(c) Bahá’í-Verlag GmbH, D-65719 Hofheim 1995-154 , ISBN 3-87037-330-x , 421-052
DIE SIEBEN TÄLER
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen!
Preis sei Gott, Der das Sein aus dem Nichtsein gerufen, Der die Geheimnisse urewigen Vorseins in die Tafel des Menschen gegraben, ihn aus dem Bayán1 das, was er nicht wußte, gelehrt hat und aus ihm ein offenbares Buch gemacht hat für die, die glauben und gehorchen, Der ihn zum Zeugen der Schöpfung aller Dinge (Kull-i-Shay‘) in diesen Tagen der Finsternis und Trübsal befähigt und ihn auf der erhabensten Höhe der Ewigkeit in »Seinem edelsten Tempel«2 die wunderbarsten Weisen ertönen läßt, die jedem ermöglichen, in sich, durch sich und durch die Stufe der Offenbarung seines Herrn zu bezeugen, daß in Wahrheit kein Gott außer Ihm ist, und so zu den Gipfeln der Wirklichkeit emporzusteigen, bis er in allen Dingen nichts außer Gott sieht.
1 Gesetzbuch des Báb
2 dem Offenbarer
Segen und Heil dem ersten Meer, das sich aus dem Meer der Wesenheit Gottes ergossen, dem ersten Morgen, der vom Horizonte der Einheit dämmerte, der ersten Sonne, die am Himmel der Ewigkeit erstrahlte, der ersten Flamme, die in der Lampe der Einzigkeit am Lichte des Vorseins entfacht ward, Dem, Der in der Welt der Erhabenen Ahmad heißt, Muhammad in der Versammlung der Gott Nahen und Mahmúd im Königreich der Geweihten!1 »Und wie immer ihr Ihn anrufet: Er ist der Herr der erhabensten Namen in den Herzen derer, die wissen«.2
1 Muhammad, Ahmad und Mahmúd sind Namen und Titel des Offenbarers, abgeleitet von dem Verb für »loben, erhöhen«.
2 Qur’án 17:110
Überströmender, dauernder und ewiger Friede sei auf Seinem Hause und auf Seinen Gefährten!
Wahrlich, Ich habe das Lied gehört, das die Nachtigall der Erkenntnis in den Ästen des Baumes deines Seins gesungen, und vernommen, was die Taube der Gewißheit in den Zweigen der Laube deines Herzens gegirrt hat. Es war, als hätte Ich beim Lesen deines Briefes den Wohlgeruch vom Kleide deiner Liebe geatmet und mit dir vollkommene Begegnung gefunden. Und da du deine Nichtswerdung in Gott und dein Leben durch Ihn und deine Liebe zu Gottes Geliebten, zu den Offenbarungen Seiner Namen und den Orten des Aufgangs Seiner Attribute erwähnt hast, will Ich dir einige heilige, leuchtende Zeichen der Stufen der Herrlichkeit geben, auf daß du hingezogen werdest zum Hofe der Heiligkeit, Nähe und Schönheit und dorthin gelangest, wo du in der Schöpfung nichts mehr siehst außer dem verklärten Glanz deines Geliebten, des Ehrwürdigen, und du nicht mehr der Geschöpfe gedenkst, es sei denn wie an dem Tage, da nichts erwähnt wird.
Dies ist es, wovon die Nachtigall der Einzigkeit im Garten Ghawthíyyih1 gesungen: »Auf der Tafel deines Herzens wird zu lesen sein das zarte Geheimnis. Fürchte Gott, und Gott wird dir Erkenntnis verleihen2, und der Vogel deiner Seele soll sich des Heiligtums ewigen Vorseins erinnern und sich auf Flügeln der Sehnsucht zum Himmel des `Wandle auf dem Pfade deines Herrn`3 erheben und von den Früchten der Gemeinschaft in den Gärten des `Alsdann esset von jeglichen Früchten` sammeln«.3
1 Worte ‚Alís, des Schwiegersohns und Nachfolgers Muhammads
2 Qur’án 2:282
3 Qur’án 16:71
Bei meinem Leben, o Freund, würdest du von diesen Früchten aus dem grünenden Garten dieser Blüten genießen, die da aus dem Boden der Erkenntnis unter dem Lichte der Wesenheit Gottes erwachsen, das aus den Spiegeln der Namen und Attribute zurückstrahlt, so würde dir das Verlangen die Zügel der Geduld und Beherrschung aus den Händen reißen, deine Seele durch das Leuchten des Göttlichen Lichtes erbeben lassen, dich weit aus der Heimat des Staubes zu der wirklichen göttlichen Heimat im Mittelpunkt der wahren Bedeutung entführen und dich aufsteigen lassen zu einer Ebene, auf der dich die Lüfte so tragen, wie du auf der Erde einhergehst, und du auf dem Wasser wandelst wie auf dem Lande. Möchte es Mich und dich und jeden erfreuen, der zum Himmel der Erkenntnis emporsteigt, und dessen Herz dadurch erfrischt ist, daß der Zephir der Gewißheit über den Garten seiner innersten Seele von dem Saba des Allbarmherzigen her weht.
Friede sei mit dem, der den Rechten Weg geht!
Der Stufen, die den Weg des Wanderers von der irdischen Wohnung zur Göttlichen Heimat bezeichnen, werden sieben gezählt, von manchen als »Sieben Täler«, von anderen als »Sieben Städte« bezeichnet. Und es heißt, daß der Wanderer nicht eher zum Meer der Nähe und Einheit gelangen noch von dem unvergleichlichen Weine trinken wird, als bis er sein Ich aufgegeben und die Reise vollendet hat.
Das erste Tal ist das Tal des Suchens
und Geduld ist das Fahrzeug, mit dem man hindurchgelangt. Ohne Geduld findet der Wanderer zu keinem Ende noch Ziel. Nie darf der Mut ihm entsinken, und müßte er hunderttausend Jahre lang sich bemühen, ohne die Schönheit des Freundes zu schauen, so dürfte er doch nicht verzagen, denn jene, die die Ka’bih1 des »hin zu Uns« zu finden bestrebt sind, wird die Verheißung erfreuen: »Wir werden sie leiten auf Unseren Wegen.«2 Sie haben sich in ihrem Suchen mit Festigkeit zu dienen entschlossen und trachten unablässig danach, sich von der Stätte der Nachlässigkeit abzukehren und der Welt des Seins zuzuwenden. Kein Band hält sie auf, und kein Rat kann sie hindern.
1 Heiligtum in Mekka, hier bedeutet es »Ziel«
2 Qur’án 29:69, eigentlich: »Die aber sich treulich um Uns mühen, die werden Wir leiten auf Unseren Wegen.«
Das Herz dieser Diener, die Quelle göttlicher Schätze, muß frei sein von jedem Makel; sie dürfen nicht länger blindlings die Bräuche ihrer Väter und Ahnen befolgen und müssen das Tor des Freundlich- oder Feindlichseins für alle Bewohner der Erde verschließen.
Auf dieser Wanderung wird der Suchende eine Stufe erreichen, auf der er alle Geschöpfe in verwirrter Suche nach dem Freunde sieht. Wie manchen Jakob wird er erblicken, der seinem Josef nachjagt, wie manchen Liebenden gewahren, den das Verlangen nach dem Geliebten treibt, und eine Welt von Sehnenden tut sich ihm auf, die nach dem Ersehnten suchen. Jeder Augenblick läßt ihn bedeutsames Neues, jede Stunde ein Geheimnis erschauen, denn sein Herz ist gelöst von dieser und der anderen Welt, er ist auf dem Weg zur Ka’bih des Geliebten. Die Hilfe des Unsichtbaren umgibt ihn bei allen seinen Schritten, und die Glut seines Suchens ist entfacht.
Ermeßt das Suchen an dem Majnún der Liebe.1 Es heißt, daß man Majnún eines Tages erblickte, wie er tränenden Auges die Erde siebte. Man fragte ihn: »Was machst du da?« Er sprach: »Ich suche nach Laylí.« Da sagte man zu ihm: »Weh dir! Ist Laylí doch reinen Geistes und du suchst sie im Staube.» Er antwortete: »Ich suche sie überall, vielleicht, daß ich sie irgendwo finde.«
1 Majnún bedeutet wörtlich »wahnsinnig«. Es ist der Name des berühmten Liebenden in der arabischen und persischen Dichtung, dessen Geliebte Laylí war, die Tochter eines arabischen Prinzen. In ihnen ist die echte, menschliche Liebe verkörpert, die an die Göttliche grenzt. Die Geschichte findet sich in vielen schwärmerischen persischen Gedichten, vor allem bei Nizámi von Ganja (1140-1202) im 3. Stück seines Panj Garj (5 Schätze) von 1188/89.
Fürwahr, wenn die Weisen auch sagen, es zieme sich nicht, den Herrn der Herren im Staub zu suchen, so zeugt solch ein Tun doch von heißestem Verlangen des Suchens. »Wer sucht mit Bemühen, wird sicherlich finden.«1
1 Arabisches Sprichwort
Der wahrhafte Sucher verfolgt nichts als den Gegenstand seines Verlangens, und der Liebende hat kein Ziel als die Vereinigung mit dem Geliebten. Doch wird der Sucher nur dann sein Ziel erreichen, wenn er allen Dingen entsagt: er muß alles, was er gesehen, gehört und verstanden hat, in den Wind schlagen können, um in das Reich des Geistes zu kommen, das die Stadt Gottes ist. Ernste Bemühung ist nötig in unserem Suchen nach Ihm und heißer Eifer, damit wir den Honig der Vereinigung mit Ihm zu kosten vermögen. Doch trinken wir aus diesem Kelch, so werden wir die Welt von uns werfen.
Auf dieser Wanderung wird der Reisende in allen Ländern verweilen und überall wohnen. In jedem Antlitz sucht er die Schönheit des Freundes, und in jedem Land schaut er nach dem Geliebten aus. Keine Gesellschaft meidet er, und sucht die Gemeinschaft mit einem jeden, damit er vielleicht das Geheimnis des Freundes in irgendeiner Seele entdecke oder die Schönheit des Geliebten in irgendeinem Angesicht schaue.
Wenn es ihm auf dieser Wanderung mit Gottes Hilfe gelingt, eine Spur des unauffindbaren Freundes zu finden und von dem Göttlichen Boten den Duft des verlorenen Josef1 zu spüren, dann wird er sofort das
1 Bezieht sich auf die Josefsgeschichte im Alten Testament und im Qur’án
Tal der Liebe
betreten und im Feuer der Liebe zerschmelzen.
Über dieser Stadt erhebt sich der Himmel des Entzückens, die alles erleuchtende Sonne der Sehnsucht scheint, und das Feuer der Liebe ist entfacht, und wenn das Feuer der Liebe entflammt ist, wird es die Ernte der Vernunft zu Asche verbrennen.
In diesem Zustand ist sich der Wanderer weder seiner selbst noch dessen, was außer ihm ist, bewußt. Er sieht weder Wissen noch Unwissenheit, weder Zweifel noch Gewißheit, noch erkennt er den Morgen der Führung oder die Nacht des Irrtums. Er flieht vor Unglaube und Glaube, und tödliches Gift ist ihm köstlich. Es ist wie ‚Attár gesagt hat:
»Lasset die Ungläubigen irren, die Gläubigen glauben; ‚Attárs Herz sucht nichts als ein Atom Deines Leides!«
Schmerz ist in diesem Tal das Fahrzeug, ohne das man niemals die Reise vollendet. In diesem Zustand hat der Liebende keinen anderen Gedanken als an den Geliebten, und er sucht keine Zuflucht außer beim Freunde. Auf dem Pfad zum Geliebten wird er hundertmal willig das Leben opfern und bei jedem Schritt tausendmal das Haupt zu Füßen des Freundes legen.
O mein Bruder! Ehe du nicht in das Ägypten der Liebe eingehst, wirst du nicht dem Josef der Schönheit des Freundes begegnen; und ehe du nicht wie Jakob nach außen erblindest, wirst du nie mit dem inneren Auge schauen. Solange du nicht vom Feuer der Liebe entflammt bist, wirst du dich nicht mit dem Freunde der Sehnsucht vereinen.
