Die Konferenz von Badasht

Vorwort

Wir haben das Glück in einer Zeit und in einem Land zu leben, in dem wir frei sind, unsere Meinung zu äußern und uns für die Dinge einzusetzen, von denen wir überzeugt sind. Doch dieses Privileg ist bei weitem nicht überall auf der Welt und seit jeher gegeben. In den nächsten Kapiteln werden Geschichten von jungen Menschen erzählt, die vor ca. 150 Jahren im heutigen Iran lebten und für ihre Überzeugungen verfolgt wurden. Sie standen, als die ersten Gläubigen einer neuen Religion, gegen die althergebrachten Normen, Traditionen und Wertvorstellungen und lehrten – im krassen Gegensatz zur damaligen patriarchalischen Gesellschaft – die Vision einer geeinten Menschheit, in der die Gleichberechtigung von Mann und Frau und die Harmonie von Religion und Wissenschaft Pfeiler der Gesellschaft sind.

Auch wenn wir heute in einer anderen gesellschaftlichen Situation leben, muss dennoch jeder Einzelne tagtäglich für seine Überzeugungen einstehen. Wir werden zwar nicht mit unserem Leben bedroht, es erfordert aber trotzdem Mut gegen Ungerechtigkeit und Hass einzutreten. Diesen Mut zu beweisen verbindet uns mit den Helden der Vergangenheit und lässt uns verstehen, was sie durchgemacht haben.

Sich dessen bewusst zu werden, dass sie sich nicht mal um Haaresbreite von dem abwandten, was sie als richtig und wahr angesehen haben, hinterlässt uns allen eine bleibende Inspiration und das angewandte Beispiel für aufrichtige Liebe gelebtem Glauben.

 

 

 

Die drei letzten, ereignisreichsten Jahre (1847-1850) im Wirken des Báb waren geprägt nicht nur durch die feierliche, öffentliche Erklärung Seiner Sendung, sondern auch durch eine beispiellose Hochflut erleuchteter Schriften, die sowohl die Offenbarung der Grundgesetze Seiner Sendung als auch die Errichtung jenes Kleineren Bundes dokumentieren, der die Einheit Seiner Anhänger wahren und den Weg für das Kommen einer ungleich machtvolleren Offenbarung bereiten sollte. Zur gleichen Zeit, in den ersten Tagen Seiner Gefangenschaft in der Festung Chihríq, erkannten Seine Jünger klar die Unabhängigkeit des neugeborenen Glaubens und bekannten sich offen zu ihm. Waren die Gesetze der neuen Sendung durch ihren Verfasser in einer Gefängnisfestung in den Bergen Ádhirbáyjáns offenbart worden, so sollte nun die Sendung selbst auf einer Konferenz Seiner versammelten Anhänger im flachen Land an der Grenze Mázindaráns feierlich eingeführt werden.

 

Bahá’u’lláh, der durch regen Schriftverkehr enge Verbindung zum Báb hielt und als lenkende Kraft hinter den mannigfachen Tätigkeiten Seiner kämpfenden Glaubensgenossen stand, hatte den Vorsitz der Konferenz und wachte unaufdringlich, aber wirksam über ihren Verlauf. Der als Vertreter des konservativen Elements in dieser Versammlung geltende Quddús hatte den vorgefassten Plan, die bei einer solchen Konferenz mit Sicherheit zu erwartende Angst und Bestürzung zu dämpfen, und trat den von Táhirih leidenschaftlich verfochtenen, scheinbar überspitzten Ansichten entgegen. Der Hauptzweck der Versammlung war, die Offenbarung des Bayán durchzusetzen mittels eines plötzlichen, völligen und dramatischen Bruchs mit der Vergangenheit, mit ihrer Ordnung, ihrem Klerus, ihren Traditionen und Bräuchen. Außerdem sollte die Konferenz darüber beraten, wie man den Báb aus Seiner grausamen Haft in Chihríq befreien könnte. Der erste Zweck wurde mit größtem Erfolg erreicht, der zweite war von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

 

