausrüstungen nach Níyálá in der Absicht, sich von dort bei Nacht durch das Lager der Feinde zur Feste durchzuschlagen. Aber Mírzá Taqí, der Gouverneur von Ámul, hörte von der Sache und kam mit siebenhundert Soldaten nach Níyálá. Er umzingelte das Dorf bei Nacht, sandte Bahá’u’lláh mit elf Reitern nach Ámul, und dann ereigneten sich jene Trübsale und Leiden, von denen bereits die Rede war.
1 Eine systematische Verfolgung des neuen Glaubens wurde in Persien von den geistlichen und politischen Behörden gemeinsam eingeleitet. Die Gläubigen wurden erschlagen, wo immer man sie einzeln antraf. Wo sie konnten, taten sie sich zusammen, um sich gegen die Regierung, die Geistlichkeit und den Pöbel zu verteidigen. Etwa 300 Gläubige, zumeist Studenten und Einsiedler, sahen sich auf dem Marsch durch die Wälder von Mázindarán verraten und umzingelt. Sie bauten das Grabmal des Shaykhs Tabarsí zu einer Festung aus und hielten elf Monate lang den persischen Armeen stand. Vgl. Nabíls Bericht, Kapitel XIX und XX; Gott geht vorüber p.42f
69:30 Táhirih wurde nach dem Aufbruch in Badasht gefangen. Die Unterdrücker sandten sie unter Bewachung nach Tihrán zurück. Dort wurde sie im Hause des Mahmud Khán Kalántar festgehalten. Aber sie war entflammt, begeistert, ruhelos und konnte nicht still bleiben. Die Damen von Tihrán kamen unter diesem oder jenem Vorwand in Scharen herbei, um sie zu sehen und zu hören. Es geschah, daß ein großes Fest im Hause des Bürgermeisters stattfand. Sein Sohn heiratete, das Hochzeitsmahl wurde angerichtet, das ganze Haus wurde geschmückt. Die Blüte der Tihráner Damenwelt war geladen: die Prinzessinnen, die Gattinnen der Wesire und der anderen Großen. Es war eine prächtige Hochzeit mit Musik und Gesang, Lauten, Glocken und Liedern bei Tag und bei Nacht. Dann begann Táhirih zu sprechen, und die vornehmen Damen waren so bezaubert, daß sie Zithern und Trommeln und alle Vergnügungen des Hochzeitsfestes verschmähten und sich um Táhirih scharten, die süßen Worte aus ihrem Munde zu hören.
69:31 Als hilflose Gefangene lebte sie weiter. Dann geschah der Anschlag auf das Leben des Sháh.1 Ein Farmán erging; sie wurde zum Tode verurteilt. Mit dem Vorwand, sie sei beim Ministerpräsidenten vorgeladen, kam man, sie aus dem Hause des Kalántar wegzuführen. Sie wusch sich Gesicht und Hände, kleidete sich in ein kostbares Gewand, und duftend nach Rosenöl trat sie aus dem Hause.
1 Am 15. August 1852 verwundete ein halbverrückter junger Bábí den Sháh mit einem Pistolenschuß. Der Attentäter wurde sofort getötet; die Behörden veranstalteten unter den Gläubigen ein Massaker in größtem Stil, dessen Höhepunkt Renan als „einen Tag, der in der Weltgeschichte vielleicht ohne Beispiel ist“, beschreibt. Vgl. Lord Curzon, Persia and the Persian Question, p.501f, und Gott geht vorüber, p.68f
69:32 Man brachte sie in einen Garten, wo die Scharfrichter warteten. Aber die Henker schwankten und weigerten sich schließlich, ihr Leben zu beenden. Ein fast völlig betrunkener Sklave wurde aufgetrieben – töricht, lasterhaft, von finsterem Herzen. Er erwürgte Táhirih. Er zwängte ihr einen Schal zwischen die Lippen und stieß ihn ihr in die Kehle. Dann hoben sie ihren makellosen Körper empor, warfen ihn in ein Brunnenloch dort im Garten und kippten Erde und Steine darüber. Aber Táhirih frohlockte. Leichten Herzens hatte sie die Botschaft von ihrem Märtyrertod vernommen. Sie hob die Augen zum himmlischen Königreich und brachte ihr Leben dar.