Der Liebende fürchtet nichts, und kein Leid kann ihm etwas antun. Du findest ihn kühl im Feuer und trocken im Meere: »Ein Liebender ist, wer kalt im Feuer der Hölle, ein Wissender, wer trocken bleibt in der Tiefe des Meeres.«1
1 Mystischer persischer Vers.
Liebe trägt keine Sehnsucht nach Dasein und hängt nicht am Leben. Sie sieht Leben im Tod und sucht Ruhm in der Schande. Ein Übermaß an geistiger Gesundheit ist nötig, ehe jemand des Wahnsinns der Liebe würdig, und eine Fülle von Geist, bis er der Bande des Freundes wert wird. Gepriesen der Hals, der in Seiner Schlinge sich gefangen, und glücklich das Haupt, das auf dem Pfad Seiner Liebe gefallen! Darum, o mein Freund, entsage deinem Selbst, auf daß du den Unvergleichlichen findest. Gehe an dieser sterblichen Erde vorüber, um in dem himmlischen Neste eine Heimat zu suchen. Werde zu Nichts, wenn du das Feuer des Seins zu entfachen wünschst, und sei bereit zum Weg der Liebe:
»Nicht befällt die Liebe die lebensgierige Seele, nicht jagt der Falke der leblosen Maus nach«.1
1 Mystischer persischer Vers
Liebe setzt in jedem Augenblick eine Welt in Flammen und zerstört alle Länder, in denen sie ihr Banner entfaltet. In ihrem Land hat das Dasein keinen Platz, und in ihrem Reich ist kein Raum für die Weisen. Sie verschlingt wie ein Ungeheuer die Vernunftbegabten und vernichtet die Einsichtsvollsten. Sieben Meere verschlingt sie, ohne den Durst ihres Herzens zu stillen, und spricht noch: »Gibt es da kein anderes mehr?«1 Sie flieht vor sich selbst und wendet sich von allem ab, was auf Erden ist: »Die Liebe ist Erde und Himmel fremd, in ihr ist zweiundsiebenzigfältiger Wahnsinn«2
1 Qur’án 50:29
2 Jalálu’d-Dín-Rúmí (1207-1273), genannt Mawláná (Meister). Er ist der größte persische Súfí-Dichter und der Begründer der Mawlaví, des »wirbelnden« Derwisch-Ordens. Verfasser des Mathnaví, ein Gedicht in 6 Büchern (ca. 1246-1273).
Zahllose Opfer fängt die Liebe in ihren Schlingen, und unzählige Weise werden durch ihre Pfeile verwundet. Alles Rot in der Welt rechne ihrem Zorn zu und alle Blässe in den Gesichtern der Menschen ihrem Gifte. Sie kennt keine andere Heilung als den Tod und keine andere Zuflucht als im Tal des Nichtseins. Und dennoch ist dem Liebenden ihr Gift süßer als Honig und dem Suchenden das Nichtsein, das sie verursacht, erwünschter als hunderttausendfältiges Leben.
Darum muß das Feuer der Liebe die Schleier des teuflischen Selbstes verbrennen, damit der Geist geläutert und rein sei und die Stufe des Herrn der Welten erkenne. »Entfach‘ das Feuer der Liebe und verbrenne alle Dinge, dann geh in der Liebenden Land ein«1
1 Aus einem religiösen Gedicht Bahá’u’lláhs.
Ist der Liebende durch Gottes Beistand den Krallen des Adlers der Liebe entronnen, so gelangt er in das
Tal der Erkenntnis
und er wird vom Zweifel zur Gewißheit, vom Dunkel der Täuschung zum Lichte der Führung in der Gottesfurcht kommen. Er wird mit dem Auge des inneren Schauens sehen und in vertraute Zwiesprache mit seinem Geliebten treten. Er wird die Pforte der Wahrheit und Ehrfurcht öffnen und die Türen der eitlen Einbildungen schließen. In diesem Zustand wird er sich dem Ratschluß Gottes ergeben, im Krieg den Frieden erblicken und im Tod die Geheimnisse ewigen Lebens erkennen. Mit den inneren und äußeren Augen sieht er die Geheimnisse der Auferstehung im Bereich der Schöpfung und in den Seelen der Menschen, und ein reines Herz läßt ihn die ewige Weisheit in den unendlichen Offenbarungen Gottes erfühlen. Im Meer erblickt er gleichsam einen Tropfen und in einem Tropfen das Geheimnis des Meeres:
»Spalte den Kern des Atoms auf, so findest du eine Sonne darin«1
1 Mystischer persischer Vers
In diesem Tal sieht der Wanderer in Gottes Werk nichts als deutliche Schickung, und immerzu muß er rufen: »Es gibt keinen Makel in des barmherzigen Gottes Schöpfung. Schau nur um dich, ob du den mindesten Fehler siehst!«1
1 Qur’án 67:3
Er wird die Gerechtigkeit in der Ungerechtigkeit und die Gnade in der Gerechtigkeit schauen, manche Erkenntnis sehen, die in der Unwissenheit schlummert, und in der Erkenntnis hunderttausendfache Weisheit erblicken. Er zerbricht den Käfig des Körpers und der Leidenschaften und verbindet sich mit den Bewohnern des unsterblichen Reiches. Er steigt auf den Stufen der inneren Wahrheit empor und eilt zu den Himmeln der inneren Bedeutung. Er schifft sich in die Arche des »Wir werden ihnen Unser Zeichen in der Welt und in ihnen selber weisen«1 ein, und er fährt über das Meer des »bis daß ihnen offenbar wird, daß dies (d.h. das Buch) die Wahrheit ist«.1 Wenn ihn Ungerechtigkeit trifft, so ist er geduldig, ist er das Opfer des Zorns, so vergilt er mit Liebe.
1 Qur’án 41:53
Es wird erzählt, wie ein Liebender Mann durch lange Jahre hindurch unter den Qualen der Trennung von der Geliebten gelitten hatte und vom Feuer des Fernseins verzehrt ward. Durch die Gewalt der Liebe wurde sein Herz der Geduld bar und sein Körper des Lebens müde. Leben ohne sie schien ihm Blendwerk, und die Zeit begann, ihn zu verzehren. Wie viele Tage verbrachte er ruhelos in Sehnsucht nach ihr, und in wie vielen Nächten floh ihn der Schlaf in seinem Schmerz nach ihr. So wurde sein Körper zum Seufzer, und die Wundheit seines Herzens machte ihn zum Wehlaut. Vergebens hätte er tausend Leben verschenkt, um nur einen Tropfen vom Wein ihrer Gegenwart zu kosten; aber es gelang ihm nicht. Kein Arzt vermochte ihn zu heilen, und seine Nähe wurde von den Freunden gemieden. Ärzte kennen kein Mittel, um Liebe zu heilen, nur die Hand der Geliebten vermag ihm zu helfen.
Schließlich trieb der Baum seiner Sehnsucht die Frucht der Verzweiflung, und das Feuer seiner Hoffnung erstarb in der Asche, so daß er eines Abends lebensmüde sein Haus verließ und die Straße hinauszog. Plötzlich gewahrte er, wie ihn eine Nachtwache verfolgte. Er versuchte zu fliehen, doch die Wache eilte ihm nach, und es wurden ihrer viele, so daß ihm am Ende jeder Ausweg verstellt war. Gehetzt schrie er auf, lief ohne Ziel hin und her und stöhnte:
»Gewiß ist diese Wache ‚Izrá’il, mein Engel des Todes, daß sie sich so eilt, mich zu packen, oder es ist ein Menschenschinder, der nach mir greift.«
So kam dieser weidwunde Liebende mit Füßen, die liefen, und einem Herzen, das ächzte, bis an die Mauer eines Gartens, die er mit größter Mühe erklomm. Aber oben angelangt, erkannte er ihre schwindelnde Höhe und stürzte sich, sein Leben nicht achtend, hinab in den Garten.
Doch siehe, welch ein Anblick! Dort war seine Geliebte, eine Lampe in der Hand, einen Ring suchend, den sie verloren hatte. Und als er, der sein Herz verloren, sie, die es ihm geraubt hatte, ansah, entrang sich ihm ein Seufzer der Erlösung, und er rief, die Hände zum Himmel erhoben:
»O Gott, gib der Wache Ruhm, Reichtum und langes Leben, denn sicher war sie der Engel Gabriel, der mich geführt hat, oder Isráfil, der Engel des Lebens, der mich, den Gequälten, erquickte.«
Dieser Mann hatte recht, denn wieviel Gerechtigkeit und Erbarmen waren in der scheinbaren Grausamkeit jener Wache verborgen! In ihrem Grimm hatte sie den in der Wüste der Liebe Verdurstenden zum Meere der Geliebten geführt und die Finsternis der Trennung durch das Licht des Wiedersehens vertrieben. Sie hatte den Entfernten in den Garten der Nähe und die leidende Seele zum Arzte des Herzens geleitet.
Hätte der Liebende im voraus den Ausgang gesehen, so hätte er von Anfang an die Wache gesegnet und für sie gebetet, in ihrer Grausamkeit die Gerechtigkeit erkennend; doch da er das Ende nicht absah, begann er von Anfang an zu klagen und zu weinen. Die Wanderer aber in den Gärten der Erkenntnis sehen das Ende im Beginn und darum den Frieden im Krieg und die Freundlichkeit im Zorn.
Dies ist der Zustand derer, die in diesem Tal sind. Was indessen die Wanderer in den höheren Tälern betrifft, so machen sie keinen Unterschied mehr zwischen Anfang und Ende, sie sehen weder Anfang noch Ende, weder »Erstes« noch »Letztes«1, ja, die, die in der Stadt der Ewigkeit in dem grünenden Garten wohnen, sehen nicht einmal das »weder Erstes noch Letztes«. Überall fliehen sie das »Erste« und bekämpfen das »Letzte«, sind sie doch durch die Reiche der Namen gewandert und haben die Welten der Eigenschaften durchmessen mit der Schnelle des Blitzes. Wie die Überlieferung sagt: »Die wahre Göttliche Einheit kennt keinerlei Eigenschaften«.2 Sie wohnen unter dem Schatten der Wesenheit Gottes.
1 Qur’án 57:3 2 Wird Alí zugeschrieben
Es ist so, wie Khájih Abdu’lláh1 – Gott heilige seinen herrlichen Geist – in seiner feinsinnigen, beredten Erklärung des Verses: »Zeige uns den richtigen Weg«2 gesagt hat:
1 Shaykh Abú Ismá’íl-Abdu’lláh Ansárí aus Hirát (1O06-1088), Súfí-Führer und Nachkomme von Muhammads Begleiter Abú Ayyúb. Verfasser der Munáját (Bittgebete) und der Rubá’íyyát (vierzeilige Strophen). »Ansár« bedeutet »Helfer« oder Begleiter Muhammads in Medina.
2 Qur’án 1:5
»Zeige uns den richtigen Weg, heißt, ehre uns mit der Liebe Deiner Wesenheit, so daß wir von jedem Gedanken an uns und an alles andere außer Dir befreit und von Dir allein erfüllt sind, nichts kennen als Dich, nichts sehen als Dich und an nichts denken außer an Dich.«
Nein, sie erheben sich sogar über diese Stufe hinaus, denn es heißt:
»Liebe ist ein Schleier zwischen dem Liebenden und dem Geliebten. Mehr darf ich nicht sagen«1
1 Rúmí
In dieser Stunde ist der Morgen der Erkenntnis emporgestiegen, und die Wanderlampen verlöschen:1 »Durch Schleier davon getrennt war Moses trotz all Seiner Kraft und Seinem Licht. Du, der du gar keine Schwingen hast, versuch nicht zu fliegen«.2
1 »Lösch die Lampe, wenn die Sonne erschienen ist« (Alí) – Die Sonne bezieht sich auf den Offenbarer Gottes am neuen Tag. Eine Warnung, keinen menschlichen Führern zu folgen, wenn der Tag des göttlichen Offenbarers erschienen ist. Nach der Súfí-Lehre erfolgt die mystische Wanderung und Suche nach der Wahrheit unter der Führung des »Lichtes«, d.h. der Súfí-Führer.
2 Rúmí
Bist du ein Mensch der Einkehr und des Gebetes, dann fliege auf mit den Flügeln des Beistandes heiliger Seelen, um die Geheimnisse des Freundes zu sehen und zum Lichte des Geliebten zu gelangen. »Wahrlich, wir kommen von Gott, und zu Ihm kehren wir zurück«.1
1 Qur’án 2:151
Wenn der Wanderer das Tal der Erkenntnis durchmessen hat, das das letzte begrenzte Land ist, so gelangt er zum
Tal der Einheit.
Er wird aus dem Kelch des Unumschränkten trinken und auf die Offenbarungen der Einheit schauen. Auf dieser Stufe zerreißt er die Schleier der Vielfältigkeit und fliegt aus der Welt der Leidenschaften empor zum Himmel der Einzigkeit. Er wird mit göttlichen Ohren hören und mit göttlichen Augen die Geheimnisse der ewigen Schöpfung schauen. Er tritt in die verborgenen Gemächer des Freundes ein und wird zum Vertrauten im Zelte des Geliebten. Er streckt die Hand der Wahrheit aus dem Mantel des Unumschränkten hervor und zeigt das Geheimnis der Macht auf.