Schauplatz dieser herausfordernden und weittragenden Proklamation war der Weiler Badasht. Hier hatte Bahá’u’lláh in reizvoller Umgebung drei Gärten gemietet, einen wies Er Quddus zu, einen Táhirih und den dritten behielt Er für sich selbst. Die einundachtzig Jünger, die sich aus den verschiedenen Provinzen zusammenfanden, waren vom Tag ihrer Ankunft bis zu ihrer Abreise Seine Gäste. An jedem der zweiundzwanzig Tage Seines dortigen Aufenthalts offenbarte Er ein Tablet, das in Gegenwart der versammelten Gläubigen gesungen wurde. Jedem Gläubigen wies Er einen neuen Namen zu, ohne jedoch erkennen zu lassen, wer die Namen verlieh. Er selbst wurde hinfort mit dem Namen Bahá bezeichnet. Der letzte Buchstabe des Lebendigen empfing den Namen Quddús, Qurratu’l-Ayn den Titel Táhirih. Mit diesen Namen wurden sie hiernach alle vom Báb angeredet in den Sendbriefen, die Er für jeden einzelnen offenbarte.

 

Bahá’u’lláh, der stetig, unbeirrbar, aber auch unerwartet den Kurs jenes denkwürdigen Ereignisses steuerte, führte die Versammlung schließlich auf ihren dramatischen Höhepunkt. Eines Tages in Seiner Gegenwart – eine Erkrankung fesselte Ihn ans Bett – trat plötzlich Táhirih, die als reines, makelloses Sinnbild der Keuschheit und Verkörperung der heiligen Fátimah galt, geschmückt, aber unverschleiert vor die versammelten Gefährten und setzte sich zur Rechten des entsetzten, in Zorn geratenden Quddús. Mit feurigen Worten zerriß sie die Schleier, die die heiligen Riten des Isláms schützten, und verkündete, einem Fanfarenruf gleich, den Beginn einer neuen Sendung. Das schlug ein wie der Blitz. Die makellos Reine, so hoch geachtet, daß auch nur die Betrachtung ihres Schattens für unziemlich galt, schien im ersten Moment in den Augen ihrer schockierten Betrachter sich selbst verunehrt, Schande über den vertretenen Glauben gebracht und das unsterbliche Antlitz, dessen Symbol sie war, beschmutzt zu haben. Furcht, Zorn und Verwirrung fegten durch die Seelen und ließen sie erstarren. Abdu’l-Kháliq-i-Isfahání war so fassungslos entsetzt von dem, was er sah, daß er sich mit eigener Hand die Kehle aufschnitt. Blutbespritzt und wild erregt floh er vor ihrem Angesicht. Einige widerriefen ihren Glauben und verließen die Gefährten. Andere blieben stumm und entgeistert vor ihr stehen. Wieder andere mögen sich klopfenden Herzens der islámischen Tradition erinnert haben, derzufolge Fátimah selbst unverschleiert wiederkehren werde, wenn sie am verheißenen Gerichtstag die Brücke überschreitet. Quddús, stumm vor Wut, schien nur auf den Augenblick zu warten, da er sie mit dem Schwert, das er zufällig in der Hand trug, erschlagen könnte.

 

Unerschrocken, ruhig und mit triumphierender Freude erhob sich Táhirih und richtete an die noch verbliebenen Konferenzteilnehmer einen glühenden, sprachgewaltigen Aufruf, völlig frei und in einem Stil, der verblüffend an den Qur’án gemahnte, und schloß mit der kühnen Behauptung: »Ich bin das Wort, das der Qá’im sprechen muß, das Wort, das die Häupter und Edlen auf Erden in die Flucht schlagen wird!« Dann forderte sie die Anwesenden auf, einander zu umarmen und dieses große Ereignis zu feiern.

