Tahirih

Vorwort

Wir haben das Glück in einer Zeit und in einem Land zu leben, in dem wir frei sind, unsere Meinung zu äußern und uns für die Dinge einzusetzen, von denen wir überzeugt sind. Doch dieses Privileg ist bei weitem nicht überall auf der Welt und seit jeher gegeben. In den nächsten Kapiteln werden Geschichten von jungen Menschen erzählt, die vor ca. 150 Jahren im heutigen Iran lebten und für ihre Überzeugungen verfolgt wurden. Sie standen, als die ersten Gläubigen einer neuen Religion, gegen die althergebrachten Normen, Traditionen und Wertvorstellungen und lehrten – im krassen Gegensatz zur damaligen patriarchalischen Gesellschaft – die Vision einer geeinten Menschheit, in der die Gleichberechtigung von Mann und Frau und die Harmonie von Religion und Wissenschaft Pfeiler der Gesellschaft sind.

Auch wenn wir heute in einer anderen gesellschaftlichen Situation leben, muss dennoch jeder Einzelne tagtäglich für seine Überzeugungen einstehen. Wir werden zwar nicht mit unserem Leben bedroht, es erfordert aber trotzdem Mut gegen Ungerechtigkeit und Hass einzutreten. Diesen Mut zu beweisen verbindet uns mit den Helden der Vergangenheit und lässt uns verstehen, was sie durchgemacht haben.

Sich dessen bewusst zu werden, dass sie sich nicht mal um Haaresbreite von dem abwandten, was sie als richtig und wahr angesehen haben, hinterlässt uns allen eine bleibende Inspiration und das angewandte Beispiel für aufrichtige Liebe gelebtem Glauben.

 

 

Táhirih, die mit bürgerlichem Namen Fátimih Umm Salamih hieß, war ein solch außergewöhnliches Kind, dass ihre Familie sie „Zarrín-Táj“ (die „Goldene Krone“) nannte. Sie wurde im Jahre 1817, im selben Jahr wie auch Bahá’u’lláh, geboren und stammte aus einer der angesehensten und gelehrtesten Familien Qazvins. Sie war schon immer ungewöhnlich wissbegierig, ein Musterbeispiel für eine Wahrheitsliebende. Eines Tages, als sie bei ihrem Cousin zu Besuch war, erblickte sie Bücher von Shaykh Ahmad und Siyyid Kázim, die sogleich ihre Aufmerksamkeit erregten. Sie war von dem Studium der Werke so fasziniert, dass sie Siyyid Kázim einen Brief schrieb, in dem sie ihm einige Fragen stellte. Die Antwort Siyyid Kázims gewann ihr Herz. Sie begann darauf eine Abhandlung zu verfassen, in der sie die Lehren Shaykh Ahmads in derart außergewöhnlich klaren und logisch zwingenden Worten bewies, dass Siyyid Kázim ihr den Titel „Qurratu‘l-‘Ayn“ („Trost der Augen“) verlieh. Als sie sich aufmachte Siyyid Kázim in Karbilá zu besuchen, musste sie nach ihrer Ankunft von Trauer überwältigt feststellen, dass dieser nur einige Tage zuvor verstorben war. Sie blieb dennoch in Karbilá und verbrachte ihre Zeit mit Meditation, Gebet, Fasten und lehrte die Prinzipien ihres Meisters. Eines Nachts hatte sie einen merkwürdigen Traum. Sie sah einen schönen, jungen Mann am Himmel stehen. Dieser trug einen grünen Turban und einen schwarzen Umhang. Er betete und sprach immer wieder bestimmte Verse. Sie erwachte und schrieb einen der Verse, den sie sich gemerkt hatte, in ihr Notizbuch nieder. Irgendwann erfuhr sie, dass ihr Schwager Mirzá Muhammad-‘Alí Qazvini sich auf die Suche nach dem Verheißenen begeben würde, auf dessen Kommen Siyyid Kázim vor seinem Tod so eindringlich hingewiesen hatte. Sie übergab ihm einen versiegelten Brief mit der Bitte, diese dem Verheißenen auszuhändigen. Als Mirzá Muhammad-‘Alí den Báb fand, überreichte er Ihm den Brief von Táhirih. Nachdem der Báb diesen gelesen hatte, ernannte Er sie zum siebzehnten Buchstaben des Lebendigen. Das geistige Band, das zwischen Táhirih und dem Báb herrschte, ist äußerst faszinierend. Obgleich sie sich niemals begegneten und niemals begegnen sollten, ernannte der Báb sie zu einem Seiner Buchstaben des Lebendigen. Sie wiederum erfühlte in der Person des Báb die Gegenwart Gottes, ohne Ihn jemals gesehen zu haben. In einem Sendschreiben entdeckte sie zu ihrem großen Erstaunen, dass der Báb darin denselben Vers offenbarte, den sie sich aus ihrem Traum zuvor gemerkt hatte. Táhirih widmete fortan jeden Moment ihres turbulenten Lebens der Verbreitung der Sache des Báb. Sie studierte alle Schriften, die ihr zugänglich waren und übersetzte einige aus dem Arabischen ins Persische, so z.B. den Qayyúmu’l Asmá. Sie selbst verfasste auch zahlreiche Gedichte und Abhandlungen.