Sich selbst rechnet er weder Namen noch Ruhm oder Rang zu, denn er erkennt, daß sein eigenes Lob in Gottes Lob ist und sein eigener Name im Namen des Wahrhaftigen. In allen Stimmen hört er die Stimme des Herrn und in »allen Gesängen Gottes Gesänge«.1 Er sitzt auf dem Thron des »Sprich: es kommt alles von Gott«2 und ruht auf dem Teppich des »Es gibt keine Kraft und keine Macht außer durch Gott«.3 Alles erblickt er mit dem Auge der Einheit und erkennt, daß die schimmernden Strahlen der Göttlichen Sonne alles, was ist, vom Aufgangsort der Wirklichkeit her gleicherweise bescheinen, und daß das Licht der Einzigkeit alle Geschöpfe erleuchtet.
1 Rúmí
2 Qur’án 4:80
3 Qur’án 18:37
Du weißt, daß alle Mannigfaltigkeit, die der Wanderer auf seiner Fahrt in der Erscheinungswelt sieht, allein in ihm selbst liegt. Zum klaren Verständnis nennen wir dir folgende Beispiele: Schau, wie die sichtbare Sonne alles Erschaffene durch den Willen des Königs der Offenbarung mit dem nämlichen Licht beleuchtet und doch an jedem Ort verschieden erscheint und ihr Licht so gibt, wie es durch die Eigenart des empfangenden Ortes bedingt ist. So erscheint sie im Spiegel, seiner Empfänglichkeit entsprechend, als Scheibe, im Kristall läßt sie Feuer erscheinen, während aus anderen Dingen nur ihre Wirkung und nicht ihre Scheibe zurückstrahlt. Und durch diese Wirkung bildet sie, wie du siehst, auf Befehl des Schöpfers alles gemäß seiner besonderen Beschaffenheit.
So erscheint auch die Farbe des Lichtes verschieden, je nachdem, wo es hinfällt: zum Beispiel erscheinen die Strahlen durch ein gelbes Lampenglas gelb, durch ein weißes weiß, durch ein rotes rot. Die Mannigfaltigkeit kommt nicht durch das Licht, sondern durch den Ort, auf den es trifft, und wenn der Ort ihm durch irgendein Hemmnis, eine Mauer oder ein Hausdach verwehrt ist, so bleibt er des Glanzes benommen, und die Sonne kann nicht dorthin scheinen.
So erklärt es sich, daß auch manche schwache Seele der Sonne der geistigen Bedeutung und der Geheimnisse des ewigen Geliebten beraubt ist, da sie den Boden der Erkenntnis mit der Mauer des Ichs und des Begehrens und durch die Schleier der Achtlosigkeit und Blindheit begrenzt hat. So wird sie ferngehalten von den Juwelen der Weisheit und der offenbaren Religion des Herrn der Boten und vom Eingang zum Heiligtum der Erhabenen Schönheit und von der Ka’bih der Herrlichkeit. Dies ist der Zustand der heutigen Menschen.
Und wenn sich eine Nachtigall1 über den Staub des niederen Selbstes aufschwingen würde, um in den Zweigen des Rosenbusches des Herzens zu wohnen, und sie die Geheimnisse Gottes in arabischen Weisen und lieblichen persischen Liedern verkünden würde, von denen ein einziges Wort die Toten zum Leben zurückbringt und über die ausgedörrten Gebeine den Heiligen Geist gießt, so würdest du sehen, wie tausend Krallen des Neides und aber tausend Schnäbel des Hasses sie zu erjagen und mit aller Macht zu vernichten bestrebt sind.
1 Dies bezieht sich auf Bahá’u’lláhs eigene Offenbarung
Ja, Wohlgerüche erscheinen dem Käfer übelriechend, und wem der Schnupfen den Geruch nimmt, den wird der Duft nicht berühren. Darum heißt es, den Unwissenden zur Leitung:
»Heil‘ dir den Kopf und die Nase von Schnupfen, damit du den Dufthauch Gottes verspürst«1
1 Rúmí
So kannst du den Unterschied in den Dingen verstehen.
Wenn der Wanderer nur auf den Ort der Erscheinung achtet, wenn er gleichsam die verschiedenfarbigen Gläser anschaut, dann sieht er gelb, rot und weiß. Durch eine solche Art der Betrachtung ist die Menschheit ins Streiten geraten, und die Welt wurde von trübendem Staub umzogen, den menschliche Enge emporgeweht hat. Andere sehen die Strahlen des Lichtes, während die dritten, die vom Wein der Einheit getrunken haben, nichts als die Sonne selber schauen.
Weil nun die Wanderer in diesen drei verschiedenen Höhen dahinziehen, sind ihr Erkennen und ihre Benennung der Dinge verschieden, und so kommen fortgesetzt Gegensätze in die Welt. Einige weilen auf der Höhe der Einheit und sprechen von jener Welt, andere befinden sich in den Welten der Begrenzung und andere im Lande des Ichs, und wieder andere sind völlig von Schleiern umgeben. So erklärt es sich, daß die Unwissenden dieser Tage, die keinen Anteil am Glanz der Göttlichen Schönheit haben, mancherlei Ansprüche erheben und in jedem Zeitalter das Volk des Meeres der Einheit behandeln, wie sie selber behandelt zu werden verdienten.
»Wenn Gott die Menschen für ihre Verderbtheiten strafte, so würde sich nichts auf der Erde mehr regen. Doch Er gibt ihnen Frist bis zu einem Tag, der bestimmt ist«.1
1 Qur’án 16:63
O mein Bruder! Ein reines Herz ist wie ein Spiegel, mache ihn durch Liebe und Loslösung rein von allem außer Gott, auf daß sich die wahre Sonne darin spiegeln und der ewige Morgen emporsteigen möge. Dann wirst du klar den Sinn des Verses verstehen : »Weder Meine Erde noch Mein Himmel vermögen Mich zu fassen, aber im Herzen Meiner getreuen Diener ist Meine Wohnung«.1 Und so wirst du dein Leben in die Hand nehmen und es mit unendlicher Sehnsucht dem neuen Geliebten zu Füßen legen.
1 Hadíth d.h. Ausspruch oder Tat die von Muhammad oder einem der heiligen Imáme überliefert wurden. Gelten z.T. im sunnitischen Islám neben dem Qur’án als kanonische Texte.
Wann immer die Strahlen der Offenbarung des Königs der Einheit auf den Thron des Herzens und der Seele des Menschen fallen, werden sie in allen Gliedern des Körpers sichtbar werden, und jener bekannte Vers wird seinen verborgenen Sinn bekunden:
»Ein Diener nähert sich Mir im Gebet, bis Ich ihm Antwort gewähre, und wenn Ich ihm Antwort gewährt habe, dann werde Ich das Ohr, womit er hört …«
Denn der Herr des Hauses ist in Seinem Hause erschienen, und alle Säulen darin erstrahlen in Seinem Lichte. Des Lichtes Wirkung und Kraft kommen vom Spender des Lichtes her, darum bewegt sich alles durch Ihn und erhebt sich nach Seinem Willen. Dies ist die Quelle, daraus jene trinken, die Gott nahe sind, wie es geschrieben steht: »Eine Quelle, aus der jene sich laben, die Gott nahe sind«.1
1 Qur’án 83:28
Man muß sich hüten, diesen Erklärungen die Deutung einer Vermenschlichung Gottes zu geben oder darin einen Abstieg der Welten Gottes auf die Ebene der Geschöpfe zu sehen. Auch du solltest dich nicht zu solchen Annahmen verleiten lassen, denn Er ist in Seinem Wesen erhaben über Aufstieg und Abstieg, Eintritt und Austritt. Stets war und ist Er frei von den Eigenschaften der Menschen. Niemand hat Ihn jemals begriffen, und keine Seele kann Sein Wesen je erfassen; alle Weisheit der Mystik wird zum Irrtum im Tal Seiner Erkenntnis, und alle Heiligen werden verwirrt, wenn sie Sein Wesen begreifen wollen. Heilig ist Er über allem Verstehen der Verständnisbegabten und erhaben über das Erkennen der Weisen. »Der Weg (zur Erkenntnis Seines Niesens) ist versperrt und das Suchen verworfen. Sein Zeugnis sind Seine Zeichen und Sein Sein ist Sein Beweis.«1
1 vgl. Shoghi Effendi »Das Ziel: die neue Weltordnung«, Bahá’í-Briefe Nr.40 p1101
So haben denn die, die das Angesicht des Geliebten verehren, gesagt:
»O Du, Dessen Wesen allein zu Deinem Wesen hinführt und Der über alle Vergleiche mit Seinen Geschöpfen geheiligt ist!«1
1 Hadíth
Wie kann völliges Nichts neben dem, was von Ewigkeit her ist, bestehen, wie sich der sterbliche Schatten mit der ewigen Sonne vergleichen? Der Freund1 hat gesagt: »Ohne Dich hätten wir Dich nicht zu erkennen vermocht« und der Geliebte1 hat gesprochen: »und wären wir nicht zu Dir vorgedrungen.«
1 Name für Muhammad
Diese Erklärungen für die Stufen der Erkenntnis beziehen sich einzig auf die Erkenntnis der Offenbarungen jener Sonne der Wirklichkeit, die ihr Licht auf die Spiegel wirft. Der Abglanz dieses Lichtes ist in den Herzen, aber er wird verdeckt durch die Schleier der Sinne und die Gegebenheiten des irdischen Daseins wie eine Kerze in einer eisernen Glocke, und nur wenn man die Glocke entfernt, wird das Licht darunter erscheinen.
In gleicher Weise wird dir das Licht der Einheit erstrahlen, wenn du die Hüllen der Einbildung vom Herzen hinwegnimmst.
So ergibt sich, daß auch die Strahlen weder Eintritt noch Austritt haben, wieviel weniger dann das Wesen des Seins und das ersehnte Geheimnis. O mein Bruder! Denke über diese Stufe im Geiste des Suchens nach, anstatt blindlings der Meinung anderer zu folgen. Drohende Menschenworte dürfen den Wanderer nicht schrecken, noch darf ihn begriffliche Willkür in seinem Fortschritt behindern.
»Wie kann ein Vorhang Geliebte von Liebendem trennen? Selbst Alexanders Mauer ist für sie keine Schranke«.1
1 Shamsu’d-Dín Muhammad Háfíz aus Shíráz (1320-90). Verfasser unübertroffener mystischer Gedichte in der Ghaselenform.
Geheimnisse gibt es viele, aber Unwissende unzählige. Bücher reichen nicht aus, um des Geliebten Geheimnis zu fassen, noch können es diese Seiten erschöpfen, und wäre es auch nur ein Wort, nur ein einziges Zeichen. »Erkenntnis ist nur ein einziger Punkt, durch die Unwissenden aber wird er vervielfacht«.1
1 Hadíth
Betrachte unter dem gleichen Gesichtspunkt die Unterscheidung zwischen den Welten. Obgleich die Welten Gottes unendlich sind, haben sie manche in vier Stufen gegliedert: in die Welt der Zeit (zamán), die anfängt und endet, die Welt der Dauer (dahr), die einen Anfang hat, bei der man jedoch das Ende nicht absieht, die Welt der Stetigkeit (sarmad), von der man den Anfang nicht kennt, von der man jedoch weiß, daß sie endet, und die Welt der Ewigkeit (azal), die weder anfängt noch endet. Vielerlei bliebe dazu zu erklären, doch es würde ermüden. Einige haben gemeint, die Welt der Stetigkeit sei ohne Anfang und Ende, und andere, die Welt der Ewigkeit sei der unsichtbare, unbezwingliche Feuerhimmel. Andere nennen diese Welten die Welten des himmlischen Hofes (Láhút), des Lichthimmels ( Jabarút), des Engelreichs (Malakut), und die sterbliche Welt (Násút).
Auch die Wege der Liebe werden mit vier angegeben ,von denen einer vom Geschöpf hin zu Gott, der zweite von Gott zum Geschöpf, der dritte von Geschöpf zu Geschöpf, der vierte dagegen von Gott zu Gott führt.
Viel haben die Weisen und Gelehrten vor Mir darüber geschrieben, was Ich hier nicht erwähne, denn Ich möchte nicht weiter auf früher Geschriebenes eingehen, da über die Worte anderer zu reden ein Zeichen erworbenen Wissens und nicht der Göttlichen Gabe wäre. Selbst das, was hier gesagt ist, fand nur entsprechend dem menschlichen Brauch und der Weise der Freunde Erwähnung. Solche Erklärungen überschreiten auch die diesem Schreiben gezogenen Grenzen. Nicht aus Stolz unterlasse Ich, von ihren Worten zu sprechen, sondern um Weisheit zu bekunden und Gunst zu erweisen.
»Wenn Khidr1 das Schiff auf dem Meer dem Untergang preisgab, so lag tausendfach Recht in diesem Unrecht«.2
1 Eigentlich »der Grüne«. Meist mit der im Qur’án (18,59-81) erwähnten Person gleichgesetzt. Er soll den Quell des Lebens entdeckt und davon getrunken haben, daher dessen »Wächter« genannt. Er steht für die wahre Führung, der man unbedingt zu folgen verpflichtet ist.