 

An diesem denkwürdigen Tag war das im Qur’án erwähnte »Horn« erschallt, ist laut der »betäubende Fanfarenstoß« erklungen und die »Katastrophe« eingetreten. Nach diesem aufsehenerregenden Abrücken von den altehrwürdigen Traditionen des Isláms erlebte die unmittelbar folgende Zeit einen wahren Umsturz in den Anschauungen, dem Verhalten, den religiösen Handlungen und der Art der Gottesverehrung bei diesen bis dahin eifrigen und ergebenen Verfechtern des mohammedanischen Gesetzes. Wie erregt auch die Konferenz von Anfang bis Ende verlaufen war, wie beklagenswert die Abspaltung der wenigen, die die Aufhebung der Grundbestimmungen des islámischen Glaubens nicht unterstützen wollten – ihr Zweck war voll und ruhmreich erfüllt. Nur vier Jahre zuvor hatte der Stifter der Bábí-Offenbarung in der Verborgenheit Seines Hauses in Shíráz Mullá Husayn gegenüber Seine Sendung erklärt. Drei Jahre nach jener Erklärung diktierte Er in den Mauern der Gefängnisfestung Máh-Kú Seinem Sekretär die entscheidenden Grundlehren Seiner Sendung. Ein Jahr darauf sagten sich in dem Dörfchen Badasht Seine Jünger unter der aktiven Führung ihres Mitjüngers Bahá’u’lláh vom qur’ánischen Gesetz los, indem sie sowohl den göttlich verordneten als auch den von Menschen gemachten Regeln des Glaubens Muhammads die Autorität aberkannten und sich der Fesseln seines veralteten Systems entledigten. Fast unmittelbar darauf rechtfertigte der Báb, noch immer ein Gefangener, selbst die Handlungsweise Seiner Jünger dadurch, daß Er in aller Form und rückhaltlos in Gegenwart des Thronerben, der führenden Vertreter der Shaykhí-Gemeinde und der berühmtesten geistlichen Würdenträger, die in der Hauptstadt Ádhirbáyjáns versammelt waren, Seinen Anspruch geltend machte, der verheißene Qá’im zu sein.

 

Etwas mehr als vier Jahre waren seit der Geburt der Bábí-Offenbarung vergangen, als der Posaunenruf ertönte, der feierlich das Erlöschen der alten und den Beginn der neuen Sendung kündete. Kein Pomp, kein Prunk kennzeichnete den großen Wendepunkt in der religiösen Geschichte der Welt. Sein bescheidener Beginn entsprach keineswegs der plötzlichen, überraschenden und vollständigen Emanzipation von den finsteren, kampfentschlossenen Mächten des Fanatismus, der Pfaffenlist, der religiösen Orthodoxie und des Aberglaubens. Die versammelte Schar bestand nur aus einer Frau und einer Handvoll Männern, die größtenteils aus den Reihen derer kamen, die sie angriffen, und die, mit wenigen Ausnahmen, nicht über Reichtum, Ansehen und Einfluß verfügten. Der Führer dieser Schar war abwesend, ein Gefangener in Feindeshand. Schauplatz war ein Weiler in der Ebene von Badasht an der Grenze von Mázindarán. Herold war eine einzelne Frau, die edelste Vertreterin ihres Geschlechts in dieser Sendung, selbst von einigen ihrer Mitgläubigen als Ketzerin bezeichnet. Der Ruf, den sie erschallen ließ, war das Grabgeläut des zwölfhundert Jahre alten islámischen Gesetzes.

 

Beschleunigt durch einen anderen Posaunenruf zwanzig Jahre später, der den Gesetzestext einer weiteren Sendung verkündete, gewann dieser Zerfallsprozess des überalteten, wenn auch gottgegebenen Gesetzes, weiter an Schwung. Er beschleunigte in späterer Zeit die Aufhebung des kanonischen Rechts der SharíAh in der Türkei, führte zur praktischen Preisgabe desselben Rechts im schiitischen Persien, hatte in jüngerer Zeit in Ägypten die Trennung des im Kitáb-i-Aqdas vorgesehen Systems vom sunnitischen Kirchenrecht zur Folge, bereitete den Weg für die Anerkennung des Systems im Heiligen Land und wird in der Säkularisierung der muslimischen Staaten und der universellen Anerkennung des Gesetzes Bahá’u’lláhs durch alle Nationen sowie seinem Einzug in die Herzen aller Völker der muslimischen Welt gipfeln.

 

Generic selectors
Exact matches only
Search in title
Search in content
Search in posts
Search in pages

Beginne damit, deinen Suchbegriff oben einzugeben und drücke Enter für die Suche. Drücke ESC, um abzubrechen.

Zurück nach oben