69:33 Gruß und Preis seien ihr. Geheiligt sei ihr Staub, mögen Bündel von Licht aus dem Himmel darauf herniederkommen.
[246] Zur Aussprache der persisch-arabischen Namen
Das persische Alphabet hat 34 Buchstaben, das arabische einige weniger. Um diese in lateinischer Schrift so darzustellen, daß das Original-Schriftzeichen erkennbar wird, verwenden die Bahá’í eine Transkription, die um 1920 bei einem internationalen Orientalistenkongreß angenommen wurde. Sie folgt alles in allem der englischen Sprechweise.
[247]
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[248]
Glossar
‚Abá: Mantel, Umhang
Abhá: Superlativ von Bahá: Der Herrlichste, der Allherrliche
Abjad-Rechnung: Zahlenwert der Buchstaben im persisch-arabischen Alphabet
Afnán: Verwandte des Báb, vgl. Gott geht vorüber, p.270, p.375
Die Altehrwürdige Schönheit: ein Titel Bahá’u’lláhs
Dawlih: Staat, Regierung
Farmán: Befehl, königlicher Erlaß
Farrásh: Diener, Häscher, Büttel
Farsakh: das gleiche wie Parsang: je nach Geländezustand 4 bis 6 Kilometer
Fatvá : von einem Muftí gesprochenes Urteil
Die Gesegnete Schönheit: ein Titel Bahá’u’lláhs
Hájí: Titel eines Muslims, der die Pilgerreise nach Mekka gemacht hat
Hazíratu’l-Quds: der „heilige Bezirk“; Bahá’í-Verwaltungszentrum
Imám: Titel der zwölf Shí’ah-Nachfolger Muhammads. Während der Kalif des Sunná-Islám das gewählte, sichtbare Oberhaupt darstellt, ist die Statthalterschaft des Propheten für Shí’iten eine rein geistige Angelegenheit, von Muhammad jedem Seiner zwölf Nachfolger verliehen. Der Imám ist der „göttlich bestimmte Nachfolger des Propheten, begabt mit allen Vollkommenheiten und geistigen Gaben, dem alle Gläubigen gehorchen müssen, dessen Urteil unanfechtbar und endgültig ist, dessen Weisheit übernatürlich und dessen Wort entscheidend ist“.
Imám: Vorbeter
Imám-Jum’ih: Vorbeter in der Freitags- oder Hauptmoschee
Jináb: Höflichkeitsanrede, mit unterschiedlichem Nachdruck, etwa gleichbedeutend mit „Euer Ehren“
Kad-Khudá: Vorsteher eines Stadtteils oder eines Dorfes
Kalántar: Bürgermeister
Lotus-Baum –> Sadratu’l-Muntahá
Mashriqu’l-Adhkár: Aufgangsort des Lobpreises Gottes, Bahá’í-Haus der Andacht
Muftí: Erklärer des muslímischen Rechts
Mujtahid: Doktor des Rechts: ein Geistlicher, der durch seinen Rang berechtigt ist, religiöses Recht zu sprechen. Die meisten persischen Mujtahid erhielten ihre Urkunden von den führenden Juristen von Karbilá und Najaf.
Mullá: Muslím-Geistlicher
Nabíl: gelehrt, edel. Der Báb und Bahá’u’lláh verliehen gelegentlich Menschen einen Titel, dessen Buchstaben nach der Abjad-Rechnung den gleichen Zahlenwert hatten wie die Buchstaben ihres Eigennamens. So ist der Zahlenwert der Buchstaben von „Muhammad“ 92, der der Buchstaben von „Nabíl“ ist ebenfalls 92.