2 Rúmí siehe Fußnote bei [34]
Dieser Diener erachtet Sich völlig als Nichts neben einem Geliebten Gottes, wieviel mehr noch in der Gegenwart Seiner Erwählten. Preis sei Meinem Herrn, dem Höchsten! Unser Ziel ist überdies, die Wegstrecken des Wanderers zu erklären und nicht, die widerstreitenden Worte der Mystiker zu erwähnen.
Wenn auch ein kurzes, Anfang und Ende der Welt der Beziehung und der Eigenschaften betreffendes Beispiel schon gegeben worden ist, so sei ein weiteres noch genannt, um vollends den Sinn des Gesagten zu erläutern: Sinne über dich selbst nach, wie du in bezug auf deinen Sohn der Erste, in Hinsicht auf deinen Vater dagegen der Letzte, als Erscheinung nach außen hin Ausdruck für die Macht des Göttlichen Schöpfungswillens und nach innen das verborgene Geheimnis bist, das in dich als Göttliche Gabe gelegt ward. So läßt sich sagen, daß sich in dir als Anfang und Ende, Erscheinung und Verborgenes, jene erwähnten vier Weisen äußern, so daß du in diesen vier Zuständen, womit du begnadet worden bist, die vier Zustände Gottes gleichermaßen zu verstehen imstande bist, und die Nachtigall deines Herzens von allen Zweigen des Rosengartens des verborgenen wie des sichtbaren Seins singt: »Gott wahrlich ist der Erste und der Letzte, der Offenbare und der Verborgene«.1
1 Qur’án 57:3
Das Gesagte gilt nur für die Stufen der Welt der Beziehung entsprechend der menschlichen Begrenzung. Diejenigen aber, die sich mit einem Schritt über die Welt der Beziehung und Begrenzung erhoben haben und auf dem beglückenden Boden des Unumschränkten verweilen, die ihr Zelt in der Welt der höchsten Macht und des Gebotes errichten, haben alle diese Beziehungen getilgt mit einem einzigen Funken und alle diese Worte gelöscht mit einem einzigen Tautropfen. Sie schwimmen im Meer des Geistes und durchschweben die heiligen Lüfte des Lichtes. Wie können auf dieser Stufe Worte bestehen, die Unterscheidungen wie »Erster« und »Letzter« oder dergleichen schaffen? In diesem Reich fällt der Erste mit dem Letzten und der Letzte mit dem Ersten zusammen.
»Entflamme in deiner Seele ein Feuer der Liebe und verbrenne alle Gedanken und Worte!«1
1 Rúmí siehe Fußnote bei [34]
Schau in dich, o mein Freund. Wenn du nicht Vater geworden wärest und keinen Sohn gezeugt hättest, so würden dir diese Worte nicht einmal bekannt sein. Darum vergiß all dies, damit du in der Schule der Einheit unter der Leitung des Meisters der Liebe lernest und wieder zu Gott zurückkehrest. So magst du dich aus dem Zustand der inneren Unwirklichkeit lösen1 und zu deiner wahren Bestimmung gelangen, um im Schatten des Baumes der Erkenntnis zu wohnen.
1 Dies bezieht sich auf die Súfí-Idee von der inneren Ebene die im Vergleich zur geoffenbarten Wahrheit unwirklich ist.
O du Hochgeliebter! Werde arm, damit du den hehren Hof des Reichtums betretest, beuge deinen Rücken in Demut, damit du aus dem Strom der Herrlichkeit trinkest und den Sinn der Gedichte verstehest, um den du gefragt hast.
So ist es denn klar, daß diese Stufen je nach dem Standpunkt des Wanderers verschieden erscheinen. Er sieht in jeder Stadt eine Welt, trifft in jedem Tal eine Quelle und hört in jeder Steppe den Klang eines Liedes. Der Falke des geheimnisvollen Himmels jedoch trägt viele wundersame Weisen des Geistes im Herzen, und der persische Vogel birgt manches süße arabische Lied in der Seele, aber sie sind und bleiben verborgen.1
1 Bezieht sich auf Bahá’u’lláh, Der Seine Sendung damals noch nicht erklärt hatte.
»Spräche ich weiter, würd‘ mancher Verstand sich verwirren, und wenn ich schriebe, brächen die Federn«.1
1 Rúmí siehe Fußnote bei [34]
Friede sei mit dem, der diese herrliche Reise vollendet, und dem Wahrhaftigen folgt durch die Lichter der Führung!
Hat der Wanderer die Höhen seiner himmelanstreben den Reise durchmessen, so gelangt er zum
Tal des Genügens
In diesem Tal empfindet er den Windhauch Göttlichen Genügens, der von der Ebene des Geistes her weht. Er verbrennt die Schleier des Mangels und schaut mit dem inneren und dem äußeren Auge das Verborgene und die Erscheinung aller Dinge, das Zeugnis des Tages, an dem »Gott aus Seiner Fülle heraus jedem vergelten wird«.1 Seine Trübsal schlägt um in Entzücken, sein Kummer in Freude, und seine Bedrückung und Schwermut wird Frohsinn und Wonne.
1 Qur’án 4:129.
Obschon von außen gesehen die Wanderer in diesem Tal auf der Erde verweilen, so thronen sie innerlich doch auf den Höhen des wahren Sinnes. Sie nehmen teil an den unerschöpflichen Gaben der inneren Bedeutung und trinken vom köstlichen Wein des Geistes.
Die Zunge ist nicht imstande, diese drei letzten Täler zu schildern, und die Sprache ist unzulänglich. Die Feder dringt nicht in ihr Gebiet, und die Tinte hinterläßt nichts als schwärzende Spuren. Auf diesen Stufen hat die Nachtigall des Herzens andere Weisen und Geheimnisse, die das Herz bewegen und die Seele in Erregung versetzen, doch will dieses Rätsel der wahren Bedeutung nur von Herz zu Herz offenbart und von Brust zu Brust anvertraut sein.
[49]
»Herz zu Herz allein kann von der Wonne der (um Gottes Geheimnisse) Wissenden sagen, kein Bote kann es künden, kein Brief es enthalten«.1
1 Shamsu’d-Dín Muhammad Háfíz aus Shíráz (1320-90). Verfasser unübertroffener mystischer Gedichte in der Ghaselenform.
»Ohnmacht zwingt auch, auf vieles zu schweigen, und wollte ich sprechen, würden Worte versagen«.1
1 Arabischer Vers
O Freund, ehe du nicht den Garten dieser inneren Bedeutungen erreicht hast, wirst du nicht vom unvergänglichen Wein dieses Tales trinken. Würdest du aber davon kosten, so würdest du alles andere vergessen und aus dem Kelch des Genügens trinken. Du würdest dich von allem anderen lösen, um dich Ihm zu verbinden, dein Leben auf Seinem Wege verschenken und deine Seele Ihm opfern – obwohl in dem Tal nichts anderes mehr ist, das du vergessen müßtest:
»Da war Gott und nichts anderes außer Ihm«.1 Denn in diesem Tal sieht der Wanderer überall die Schönheit des Freundes. Selbst im Feuer schaut er das Angesicht des Geliebten. Unwirkliches wird ihm zum Zeichen der Wirklichkeit, und die Eigenschaften werden ihm zum Zeugnis für das Geheimnis des göttlichen Wesens; hat er doch mit einem Hauch die Schleier verweht und mit einem einzigen Blick die Hüllen durchdrungen. Mit unterscheidendem Auge wird er die neue Schöpfung gewahr, und mit lichtem Herzen begreift er die sinnreichen Zeichen. Das Wort : »An diesem Tage werden Wir deinen Blick mit Unterscheidung begaben«2 bezeugt dies und genügt hier.
1 Hadíth 2 Qur’án 50:21
Wenn die Gefilde des lauteren Genügens vom Wanderer durchmessen sind, so gelangt er zum
Tal des Staunens.
Er taucht ein in die Meere erhabener Größe, und mit jedem Augenblick wächst sein Staunen. Bald scheint ihm der Reichtum reine Armut und das Wesen der Freiheit völlige Ohnmacht, bald wieder vergeht er vor der Schönheit des allherrlichen Gottes oder wird er seines eigenen Daseins müde. Wie viele Bäume der inneren Bedeutung hat der Windstoß des Staunens entwurzelt, wie viele Seelen des Atems beraubt! Denn in diesem Tal wird der Wanderer in Verwirrung gestürzt. Aber all diese Wunder sind dem, der zum Ziel kam, höchst willkommen. Jeder Augenblick zeigt ihm Welten des Wunders und eine neue Schöpfung. Er wandert von Verwunderung zu Verwunderung und, vergeht aus Ehrfurcht vor den Werken des Herrn der Einheit.
Ja, mein Bruder, wenn wir über irgendeines der erschaffenen Dinge nachdenken, so werden wir hunderttausend vollkommene Weisheiten finden und ungezähltes wundersames und neues Wissen erfahren. Eine der erschaffenen Erscheinungen ist der Traum: Sieh, wie viele Geheimnisse er birgt, welche Weisheiten er enthält, und wie groß die Zahl der Welten ist, die er einschließt. Du schläfst in einer verschlossenen Wohnung und weilst doch plötzlich weitab in einer Stadt, in die du eintrittst, ohne die Glieder zu rühren oder dich des Körpers zu bedienen, du siehst ohne Augen, hörst ohne Ohren und sprichst ohne Zunge. Und vielleicht geschieht es, daß du zehn Jahre danach in der äußeren Welt dem, was du nächtlich im Traum geschaut hast, begegnest.
Viele Weisheiten sind im Traum, dessen wahren Sinn niemand sonst als der Wanderer in diesem Tale wirklich verstehen kann. Vor allem, was ist das für eine Welt, in der wir uns ohne Auge, Ohr, Hand oder Zunge dieser Sinne bedienen? Sodann, wie kommt es, daß sich dir heute in der äußeren Welt ein Traum verwirklicht, den du vielleicht zehn Jahre vorher geträumt hast? Denke über den Unterschied zwischen diesen beiden Welten nach und über die Geheimnisse, die darin verborgen liegen, damit dir göttliche Bestätigung und himmlische Entdeckung zuteil werden und du die Welten der Heiligkeit begreifest.
Gott, der Erhabene, hat diese Zeichen in die Menschen gelegt, damit die Philosophen die Geheimnisse des Fortlebens nicht zu leugnen vermögen, noch herabsetzen, was ihnen verheißen ist. Denn einige stützen sich allein auf die Vernunft und leugnen, was von ihr nicht erfaßt wird, obwohl außer der Göttlichen, Höchsten Vernunft nie die schwache Vernunft die eben geschilderten Dinge zu begreifen imstande ist.
»Wie kann die schwache Vernunft den Qur’án begreifen oder die Spinne einen Phönix im Netz erjagen?«1
1 Mystischer persischer Vers
Alle diese Welten erleben wir im Tal des Staunens, und der Wanderer begehrt jeden Augenblick, mehr zu erschauen. Nie wird er dessen müde. Darum hat der »Herr der Ersten und Letzten«1 über die Stufen des Sinnens und den Ausdruck des Staunens gesprochen: »O Herr, laß mein Staunen über Dich wachsen!«
1 Ehrenname Alís
Denke gleicherweise über die Vollkommenheit in der Schöpfung des Menschen nach, in der alle diese Welten und Stufen verborgen und versiegelt sind:
»Wähnst du dich nur eine schwächliche Form, wo in dir das Weltall im Kleinen verborgen ruht?«1
1 vgl. Shoghi Effendi »Das Ziel: die neue Weltordnung«, »Bahá’í-Briefe« 40, p1101.
Bemühen wir uns darum, in uns das Tierhafte zu vernichten, damit sich die wahre Bedeutung des Menschen offenbare.
So gab Luqmán1, der aus der Quelle der Weisheit trank und aus dem Meere der Gnade kostete, seinem Sohne Nathan den Traum als Beispiel und Beweis für die Auferstehung und den Tod an. Wir erwähnen dies hier, damit die Erinnerung an jenen Jüngling in der Schule der Göttlichen Einheit, an jenen Älteren in der Kunst der Belehrung und Vergeistigung durch diesen demütigen Diener bewahrt bleibe. Er sagte: »O Sohn! Vermagst du den Schlaf zu bezwingen, so kannst du auch den Tod besiegen, und vermagst du dein Erwachen aus dem Schlaf zu verhüten, so kannst du auch deine Auferstehung vom Tode verhindern.«
1 Ein Weiser, nach dem die 31. Súrih des Qur’án benannt ist. Rúmí sieht in ihm einen Negersklaven. Oft wird er mit Aesop gleichgesetzt.
O Freund! Dein Herz ist der Sitz ewiger Geheimnisse, mache es nicht zur Heimstatt sterblicher Gedanken und vergeude den Schatz deines kostbaren Lebens nicht, indem du ihn dieser vergänglichen Welt preisgibst. Du kommst aus der Welt der Heiligkeit, hänge dein Herz nicht an die Erde. Du bist ein Bewohner des Hofes der Nähe, erwähle dir nicht die Welt des Staubes zur Heimat.