Ihr mutiges und offenes Auftreten für die Sache ihres Meistgeliebten erregte sehr bald den fanatischen Groll der Geistlichkeit in Karbilá. Dennoch lehrte sie uneingeschüchtert weiter und gewann zahlreiche Anhänger für den neuen Glauben. Sie beschloss nach Persien zu reisen und unterwegs überall, in jeder Stadt, durch die sie kam, den Glauben zu verkünden. In Tihrán wurde sie auf Betreiben ihres früheren Ehemannes, dem fanatischen Muhammad Baraqani, verhaftet. Bahá’u’lláh sorgte jedoch dafür, dass Táhirih nach nur neun Tagen aus ihrer Haft gerettet und unbemerkt in Sein Haus verbracht werden konnte. Ebenso wie sie durch die Reinheit ihres Herzens und die Unbeflecktheit ihres Geistes die Stufe des Báb erkannte, war es ihr möglich auch die Herrlichkeit Bahá’u’lláhs anzuerkennen. Bahá’u’lláh selbst bestätigt in einem Tablet, dass Táhirih und Quddús noch lange vor der Episode im Siyyah Chal um Seine Stufe wussten. In einem Tablet sagt Bahá’u’lláh, dass es unter den Gedichten Táhirihs zahlreiche gibt, die auf Seine größte Offenbarung anspielen. In der Zeit als Táhirih im Hause Bahá’u’lláhs in Tihrán untergebracht wurde, ereignete sich einmal folgende Episode, die vom Größten Heiligen Blatt nacherzählt wird und von Lady Blomfield festgehalten ist:

 

„Als kleiner Junge saß Er (‘Abdu‘l-Bahá) damals auf dem Schoß von Táhirih im Privatgemach Seiner Mutter Asíyih Khánum. Da die Zimmertür aufstand, konnten sie hinter dem Vorhang die Stimme von Vahíd hören, der ‚mit meinem Vater‘ sprach und ‚argumentierte‘. Als Táhirih … aufgefordert wurde das Kind zu lassen und endlich mit Vahíd zu sprechen, der bereits geraume Zeit auf sie gewartet hatte, sprach sie diese prophetischen Worte zu ‘Abdu’l-Bahá: ‚Soll ich dich, du Beschützer des Glaubens, verlassen und mit einem Anhänger des Glaubens sprechen?‘ Qurratu‘l-‘Ayn, diese schöne, furchtlose Dichterin, wandte sich an den Siyyid und sprach mit ihrer melodischen aber eindringlichen Stimme: ‚O Siyyid! Jetzt ist nicht die Zeit für Streitgespräche und Diskussionen, für unnützes Wiederholen von Prophezeiungen und Überlieferungen! Jetzt ist es Zeit zum Handeln! Die Tage der Worte sind vorüber! Wenn du Mut besitzest: Jetzt ist die festgesetzte Stunde, ihn zu beweisen. Wenn du ein Mann der Tat bist, so erbringe einen Beweis deiner Mannhaftigkeit und verkünde Tag und Nacht: ‚Der verheißene Vorbote ist gekommen! Er ist gekommen, der Qá‘im, der Imám, der Ersehnte ist gekommen! Er ist gekommen!‘.; ‘Abdu’l-Bahá erzählte, Er erinnere sich sehr deutlich an diese Episode. Der Ausdruck der Begeisterung auf ihrem lieblichen, strahlenden Gesicht, als sie diese anfeuernden Worte hinter dem Türvorhang sprach, war wunderbar und eindrucksvoll. ‘Abbás Effendi fügte hinzu: ‚Bei ihrem kurzen Besuch nahm sie mich oft auf den Schoß, liebkoste mich und sprach zu mir. Ich empfand für sie die tiefste Bewunderung.‘ “