Qá’im: arabisch: „Er, der sich erheben wird“, der Verheißene des shí’itischen Islám: der Báb.
Sadratu’l-Muntahá: Name eines Baumes, den die Araber von alters an das Ende der Wege als Markierung pflanzten, symbolisch der „göttliche Lotosbaum“, der „Baum, über den hinaus keiner gehen kann“. Auf ihn wird mittelbar in Qur’án 53:9 und direkt in Qur’án 53:14 Bezug genommen; die beiden Visionen, die dort beschrieben sind, werden nach der Überlieferung zu Muhammads Vision von der Himmelfahrt oder Mi’ráj (vgl. Sure 17:1) in Beziehung gesetzt. In den Bahá’í-Schriften symbolisiert dieser Baum stets die Manifestation Gottes, d.h. in diesem Zeitalter Bahá’u’lláh.
Shaykhí-Schule: Eine Sekte des Shí’ah-Islám. Die Shí’iten -werden in zwei Gruppen eingeteilt: Die Siebener-Shí’ah und die Zwölfer-Shi’ah. Aus letzterer entstammt die Shaykhí-Schule, gegründet von Shaykh Ahmad-i-Ahsá’í (1753-i826) und Siyyid Kázim-i-Rashtí (gest. 1843), den Vorläufern des Báb. Der Hüter schreibt in „Gott geht vorüber“, seiner Geschichte der ersten hundert Jahre der Bábí- und Bahá’í-Religion, auf Seite XXII: „Ich werde versuchen, kurz jene bedeutsamen Geschehnisse wiederzugeben sowie auch in ihren Zusammenhängen aufzuzeigen, wie sie unmerklich und stetig vor den Augen der nachfolgenden widerspenstigen, gleichgültigen oder feindlichen Generationen einen in Irrglauben geratenen, scheinbar unbedeutenden Zweig der Shaykhí-Schule … in eine Weltreligion verwandelt hat.“
Sirát: arabisch „Pfad“, „Weg“, (As-sirátu’l-mustaqím = der Gerade Pfad). Religionsgeschichtlich vgl. z.B. Qur’án 1:6. Im Islám verstand man im allgemeinen die Religion schlechthin darunter, da sie der „gerade“ und somit kürzeste und sicherste „Weg“ zum Paradies ist. Im besonderen ist Sirát nach den Traditionen ein endzeitlicher Begriff am Tage der Auferstehung und des Endgerichtes: Die Menschen werden auf dem gefährlich schmalen Sirát, der gleich einer Brücke über der Hölle gespannt ist, wandeln. Nur wer „unterwegs nicht fällt“, gelangt zum Paradies jenseits der Hölle. Der Begriff findet sich in allen Religionen, in den indischen wie in den biblischen, und auch in der mystischen Literatur des Morgen- und Abendlandes. Bahá’u’lláh lehrt, daß Sirát primär Ihn selbst bedeute und in anderer Hinsicht Seine Gesetze und Verordnungen (Áthár VI, 270).
Siyyid: Titel der Nachkommen des Propheten Muhammad
‚Ulamá: gelehrter Geistlicher
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Hinweis:
Diese Datei ist eine Textwiedergabe des u.g. Buches, jedoch in einem anderen äußeren Layout. Bei fast 70 Berichten auf 250 Seiten befinden sich Seitenzahlen #xyz jeweils am Beginn eines Berichtes, was für eine eindeutige Textzuordnung anhand der nummerierten Absätze, z.B. 23:14 völlig ausreicht.
Fußnoten befinden sich ia am Ende des jeweiligen Absatzes.
In den Kapiteln 1 , 3 , 6 , 9 , 11 , 34 , 40 , 56 , 63 findet man poetisch-mystische Verse, deren Zeilenumbrüche nicht verändert werden sollten.!