Kurz, diese Stufen zu beschreiben ist noch kein Ende, doch ist dieser Diener um der vielen Schläge willen, die ihm die Bewohner dieser Welt versetzt haben, nicht gestimmt fortzufahren.
»Unvollendet blieb diese Rede, und ich habe nicht das Herz dazu. Bitte, verzeih mir«1
1 Rúmí siehe Fußnote bei [34]
Die Feder klagt und die Tinte weint, und der Strom1 des Herzens wälzt Wogen des Blutes. »Nichts, als was Gott uns bestimmt hat, wird uns begegnen«.2
1 Eigentlich »Jayhun«, ein Fluß in Turkistán 2 Qur’án 9:51
Friede sei mit dem, der den Rechten Weg geht! Hat der Wanderer die Höhen des Staunens erstiegen, so betritt er
das Tal der wahren Armut und des völligen Vergehens.
Dies ist die Stufe, auf der das ich stirbt und in Gott lebt, arm in sich selbst und reich durch den Ersehnten. Wenn wir auf dieser Stufe von Armut sprechen, so ist damit die Armut von allem gemeint, was in der erschaffenen Welt ist, und Reichtum durch alles, was in der Welt Gottes ist. Denn wenn ein aufrichtig Liebender und ergebener Freund in die Gegenwart des Geliebten tritt, so werden die leuchtende Schönheit des Geliebten und die Herzglut des Liebenden ein Feuer entzünden, durch das alle Hüllen und Schleier, ja alles, was er hat, vom Herzen bis zur Haut, verbrennen, und nichts verbleibt außer dem Freunde.
»Als sich die Eigenschaften des Urewigen offenbarten, verbrannte Moses die Eigenschaften der vergänglichen Dinge«1
1 Rúmí siehe Fußnote bei [34]
Wer diese Stufe erreicht hat, ist über alles, was von der Welt ist, geheiligt. Wenn darum die, die zu diesem Meer Seiner Gegenwart hingefunden, nichts mehr von den vergänglichen Dingen in der sterblichen Welt besitzen, sei es äußeres Gut oder eigene Meinung, so ist darin kein Harm, denn was immer die Geschöpfe besitzen, ist begrenzt durch ihre eigene Begrenzung, doch was Gottes ist, ist darüber geheiligt; viel Nachdenken erfordern diese Worte, damit ihr Sinn klar wird.
»Wahrlich, der Gerechte wird aus einem Kelche trinken, dem Kampfer beigemischt ist«.1
1 Qur’án 76:5
Würdet ihr begreifen, was »Kampfer« bedeutet, so würde der wahre Sinn euch klar sein. Diese Stufe ist jene Art Armut, von der gesagt ist: »Die Armut gereicht mit zum Ruhm«.1
1 Muhammad
Es gibt mancherlei Stufen und Bedeutungen der äußeren und inneren Armut, deren Erwähnung Ich hier nicht für zweckmäßig halte und die Ich darum, so Gott will und es die Vorsehung befiehlt, für ein andermal zurückhalte.
Dies ist eine Stufe, auf der im Wanderer die Kennzeichen aller Dinge1 vergehen und sich das Angesicht Gottes am Morgen der Ewigkeit aus dem Dunkel heraushebt und die Bedeutung des »alles auf Erden ist vergänglich außer Seinem Angesicht«2 offenbar wird.
1 arabisch kull-i-shay‘ 2 Qur’án 55:26-27
O mein Freund! Lausche der Weise des Geistes mit Herz und Seele und schätze sie wie das Licht deiner Augen, denn nicht immer werden die göttlichen Weisheiten wie Frühlingsregen auf die Schollen der menschlichen Herzen strömen. Wenn auch des Allgütigen Gnade ohne Unterlaß strömt, so ist doch jeder Zeit und jedem Abschnitt ein bestimmter Anteil verordnet und eine gewisse Gabe bereitgehalten, die nach festgesetztem Maß gespendet wird. »Nichts ist, dessen Fülle nicht in Unserer Hand liegt, und Wir teilen davon nur das gesetzte Maß aus«1 Die Wolke der Gnade des Geliebten strömt nur auf den Garten des Geistes hernieder und spendet ihre Gunst nur im Frühling. Die übrigen Jahreszeiten sind dieser größten Gnade beraubt, und unfruchtbare Gebiete haben keinen Anteil an ihrer Gunst.
1 Qur’án 15:21
O mein Bruder! Nicht jedes Meer enthält Perlen, nicht an jedem Zweig erblühen Rosen, noch wird die Nachtigall überall singen. Darum bemühe dich, ehe die Nachtigall des Paradieses der inneren Bedeutung sich wieder zum Garten Gottes aufschwingt und die Strahlen des himmlischen Morgens zur Sonne der Wahrheit heimkehren – vielleicht vermagst du dann auf diesem vergänglichen Haufen Staubes einen Hauch aus dem ewigen Garten zu eratmen und im Schatten der Bewohner dieser ewigen Stadt zu verbleiben. Wenn du einmal diese höchste Stufe erreicht hast und zu dieser mächtigen Ebene gelangt bist, wirst du auf den Geliebten schauen und alles andere vergessen.
»An Tor und Mauer schaut der Freund hervor entschleiert, o ihr, die ihr Sehkraft habt«.1
1 Mystischer persischer Vers
So hast du nun den Tropfen des Lebens geopfert und dafür das Meer Dessen, Der das Leben spendet, gewonnen. Das ist das Ziel, nach dem du gefragt hast. So Gott will, wirst du es erreichen.
In dieser Stadt zerreißen und vergehen selbst die Schleier des Lichtes.
»Nichts umschleiert Seine Schönheit außer dem Licht, und nichts umhüllt Sein Antlitz außer der Offenbarung«.1
1 Hadíth
Wie seltsam, daß die Achtlosen nach Flitter und unedlem Metall jagen, während der Geliebte gleich der Sonne offenbar ist! Ja, durch die Stärke Seiner Offenbarung ist Er verdeckt, und im Überfluß Seines Glanzes bleibt Er verborgen.
»Mit dem Glanz der Sonne hat er geleuchtet, doch ach, in die Stadt der Blinden ist er gekommen«.1
1 Rúmí siehe Fußnote bei [34]
In diesem Tal läßt der Wanderer die Stufen der »Einheit des Wesens und der Erscheinung«1 hinter sich liegen und gelangt zu einer Einheit, die über beide geheiligt ist. Verzückung allein kann das Gesagte begreifen, nicht Erörterung oder Wortstreit. Nur wer auf dieser Ebene geweilt oder den Hauch dieses Gartens eratmet hat, weiß, was Wir meinen.
1 Pantheismus, eine Súfí-Lehre, abgeleitet von der Formel: »Nur Gott ist; Er ist in allen Dingen, und alle Dinge ruhen in Ihm.«
Auf diesen ganzen Wanderungen darf der Wanderer nicht um Haaresbreite abgehen vom »Gesetz«, das in der Tat das Geheimnis des »Weges« und die Frucht vom Baume der »Wahrheit« ist.1 Auf allen Stufen muß er sich an das Gewand des Gehorsams zu den Geboten halten und fest das Seil des Vermeidens alles Verbotenen fassen, damit er aus dem Kelch des Gesetzes genährt und mit den Geheimnissen der Wahrheit bekannt wird.
1 Dies bezieht sich auf die 3 Stufen eines Súfí-Lebens: 1. Sharí’at (religiöses Gesetz), 2. Taríqat (Pfad, auf dem der mystische Wanderer auf der Suche nach Gott geht; diese Stufe schließt Einsiedler ein). 3. Haqíqat (Wahrheit, die dem Súfí Ziel bedeutet). Bahá’u’lláh lehnt hier die Ansicht einiger Súfí ab, wonach auf der Suche nach Wahrheit das religiöse Gesetz übergangen werden dürfe.
Was immer von diesen Meinen Erklärungen nicht verstanden wurde oder verwirren mag, sollte nochmals erfragt werden, damit kein Zweifel mehr bleibt und der Sinn gleich dem Antlitz des Geliebten klar am »Ort des Ruhmes«1 erscheine.
1 Qur’án 17:81 (Maqám-i-Mahmúd)
Obwohl diese Reisen im Zeitlichen ohne erkennbares Ende scheinen, kann der gelöste Wanderer, wenn ihm unsichtbare Bestätigung zufließt und der Hüter der Sache ihm beisteht, diese sieben Stufen mit sieben Schritten, oder mit sieben Atemzügen, ja gar in einem Atem, durchmessen, wenn dies Gott zuläßt und wünscht, denn »Er gibt Seinen Dienern durch Seine Gnade, wem immer Er will«1
1 Qur’án 2:84
Wer in den Himmel der Einzigkeit aufgestiegen und zum Meer des Unumschränkten gelangt ist, der erkennt diese Stufe, die das Leben in Gott ist, als äußerstes Ziel für die mit mystischem Wissen Begabten und als höchstes Heim für die Liebenden. Doch für diesen in der See der inneren Bedeutung Aufgelösten ist diese Stufe das erste Tor zur Feste des Herzens, durch das der Mensch zum ersten Mal in die Stadt des Herzens eintritt. Es gibt für das Herz noch vier weitere Stufen, worüber berichtet werden mag, wenn eine verwandte Seele sich findet.
»Als die Feder diese Stufe zu beschreiben anhob, zerbrach sie und riß den Bogen in Stücke«.1
1 Hadíth
O Mein Freund! Viele Hunde hetzen diese Gazelle aus der Wüste der Einheit, und viele Krallen verwunden diese Nachtigall des ewigen Gartens. Unbarmherzige Krähen lauern im Hinterhalt auf diesen Vogel der Göttlichen Himmel, und der Jäger der Eifersucht jagt dieses Reh der Auen der Liebe.
O Shaykh, mache dein Bemühen zu einem Schirm, damit er vielleicht diese Flamme vor den Gegenwinden beschütze, obgleich dieses Licht sich sehnt, in der Lampe Gottes unter dem Schirm des Geistes zu brennen. Denn das Haupt, das sich in der Liebe Gottes erhebt, wird sicherlich unter dem Schwerte fallen, das Leben, das von Sehnsucht entflammt ist, gewißlich geopfert und das Herz, das sich dem Gedanken des Geliebten verbunden hat, sicher von Blut überströmen. Wie schön ist gesagt:
»Lebe gelöst von der Liebe, denn selbst ihre Ruhe ist peinvoll. Mit Leiden beginnt sie, und Tod ist ihr Ende«.1
1 Arabischer Vers
Friede sei mit dem, der den Rechten Weg geht!
Was du über deine Gedanken bezüglich der Bedeutung (des Namens) des bekannten Vogels geschrieben hast, den die Perser Gunjishk (Sperling) nennen, wurde gelesen?1
1 Die fünf Buchstaben dieses persischen Wortes sind : G, N, J, Sh, K, d.h. Gáf, Nún, Jím, Shín, Káf
Es scheint, daß du mit mystischer Wahrheit wohl vertraut bist. Doch haben die verschiedenen Buchstaben auf jeder Stufe, gemäß den Gegebenheiten der betreffenden Stufe, ihren besonderen Sinn, ja, der Wanderer findet in jedem Namen ein Sinnbild und in jedem Buchstaben eine verborgene Bedeutung. In einem Sinne weisen diese Buchstaben auf »Heiligkeit« hin:
Káf oder Gáf (K oder G) soviel wie »Kuffi« (»frei«) bedeutet : »Befrei dich von allem, wonach dein Begehr steht, alsdann wende dich deinem Herrn zu.«
Nun (N), »Nazzih« (»reinige«), bedeutet: »Reinige dich von allem außer Ihm, damit du dein Leben in Seiner Liebe hingeben mögest.«
Jim ( J), »Jánib« (»ziehe zurück«), bedeutet: »Ziehe dich von der Schwelle des wahrhaftigen Gottes zurück, solange du noch die Zeichen der Welt trägst.«
Shin (Sh), »Ushkur« (»danke«), bedeutet: »Danke deinem Herrn auf Seiner Erde, daß Er dich segne in Seinem Himmel.« Doch sind in der Welt der Einheit dieser Himmel und Seine Erde eins.
Káf (K), »Kuffi«, bedeutet: »Tue hinweg« die Schleier der Begrenzung; damit du erkennest, was dir von den Stufen der Heiligkeit nicht bekannt war.1
1 Islámische Lehren.
Wenn du den Versen dieses sterblichen Vogels1 lauschtest, würdest du nach dem ewigen Kelch begehren und auf den vergänglichen Becher verzichten.
1 Das ist im traditionellen persischen Stil ein Hinweis auf Bahá’u’lláh Selbst.
Friede sei mit dem, der den Rechten Weg geht!
DIE VIER TÄLER
Er ist der Starke, der Inniggeliebter!