 

Táhirih hatte einen solch hohen Rang in dieser Sendung inne, dass der Báb sie eigens mit der Verantwortung betraute, viele Verordnungen aus Seinen frühen Schriften, wie die Haltung der Bábí gegenüber bestimmten Gesetzen des Islam oder die Durchführung Seiner eigenen Gebote, unter den Gläubigen durchzusetzen. Sie war ein unerschütterlich revolutionärer Geist, mutig und tapfer. So erschien sie im Jahre 1846 zum 1.Muharram, dem jährlichen Gedenktag des Martyriums von Imám Husayn, an dem jeder schiitischer Moslem schwarz trägt, mit feierlicher Kleidung und mit Henna verziert, da der 1.Muharram zugleich der Geburtstag des Báb ist und  – wie Táhirih es ausdrückte – ein Tag der Freude, nicht der Klage sei. Für diesen Eintritt eines geistigen Paradigmenwechsels, wurde sie wenig später gefangen genommen. Ihr Bruch mit alteingessesenen Normen und alten Denkenmustern, spiegelte sich besonders während der Konferenz von Badasht im Jahre 1848 wider. Bei diesem Anlass sollte sie, durch die Ablegung des Schleiers, den Beginn eines neuen Zeitalters einleiten. Über die Auswirkung ihrer gewaltigen Tat bei der Konferenz von Badasht sagt Bahá’u’lláh:

 

„Von welcher Bestürzung wurden an diesem Tag die Gefährten erfasst! Angst und Verwirrung erfüllte ihr Herz. Einige, die nicht ertragen konnten, was für sie eine revolutionäre Abweichung von den feststehenden Sitten des Islam war, flohen entsetzt vor ihrem Angesicht.“

 

Dort in Badasht war es auch, dass sie von Bahá’u’lláh den Titel „Táhirih“ erhielt, ein Titel, den der Báb bestätigte. In der Folgezeit der Konferenz wurde Táhrih wieder gefangen genommen. Násiri‘d-Din Sháh war derart von Táhirihs Schönheit und Persönlichkeit begeistert, dass er sie mehrfach drängte den Glauben an den Báb aufzugeben und seine Frau zu werden, um so ihrer Gefangenschaft zu entgehen. In einem Brief an den jungen König schrieb Táhirih ihm in poetischen Worten:

 

„Der Ruhm, das Reich und die Herrschaft für dich,

Die Armut, Trübsal und die Unrast für mich,

Wenn dein Los dir gefällt, so sei es dein,

Und meine rastlose Welt und das Opfer für mich:

Ich verlange danach, es sei mein!“

 