»O Licht der Wahrheit, Hisám-i-Dín, du Gütiger. Die Welt hat noch keinen Fürsten hervorgebracht, der Dir gliche«.1
1 Aus dem »Mathnavi« des Jalálu’d-Dín Rúmí (1207-1273)
Ich frage Mich, warum das Band der Liebe so plötzlich zerrissen und der feste Bund der Freundschaft gebrochen wurde. Ließ Meine Ehrerbietung – was Gott verhüten möge – jemals nach, oder erschlaffte die Reinheit Meiner Liebe, daß du Mich vergaßest und aus deinem Gedächtnis auslöschtest?
»Welcher Fehler von Mir ließ deine Gunst schwinden? Ist es darum, weil Wir gering sind, und du von hohem Range?«1
1 Verse von Sa’dí, Muslihu’d-Dín aus Shíráz (ca. 1184-1291). Bedeutender persischer Dichter, Verfasser des »Bustán« (Garten) und des »Gulistán« (Rosengarten)
Oder vertrieb dich ein einziger Pfeil vom Schlachtfelde?1 Hat man dir nicht gesagt, daß Treue auf dem mystischen Weg notwendig und der wahre Führer zu Seiner heiligen Gegenwart ist? »Auf jene, die sprechen `Gott ist unser Herr` und die standhaft dabei bleiben – auf jene steigen die Engel herab«2
1 Persisches Sprichwort. Bezeichnung für einen rasch entmutigten Menschen. Es steht hier in der Bedeutung, daß der Shaykh seine Stellung als Führer des mystischen Súfí-Ordens durch die Verkündung der neuen Wahrheit durch Bahá’u’lláh gefährdet sehen könnte.
2 Qur’án 41:30
Auch ist gesagt: »Gehe standhaft voran, wie es dir befohlen ward«.1 Denn dieser Weg ist bindend für jene, die in der Gegenwart Gottes wohnen.
1 Qur’án 11:114 , Qur’án 42:14
»Ich erfülle meine Pflicht und überbringe die Botschaft – nicht achtend, ob sie dir Rat oder Ärger schenkt«.1
1 Vers von Sa’dí s.o.
Obgleich Ich auf Meine Briefe keine Antwort erhalten habe und es sich für den Weisen nicht ziemt, eine Äußerung seiner Achtung zu wiederholen, so hat doch diese neue Liebe alle alten Regeln und Gepflogenheiten aufgehoben.
»Erzähle uns nicht die Geschichte von Laylí und von Majnúns Kummer – deine Liebe ließ die Welt alle alte Liebe vergessen. Einst, als dein Name auf den Zungen war, vernahmen ihn die Liebenden – und er ließ Sprecher und Hörer vor Freude tanzen«.1
1 Vers von Sa’dí s.o.
Über göttliche Weisheit und himmlischen Rat sagt Rúmí:
»Nach jedem Mond, o mein Geliebter, bin ich drei Tage lang außer mir; heute ist der erste Tag – darum bin ich so glücklich«.1
1 Aus dem »Mathnavi« des Jalálu’d-Dín Rúmí (1207-1273)
Es wurde Mir berichtet, daß du nach Tabríz und Tiflis gereist bist, um dort Weisheit zu säen, oder daß du anderer hoher Ziele wegen nach Sanandaj1 gegangen bist.2
1 Senna, die Hauptstadt der persischen Provinz Kurdistán.
2 Diese Einleitung zu den »Vier Tälern« ist in erlesenem persischen Briefstil verfaßt. Die Regeln für die Abfassung eines Briefes in Persisch verlangen Zitate aus berühmten Sehriftwerken und Versicherungen von unverbrüchlicher Liebe für den Empfänger, der gleichzeitig getadelt wird, den Schreiber vergessen zu haben.
O Mein teurer Freund! Wer die Höhen der Wanderschaft erklimmt, wird nach vier Stufen gerechnet. Ich erwähne sie kurz, damit dir die Stufe und Eigenart jeder dieser vier Arten klar werden.
Das erste Tal
Wenn die Wanderer nach dem »Ersehnten« (Maqsúd) streben, so erstreckt sich diese Stufe auf das Ich – jenes, das das »Ich Gottes ist, wie es mit Gesetzen in Ihm steht«.1
1 islamische Überlieferung (Hadith)
In diesem Zustand wird das Ich geliebt und nicht verworfen. Es ist hocherfreulich und muß nicht gemieden werden. Obschon diese Stufe am Anfang eine Ebene des Konfliktes ist, so besteht doch ihr Ende im Erreichen des Thrones der Herrlichkeit. So heißt es: »O Abraham dieses Tages, o Freund Abraham des Geistes! Töte diese vier Raubvögel«1, damit dadurch das Geheimnis des Lebens nach dem Tode offenbar werde.
1 Aus dem »Mathnavi« von Jalalu’d-Dín Rúmí. Der Dichter berichtet hier von 4 Raubvögeln, die nach ihrem Tod in 4 liebliche Vögel verwandelt wurden. Damit soll die Aufgabe schlechter Eigenschaften und ihr Ersatz durch gute Tugenden angedeutet werden.
Dies ist die Stufe des Ichs, das Gott wohlgefällig ist. Das besagt der Vers :
»O Seele, die du zur Ruhe gehst – kehre zurück zu deinem Herrn, zufrieden und Ihm wohlgefällig!«
und er endet:
»werde einer Meiner Diener und tritt ein in Mein Paradies«.1
1 Qur’án 89:27-30
Diese Stufe kennt viele Zeichen und unzählige Beweise. Daher ist gesagt: »Darauf werden Wir ihnen Unsere Zeichen in den Regionen der Erde und in ihnen selbst weisen, damit ihnen klar werden möge, daß es die Wahrheit ist«1 und daß es keinen Gott gibt außer Ihm.
1 Qur’án 41:53
So muß man nun lieber das Buch der eigenen Seele lesen denn eine bloße, schönrednerische Abhandlung. Darum hat Er gesagt:
»Lies dein Buch! Du bedarfst keines anderen als deiner selbst, um Rechenschaft über dich abzulegen an diesem Tage«.1
1 Qur’án 17:15
Es wird erzählt, daß einst ein um das Göttliche Wissender mit einem gelehrten Grammatiker auf eine Reise ging. Sie kamen an die Küste der See der Erhabenheit. Der Weise warf sich ohne Zaudern in die Fluten, aber der Gelehrte stand da, gedankenverloren in Erörterungen, die auf Wasser geschriebenen Worten glichen. Der Weise rief ihm zu: »Warum folgst du nicht?« Er aber antwortete: »O mein Bruder, ich wage nicht, dir zu folgen, ich muß wohl wieder umkehren.« Da rief ihm der Weise zu: »Vergiß, was du in den Büchern von Síbavayh und Qawlavayh, von Ibn-i-Hájib und Ibn-i-Málik1 gelesen hast, überquere das Wasser.«
1 Namen bekannter arabischer Grammatiker und Rhetoriker.
»Des niederen Selbstes Tod ist hier vonnöten, kein Wissen um Worte: Darum werde zu Nichts und sicher wandelst du auf den Wellen«.1
1 Rúmí: aus dem Mathnavi
Auch ist gesagt: »Zähle nicht zu jenen, die Gott vergessen haben, und die Gott deshalb sich selbst vergessen ließ. Sie sind in der Tat gottlos«.1
1 Qur’án 59:19
Das zweite Tal
Wenn das Ziel des Wanderers das Gemach des »Preiswürdigen« (Mahmúd)1 ist, gehört diese Stufe der Urvernunft an, die als der Offenbarer und der Größte Pfeiler bekannt ist.2 Aber mit Vernunft ist hier der göttliche, universale Geist gemeint, dessen Herrschaft die ganze Schöpfung erleuchtet, nicht aber jedes schwache Gehirn – so, wie von dem weisen Saná’í3 geschrieben wurde:
1 Eine Eigenschaft Gottes und einer der Titel Muhammads
2 Maqám-i-Mahmúd (preiswürdige Stufe) bezeichnet den mit Standhaftigkeit ausgestatteten Rang der Offenbarer.
3 Der erste bedeutende persische Dichter der Mystik. Er verfaßte das »Hidíqatu’l-Haqíqat« (Garten der Wahrheit) um 1131. Er stammt aus Ghazna oder Balkh.
»Wie kann schwache Vernunft den Qur’án erfassen? Wie kann eine Spinne einen Phönix in ihrem Netz erjagen? Willst du, daß dein Verstand nicht plötzlich dich in eine Schlinge wirft, dann lehre ihn das Wissen um die Liebe Gottes.«
In diesem Zustand trifft der Wanderer auf unzählige Prüfungen und Rückschläge. Bald wird er himmelwärts erhoben – bald wird er in die Tiefe hinabgeschleudert, wie gesagt ward: »Nun ziehst Du mich zum Gipfel der Herrlichkeit empor, und dann wirfst Du mich in den tiefsten Abgrund.« Das verborgene Geheimnis dieses Zustandes wurde geoffenbart in dem heiligen Verse der Súrih »Die Höhle«1:
1 Qur’án 18,16. Sie bezieht sich auf die Stufe unbedingten Glaubens. Die »Gefährten der Höhle« sind die frühen christlichen Märtyrer.
»Hättest du nur die Sonne bei ihrem Aufgang zur Rechten ihrer (der Gefährten) Höhle vorüberwandern und sie (die Gefährten) bei ihrem Untergang zur Linken zurücklassen sehen können, indes sie (die Gefährten) sich in ihrem weiten Raume befanden. Dies ist eines der Zeichen Gottes. Wahrhaft geleitet ist, wen Gott leitet. Für jenen aber, den Gott in die Irre gehen läßt, wirst du keinen Helfer finden.«
Sollte jemand verstehen, was alles in diesem Vers verborgen liegt, so wird ihm dies genügen. Darum hat Er zum Preise solcher Menschen gesagt: »Sie sind Menschen, die weder Ware noch Handel von der Erwähnung Gottes abhält«.1
1 Qur’án 24:37
Diese Stufe verleiht das wahre Maß der Erkenntnis, und sie befreit den Menschen von Prüfungen. In einem solchen Zustande braucht man nicht nach der Erkenntnis zu suchen, denn Er hat, was die Führung der Wanderer auf dieser Stufe anbelangt, gesagt: »Fürchtet Gott, und Gott wird euch lehren«.1 Gleicherweise ward gesagt: »Erkenntnis ist ein Licht, das Gott, wem immer Er will, ins Herz gießt«.2
1 Qur’án 2:282 2 Hadíth
Darum soll man sein Herz zu einer Stätte bereiten, die der Ausgießung himmlischer Gnade würdig ist, damit der gütige Träger des Kelches einem den Wein der Gunst aus dem Kelche der Barmherzigkeit trinken lasse. »Laßt die sich Mühenden um solches ringen«.1 Nun aber sage Ich: »Wahrlich, wir sind Gottes und zu Ihm werden wir zurückkehren«.2
1 Qur’án 37:59 2 Qur’án 2:151
Das dritte Tal
Wenn die liebenden Sucher im Bereich des »Anziehenden« (Majdhúb)1 wohnen wollen, vermag außer der Schönheit der Liebe keine Seele diesen königlichen Thron innezuhaben. Dieses Reich kann nicht mit Worten beschrieben werden.
1 Jene göttliche Eigenschaft, die alle Geschöpfe zu Ihm hinzieht
»Die Liebe meidet diese Welt und jene Welt – sie enthält zweiundsiebzigfältigen Wahnsinn. Der Sänger der Liebe spielt auf der Harfe das Lied: Dienen unterjocht und Herrschaft verführt«.1
1 Rúmí: aus dem Mathnavi
[67]
Dieser Zustand erfordert reine Zuneigung und den klaren Strom des Verbundenseins. Bei Erwähnung jener Gefährten in der Höhle1 heißt es: »Sie sprechen nicht, bevor Er spricht, und sie befolgen Seine Befehle«.2
1 Qur’án 18:16 Die Gefährten der Höhle sind die frühen christl. Märtyrer 2 Qur’án 21:27
Auf dieser Stufe genügt weder die Herrschaft der Vernunft noch die Macht des niederen Selbstes. Darum fragte einer der Offenbarer Gottes: »O mein Herr, wie sollen wir zu Dir gelangen?« Und Er antwortete: »Gib dein Selbst auf, dann nähere dich Mir.«
Dies sind Menschen, welche den niedersten Ort als eins mit dem Throne der Herrlichkeit ansehen und die den Hof der Schönheit gleich zählen dem Schlachtfelde, auf dem für die Sache des Geliebten gestritten wurde.