Násiri’d-Din Sháh soll, nachdem er ihren Brief las, bemerkt haben: „Bislang hat uns die Geschichte keine Frau ihresgleichen gezeigt.“ Drei Jahre blieb Táhirih in Haft, ehe sie im August des Jahres 1852 den Märtyrertod erlitt. Zu ihrer Todesstunde kleidete sie sich, zur Wiedervereinigung mit ihrem wahren Geliebten, mit einem Hochzeitsgewand von schneeweißer Seide. Sie erduldete, als sie mit ihrem eigenen seidenen Halstuch erdrosselt wurde, den langsamen Tod mit übermenschlicher Stärke. Ihre letzten Worten waren zugleich eine Prophezeiung für die Zukunft: „Sie können mich töten, sobald es ihnen beliebt, aber es wird ihnen nicht gelingen, die Emanzipation der Frauen aufzuhalten.“

 

Táhirih, diese unsterbliche Heldin, nimmt in der Sendung des Báb eine einzigartig bedeutsame Stufe ein. Sie war unter den Buchstaben des Lebendigen die einzige Frau und erkannte den Báb intuitiv, ohne Ihm jemals begegnet zu sein. Sie gilt in der Offenbarung des Báb als die Wiederkunft Fátimihs, der ehrenwerten Tochter Muhammads und ist die Verkörperung aller vollkommenen Tugenden. Shoghi Effendi schreibt:

 

Ihre Laufbahn war blendend und kurz, tragisch und ereignisreich. Im Gegensatz zu ihren Mitjüngern, deren Taten größtenteils nicht bekannt wurden und unbesungen blieben von ihren ausländischen Zeitgenossen, erscholl der Ruhm dieser unsterblichen Frau auch im Ausland und drang bemerkenswert schnell in die westeuropäischen Hauptstädte vor, wo Männern und Frauen der verschiedensten Nationen, Berufe und Kulturen sie begeistert feierten und aufs höchste priesen. … ‚Ihre Eloquenz‘, schrieb ‘Abdu’l-Bahá, ‚war der Schrecken ihres Zeitalters, und ihre Vernunft versetzte die Welt in Aufruhr‘. …‚Die Erscheinung einer Frau wie Qurratu‘l-‘Ayn‘, schrieb der bekannte britische Orientalist Prof. E. G. Browne, ‚ist in jedem Land und zu allen Zeiten selten, aber für ein Land wie Persien ist es ungeheuerlich, ein wahres Wunder. … Hätte die Bábí-Religion sonst nichts zum Beweis ihrer Größe, so reichte es aus,… dass sie eine Heldin wie Qurratu‘l-‘Ayn hervorbrachte.‘ ‚Die von Táhirih in den islamischen Ländern ausgestreute Saat‘, schreibt der angesehene englische Geistliche Dr.T.K.Cheyne in einem seiner Bücher vielsagend, ‚beginnt aufzugehen … Diese edle Frau … hat den Verdienst, das Werk der sozialen Reformen in Persien eröffnet zu haben.‘ ‚Zweifellos eine der auffallendsten und interessantesten Erscheinungen in dieser Religion‘, schreibt der bekannte französische Diplomat und glänzende Schriftsteller Graf Gobineau über sie und fügt hinzu: ‚In Qazvín wurde sie mit Recht für ein Wunder gehalten.‘ ‚Viele Menschen‘, schreibt er weiter, ‚die sie gekannt und zu verschiedenen Zeiten ihres Lebens gehört haben, haben mir versichert,… dass sie sich, wenn sie sprach, zutiefst aufgewühlt fanden, dass sie voll Bewunderung und und zu Tränen gerührt waren.‘ ‚Keine Erinnerung‘, schreibt Sir Valentine Chirol, ‚ruft tiefere Verehrung wach und entfacht mehr Begeisterung als die Erinnerung an sie, und der Einfluss, den sie zu Lebzeiten ausübte, stärkt noch heute ihr Geschlecht.‘… ‚Das höchste Frauenideal war Táhirih‘, lautet der Tribut, den ihr die Mutter eines österreichischen Präsidenten, Frau Marianne Hainisch, zollt, ‚ich will versuchen, für die Frauen Österreichs das zu tun, wofür Táhirih ihr Leben gab, um es für die Frauen von Persien zu erreichen.‘ “

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