Die Bewohner dieser Stufe sprechen keine Worte, vielmehr reiten sie nur auf ihren Rossen dahin. Sie sehen im Geliebten nichts denn Seine innerste Wirklichkeit. Sie betrachten alle sinnvollen Worte als sinnlos, und alle sinnlosen Worte als bedeutungsvoll. Sie vermögen kein Glied vom andern, noch zwischen einzelnen Teilen zu unterscheiden. Die Luftspiegelung nennen sie den Fluß selbst, und sie rechnen die Abfahrt als Rückkehr, so wie gesagt ward:
»Die Beschreibung Deiner Schönheit erreichte das Tal des Einsiedlers; da verließ ihn die Vernunft, und er eilte zur Schenke, wo sie den Wein kaufen und verkaufen. Deine Liebe zertrümmerte vollständig die Festung der Geduld. Deine Schmerzen verstellten völlig das Tor der Hoffnung«.1
1 Verse von Sa’dí, Muslihu’d-Dín aus Shíráz (ca. 1184-1291). Bedeutender persischer Dichter, Verfasser des »Bustán« (Garten) und des »Gulistán« (Rosengarten)
In diesem Zustand werden Unterweisungen gewißlich vergeblich sein.
»Der Liebenden Lehrer ist die Schönheit des Geliebten, Sein Antlitz ist ihr Unterricht und allein ihr Lehrbuch. Das Lernen von Staunen, sehnsüchtiger Liebe ist ihre Pflicht. Sie schauen nicht auf wortkluge Abhandlungen und träge Themen. Die Kette, die sie bindet, ist Sein moschusduftendes Haar. Das Bild der Wiederkehr1 ist ihnen nur eine Stufe zu Ihm«.2
1 Die Zyklentheorie des Abu-Alí Síná (Avicenna; 980-1037), von ihm selbst in einem Vierzeiler niedergeschrieben: »Jede Erscheinung, jede Gestalt, die heute vergeht, wird in der Schatzkammer der Zeit sicher verwahrt. Wenn die Welt wieder zu ihrem Ausgangsorte zurückkehrt holt Er ihr Antlitz aus dem Unsichtbaren hervor«. Vgl. dazu ‚Abdu’l-Bahá: »Beantwortete Fragen« Kap. 81: Reinkarnation.
2 Rúmí: aus dem Mathnavi
Nun ein Gebet zu Gott, dem Erhabenen, dem Verherrlichten:
»O Gott! O Du, Dessen Gnade Wünsche gewährt! Ich stehe vor Dir, alles außer Dir vergessend. Gib, daß das Fünkchen Erkenntnis in meiner Seele vor den Leidenschaften und dem Niederen der Erde bewahrt bleibe. Gib, daß Dein urewiges Geschenk für mich, der Tropfen Weisheit, mit Deinem mächtigen Meere vereinigt werde«1
1 Verse von Sa’dí , bedeutender persischer Dichter (1184-1291) s.o.
So spreche Ich: »Es gibt keine Macht und keine Herrschaft außer bei Gott, dem Beschützer, dem Selbstbestehenden«.1
1 Qur’án 18:37
Das vierte Tal
Wenn die um das Geheimnis Wissenden zu denen gehören, die zu der Schönheit des »Geliebten« (Mahbúb) gelangt sind, ist dieser Zustand der Gipfel der Bewußtheit und das Mysterium göttlicher Führung. Dies ist der Kern des Geheimnisses: »Er tut, was immer Er will, und Er verordnet, was immer Er wünscht«.1
1 Qur’án 2:254-5
Sollten alle Bewohner der Himmel und der Erde diese leuchtende Anspielung und dieses tiefe Rätsel bis zu dem Tag, da die Trompete erschallt enthüllen, so würden sie dennoch nicht einmal einen einzigen Buchstaben verstehen können. Denn solches ist der Zustand der Göttlichen Verordnung und des vorbestimmten Geheimnisses. Wenn daher Fragende sich danach erkundigen, antwortet Er: »Es ist eine See ohne Grund, die niemals je ergründet wird«.1 Wiederum fragten sie, Er aber sprach: »Es ist die finsterste Nacht, durch die niemand seinen Weg finden kann.«
1 Ausspruch, der ‚Alí, dem Schwiegersohn Muhammads, zugeschrieben wird
Wer dieses Geheimnis erfaßt, wird es gewißlich verbergen, und sollte er nur eine einzige Spur von ihm offenbaren, so würden sie ihn kreuzigen. Doch, bei dem lebendigen Gott, wenn es aufrichtige Sucher geben würde, würde Ich ihnen offenbaren. So ist gesagt: »Die Liebe ist ein Licht das niemals in einem furchtsamen Herzen wohnt.«
Wahrlich, der Wanderer, welcher zu Gott und zu dem Roten Pfeiler auf dem schneeweißen Pfade wandert, wird dieses Ziel nur durch vollständige Aufgabe alles dessen erreichen, was Menschen besitzen: »Und wenn er Gott nicht fürchtet, wird Gott ihn alle Dinge fürchten lassen. Wer aber Gott fürchtet, den fürchten alle Dinge«.1
1 Ein arabischer Spruch
»Sprich Persisch, wenn auch Arabisch dir besser gefällt. Ein Liebender vermag viele Sprachen zu sprechen«.1
1 Rúmí: aus dem Mathnavi
Wie schön beschreiben diese beiden Zeilen eine solche Wahrheit:
Wenn Er Gnade gleich Perlen regnen läßt, siehst du unsere Herzen gleich Muscheln geöffnet.
Wenn Er Pfeile der Seelenpein schleudert, ist unser Leben die Zielscheibe.
(Persischer Spruch)
Wenn es nicht gegen das Gesetz des Buches wäre, würde Ich gewißlich einen Teil Meines Besitzes dem vermachen, der Mich erschlüge; Ich würde ihn zu Meinem Erben einsetzen, ja, Ich würde ihm sogar Dankbarkeit erzeigen und trachten, Meine Augen mit der Berührung seiner Hand zu erfrischen. Aber was vermag Ich zu tun? Ich habe keinen Besitz und keine Macht – und dies hat Gott so verordnet.1
1 Dies wurde vor Bahá’u’lláhs Erklärung (1863) geoffenbart. Die folgenden Zeilen beziehen sich auf das nahe Bevorstehen dieses Ereignisses
In diesem Augenblick vermeine Ich den süßen Duft Seines Gewandes1 einzuatmen, wie er aus dem Ägypten von Bahá2 kommt, als ob Er wirklich nahe sei, obschon Ihn die Menschen weit weg wähnen mögen.3 Meine Seele atmet den Wohlgeruch ein, der vom Geliebten ausgeht, Mein Sinn ist erfüllt von dem süßen Dufte Meines liebenden Begleiters.
1 Wörtlich: »das Gewand von Há«. »Há« bedeutet den Buchstaben »H», der hier »Bahá« versinnbildlicht.
2 Dies bezieht sich auf die Erzählung vom Joseph in der Bibel und im Qur’án
3 Gemeint sind damit diejenigen, welche nicht die unmittelbar bevorstehende Erklärung Dessen erwarteten, Den Gott offenbaren wird.
»Der Pflicht genüge langer Jahre des Liebens und plaudere von jenen glücklichen Zeiten, daß Erde und Himmel darob vor Freude jauchzen, Verstand und Herz und Auge sich daran ergötzen«.1
Rúmí: aus dem Mathnavi
Diese Ebene ist die Ebene vollkommener Bewußtheit und äußerster Selbstauslöschung. Selbst Liebe hat keinen Zugang zu diesem Bereiche, und Sehnsucht hat hier keinen Raum; wie schon gesagt ward: »Liebe ist ein Schleier zwischen dem Liebenden und dem Geliebten«.1 Die Liebe wird auf dieser Stufe zum Hemmnis und zur Schranke, und alles außer Ihm wird zu einem trennenden Vorhange. Darum sagte der Weise Saná’i:
1 Hadíth
»Kein von Verlangen erfülltes Herz wird jenen treffen, der das Herz an sich nimmt. Keine in einen Schleier gehüllte Seele wird mit der Rose der Schönheit Vereinigung erfahren«.1
1 Der erste bedeutende persische Dichter der Mystik. Er verfaßte das »Hidíqatu’l-Haqíqat« (Garten der Wahrheit) um 1131. Er stammt aus Ghazna oder Balkh.
Denn dies ist die Welt des Unbedingten Gebotes, und sie ist geheiligt von allen irdischen Eigenschaften.
Die erhabenen Bewohner dieser Stätte üben göttliche Herrschaft aus im Hofe des Frohlockens, in Freude und Wonne, und sie tragen das Zepter der Macht. Auf den erhabenen Sitzen der Gerechtigkeit erlassen sie ihre Verordnungen und verleihen Gaben, nach eines jeden rechtmäßigem Anteil. Jene, welche aus diesem Becher trinken, wohnen in den hohen Gemächern des Glanzes über dem Throne des Urewigen der Tage, und sie ruhen im Lichthimmel der Macht im Zelte der Erhabenheit: »Jene fühlen dort weder die Hitze der Sonne noch starre Kälte«.1
1 Qur’án 76:13
Hier stehen die erhabenen Himmel in keinem Gegensatz zur niederen Erde, noch suchen sie diese zu übertreffen. Denn dies ist das Land der Gnade und nicht das Reich der Unterscheidung. Obschon sie in jedem Augenblich einen anderen Dienst leisten, so ist doch der Zustand dieser Seelen immer der gleiche. So wurde über dieses Reich gesagt: »Kein Werk wird Ihn vor einem anderen zurückhalten«.1 Und zum anderen heißt es: »Er erscheint jeden Tag mit einem neuen Werk«.2
1 Dieses Zitat ist von einem der Erklärer der Súríh 55:29 verfaßt worden 2 Qur’án 55:29
Dies ist die Nahrung, deren Geschmack sich niemals ändert und deren Farbe nimmer schwindet. Wenn du von ihr genießest, wirst du wahrlich diesen Vers singen: »Wahrlich, ich wende mein Angesicht zu Ihm, Der Himmel und Erde erschuf, … und ich zähle nicht zu denen, die Ihm Götter beigesellten«.1
1 Qur’án 6:79
»Gleicherweise zeigten Wir Abraham die Reiche der Himmel und der Erde, damit Er zu den wahrhaft Wissenden gehöre«.1
1 Qur’án 6:75
»Darum lege deine Hand auf deine Brust; alsdann strecke sie aus mit Macht und siehe, du wirst sie als ein Licht für die ganze Welt erkennen«.1
1 Vergl dazu Qur’án 7:105 und das Hadith
Wie rein ist doch dieses frische Wasser, das der anbietet,der den Kelch trägt! Wie klar ist dieser reine Wein aus der Hand des Geliebten! Wie kostbar ist ein Trunk aus dem himmlischen Kelche! Möge er jene erfrischen, welche davon trinken, seine Süße genießen und zu seiner Erkenntnis gelangen.
»Mehr zu sagen geziemt sich nicht, kein Strombett kann das Meer ja fassen«.1
1 Rúmí: aus dem Mathnavi
Denn das Geheimnis dieser Äußerung ist verborgen im Speicher der Großen Unfehlbarkeit1 und ist niedergelegt in den Schatzkammern der Macht. Es ist geheiligt vor den Edelsteinen der Erklärung und steht über dem Scharfsinn der Erläuterung.
1 ‚Ismat-i-Kubrá: die unveränderliche Eigenschaft der Göttlichen Manifestation.
In diesem Zustande wird das Staunen hochgeschätzt, und vollkommene Armut ist wesentlich. Darum heißt es: »Armut ist Mein Stolz«.1
1 Ausspruch Muhammads
Und gleicherweise wird gesagt: »Gott hält ein Volk unter dem Dom der Herrlichkeit, welches Er im Gewand leuchtender Armut verbirgt«.1 Dies sind jene, welche mit Seinen Augen sehen und mit Seinen Ohren hören, wie es in der bekannten Überlieferung berichtet ist.
1 Hadith
Bezüglich dieses Zustandes gibt es viele Überlieferungen und Verse von allgemeiner und besonderer Bedeutung – zwei davon werden jedoch ausreichen, um sich den mit Herz und Verstand Ausgestatteten als Licht zu erweisen.
Zum ersten der Spruch: »O Mein Diener! Gehorche Mir, und Ich werde dich Mir Selbst ähnlich machen. Ich sage `Es sei` und es ist, und du wirst sagen `Es sei` und es wird sein.«
Und zum zweiten: »O Sohn Adams! Geselle dich zu niemandem, ehe du Mich nicht gefunden hast, und wann immer du nach Mir verlangst, wirst du Mich dir nahe finden.«
Welche erhabenen Beweise und wundervollen Hinweise auch immer hier erwähnt wurden, so beachte davon doch nur einen Buchstaben und einen einzigen Punkt. »Dies ist Gottes Weg …, und du wirst kein Abgehen vom Wege Gottes feststellen können«.1
1 Qur’án 33:62 und 48:23
Mich deiner erinnernd, hatte Ich dieses Schreiben vor einiger Zeit begonnen. Da jedoch damals dein Brief noch nicht angekommen war, wurden eingangs einige Worte der Klage erwähnt. Aber nun vertrieb dein letztes Schreiben dieses Gefühl und veranlaßte Mich, dir diesen Brief zusenden. Es erübrigt sich, von Meiner Liebe zu dir zu sprechen. »Gott genügt hierfür als Zeuge«.1
1 Qur’án 4:164
Was Shaykh Muhammad anbetrifft, – Gott der Allmächtige möge ihn segnen! – so beschränke Ich Mich auf die beiden folgenden Verse, um deren Übermittlung an ihn Ich bitte:
»Ich suche deine Nähe, die angenehmer als der süße Himmel ist; Ich betrachte dein Antlitz, das lieblicher denn der Garten des Paradieses ist«.1
1 Verse von Sa’dí, Muslihu’d-Dín aus Shíráz (ca. 1184-1291). Bedeutender persischer Dichter, Verfasser des »Bustán« (Garten) und des »Gulistán« (Rosengarten)
Als Ich diese Liebesbotschaft der Feder anvertraute, weigerte sie sich, die Last zu tragen und wurde ohnmächtig. Als sie das Bewußtsein wiedererlangte, sprach sie: »Preis sei Dir! Ich bereue vor Dir, und ich bin die erste unter denen, die glauben«.1 Preis sei Gott, dem Herrn der Welten!
1 Qur’án 7:140
»Laßt uns ein andermal künden von Wunde und Weh dieser Trennung. Es ist besser, wenn die Geheimnisse der Liebe auf andere Weise erzählt werden. Suche nicht Streit, Geschrei und ähnliches, sprich nimmermehr von Shams-i-Tabríz«.1
1 Shams-i-Tabríz, ein Súfí, der auf Jalálu’d-Dín Rúmí großen Einfluß ausübte, indem er dessen Aufmerksamkeit von der Wissenschaft auf die Mystik lenkte. Viele Werke Rúmís sind ihm gewidmet. Diese Zeilen stammen aus dem Mathnavi.
Friede ruhe auf dir und auf jenen, die um dich sind und deine Begegnung erfahren.
Was Ich zuvor geschrieben habe, wurde von den Fliegen verzehrt. Dies geschah, weil die Tinte so süß war – wie Sa’di schrieb: »Ich werde nicht mehr weiterschreiben, denn meine Worte sind so süß, daß ich von Fliegen belästigt werde«.1
1 Verse von Sa’dí, Muslihu’d-Dín aus Shíráz (ca. 1184-1291). Bedeutender persischer Dichter, Verfasser des »Bustán« (Garten) und des »Gulistán« (Rosengarten)
Nun aber ist die Hand unfähig, mehr zu schreiben, und fordert, es sei genug. Darum sage Ich: »Die Herrlichkeit deines Herrn, des Herrn aller Größe, ist weit erhaben über alles, was sie Ihm zuschreiben«.1
1 Qur’án 37:180
Bahá’u’lláhs `Sieben Täler`1, nach Shoghi Effendis Urteil »wohl Seine größte mystische Dichtung«, entstand ebenso wie das `Buch der Gewißheit`2 und die `Vier Täler` in der letzten Phase Seiner frühen Schaffenszeit in Baghdád, nachdem Er Sein zweijähriges Einsiedlerdasein in den Bergen Kurdistans beendet hatte und nun als Oberhaupt der Bábí-Gemeinde in der Hauptstadt der türkischen Provinz höchstes Ansehen genoß, noch bevor Er im Jahre 1863 als Stifter der Bahá’í-Religion hervortrat. Während das `Buch der Gewißheit` gezielte Fragen nach dem Selbstverständnis des Báb durch eine umfassende Einführung in das heilsgeschichtliche Geschehen der Gottesoffenbarung – und was sie den Menschen bedeuten kann – beantwortet, sind die beiden kürzeren Werke `Sieben Täler` und `Vier Täler` die Frucht einer Korrespondenz mit zwei hochgebildeteten Persönlichkeiten, die mit der islámischen Mystik vertraut sind. Die Themen der beiden Sendbriefe gehören seit Jahrhunderten zum Grundbestand der Súfí-Mystik: der siebenstufige mystische Pfad zum Ziel des Daseins und der vierfache Aspekt mystischer Vereinigung mit dem Unendlichen. Bahá’u’lláh erschließt Seinen Korrespondenzpartnern jeweils eine neue Sicht auf ihren tieferen Sinn.
1 GOTT GEHT VORÜBER 8:28 2 Hofheim 1997
Die beiden Empfänger sind Repräsentanten bestimmter Denkschulen der islámischen Mystik, mit der sich Bahá’u’lláh offenbar während Seiner Zurückgezogenheit in der Wildnis Kurdistans auseinandersetzte. Die `Sieben Täler` sind an einen Súfí gerichtet, den Shaykh Muhyi’d-Dín, von Beruf Richter in der Kleinstadt Khániqayn, nordöstlich von Baghdád nahe der persischen Grenze. Der Empfänger der `Vier Täler` ist ein Geistlicher: der gelehrte Shaykh Abdu’r-Rahmán, Oberhaupt des sunnitischen Qádiríyyih-Ordens in Karkúk, einer Stadt im iráqischen Kurdistán.
Die Súfí-Mystik1 erstrebt wie alle Mystik die Erkenntnis der letzten Wirklichkeit und die Vereinigung mit ihr. Ihre besonderen Ausdrucksformen haben zunächst ihre Wurzeln im Qur’án und dem Bemühen der Gläubigen, den `Islám` (wörtlich: `Ergebung`) zu praktizieren, seine Lehren im Leben zu verwirklichen, um schließlich das Ziel der menschlichen Existenz zu erreichen: die Gegenwart Gottes. Dieses Ziel, die Gottnähe, erlangt der Mensch je nach Veranlagung mittels Gebet und Meditation, verdienstvollen Taten, Askese, Gottesliebe oder Ekstase. Im Laufe der Jahrhunderte entstanden viele `Schulen` unter hervorragenden Súfí-Lehrern mit jeweils besonderen Regeln und Begriffen, die nur dem Eingeweihten zugänglich waren und den stufenweisen Fortschritt auf dem `Pfad der Gottesliebe` kennzeichnen. Der Súfísmus, wie er sich in seiner programmatischen Literatur ausprägt, entwickelte sich seit dem 9.Jahrhundert und erlangte eine Hochblüte zwischen dem ausgehenden 11. und Anfang des 13. Jahrhunderts vornehmlich auf dem Gebiet der persischen Dichtung. Die Werke von Jalálu’d-Dín Rúmí, Sa’dí und Háfiz haben dieses Gedankengut auch im Abendland bekannt und fruchtbar gemacht.
1 eine Einführung bietet Annemarie Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus, Köln 1985
Der Adressat der `Sieben Täler`, Shaykh Muhyi’d-Dín, bezog sich in seiner Frage an Bahá’u’lláh auf ein bekanntes Werk des Dichters Farídu’d-Dín ‚Attár (gest. 1230), in dessen berühmtem Mantiqu‘-ayr (`Sprache der Vögel`; um 1180) die Fabel von der Suche der Vögel nach dem mythischen Vogel Phönix, dem Symbol der Unsterblichkeit, erzählt wird. Sie kommen dabei durch die sieben Täler des Suchens, der Liebe, des Wissens, des Nichtbedürfens, der Einheit, der Verwirrung und der `Entäußerung und des Entwerdens`.1 Die Suche der Vögel und die dabei erforderlichen Eigenschaften wie Liebe, Duldsamkeit und Opferwille, versinnbildlichen den Wanderweg des Súfí-Gottsuchers zu den Urgründen der Gottheit. Auf diesem Hintergrund beschreibt Bahá’u’lláh »die sieben Stadien, welche die Seele des Suchers notwendig durchlaufen muß, ehe sie zum Ziel ihres Daseins gelangen kann«2. Er bestätigt mit Seiner Darstellung die göttliche Wahrheit, die in allen Religionen als höchstes und letztes Ziel geschildert wird: ein Reich, das nicht von dieser Welt, aber vom wahren, opferbereiten und hingebungsvollen Gottsucher, der sich vom Ego und seinen Vorurteilen gelöst hat, zu erstreben und zu erreichen ist. Kern der Lehre Bahá’u’lláhs ist, daß der Gottsucher nur dann in die Gegenwart des Höchsten gelangen kann, wenn er auf den gottgesandten Propheten seines Zeitalters hört und Seinen Geboten folgt. Ein individuelles Einswerden mit dem Absoluten ist dem Menschen infolge seiner geistigen Begrenztheit nicht möglich, wohl aber kann er in Seine Nähe gelangen, indem er sich der Führung durch das Wort Gottes und dessen erwählten Vermittler anvertraut und die gottgewollten Eigenschaften in seinem Leben zum Ausdruck bringt. Wenn der Gottsucher den rechten Geist mitbringt, wenn er für die geistigen Gaben der göttlichen Vermittler aufgeschlossen ist, können ihm die Sieben Täler den ersehnten Weg zum Höchsten zeigen und ihn zu himmlischem Wissen und menschlicher Vollkommenheit leiten.
1 vgl. Helmut Ritter, Das Meer der Seele. Mensch, Welt und Gott in den Geschichten des Faríduddín Attár, Leiden 1955
2 Shoghi Effendi, a.a.O.
Auch die Vier Täler an den gelehrten Shaykh Abdu’r-Rahmán greifen Gedanken aus der Súfí-Mystik auf. Das eine, umfassende Ziel des Gottsuchers wird unter verschiedenen Namen benannt, die jeweils einen bestimmten Aspekt bezeichnen. Es sind deren vier, eine Zahl, die besonders in der islámischen Literatur das Ganze symbolisiert. In jedem der vier Täler erscheint dem Sucher ein besonderes Attribut Gottes als höchstes Ziel: der Ersehnte, der Gepriesene, der Anziehende und der Geliebte. In allen Tälern erreicht der Wanderer dadurch sein Ziel, daß er sich von dem entsprechenden Aspekt, den der Name ausdrückt, leiten läßt. Am Ende steht die völlige Hingabe an die von Gott gestellte Lebensaufgabe: der Dienst an der Menschheit.
Obgleich die `Sieben Täler` und die `Vier Täler`, im mystischen Gehalt und im Grundschema einander ähnlich scheinen, sind es doch zwei eigenständige Schriften Bahá’u’lláhs, die den jeweiligen Korrespondenzpartner auf seine Art lehren, »den mystischen Pfad mit praktischen Füßen« zu gehen. Der Súfí und Ortsrichter bekommt mit den Sieben Tälern den Wegweiser zur rechten Lebensführung, und der geistlich gelehrte Ordensobere mit den Vier Tälern die Bestätigung, daß auch die subtilsten Theorien der Selbstverwirklichung den praktischen Dienst an der Menschheit nicht ausblenden können, vielmehr letzten Endes darin münden müssen.
Die Wege des Suchers (von Robert L. Gulick jr.)
Religion kann vernünftig sein, ohne ihr Feuer zu verlieren. Wahre Religion vermeidet magischen Putz und achtet des Menschen Hoffnung auf ein reicheres Leben. Mit dem Schild des Glaubens bewaffnet, können wir diese Erde von ihrem Fluch befreien : von vernichtendem Krieg, von entwürdigender Armut, von nutzlosem Leiden, von Gewaltherrschaft. Zu viel Nachdruck auf Sinnbilder und Rituale zehrt die Lebenskraft des Gottesglaubens aus. Die Bahá’í wissen, daß »die Menschenwelt im Dunkeln tappt, weil sie die Fühlung mit der Welt Gottes verloren hat«.
Die Bahá’í bezeugen die Erhabenheit und den veredelnden Einfluß aller Propheten. Ihr Ziel ist die Vereinigung aller Völker in einer umfassenden Bewegung, einem gemeinsamen Glauben. Der Prophet Gottes kommt zur Welt und lebt unter den Menschen, »um eine ständig fortschreitende Kultur voranzutragen«. Gehorsam gegenüber dem Propheten ist die Triebfeder menschlichen Fortschritts. Der Gesandte Gottes kann die Krankheiten der Welt heilen und das Volk zu »einer Herde« mit einem »Hirten« einigen.
Die Begründer der großen Religionen hatten zwei Aufgaben. Die eine bestand darin, den Pfad Gottes von dem Schutt zu säubern, den die Menschen aufgehäuft hatten. Die andere war, Ziele für den gesellschaftlichen Fortschritt zu setzen. Jeder Religionsstifter gab dieselben Grundlehren; den Glauben an einen einzigen Gott, das Gesetz der Liebe, die Brüderlichkeit der Menschen und das ewige Leben. Das Hauptbedürfnis unserer Zeit ist eine gerechte Weltordnung, und höchstes Ziel jedes Bahá’í ist es, die Einheit der Menschen zu fördern.
Die Bahá’í-Religion ist eine unabhängige Offenbarungsreligion, keine Sekte und kein Ableger eines früheren Bekenntnisses. Sie entstand in der Nacht des 22./23. Mai 1844, als in Shíráz, Persien, ‚Alí Muhammad, ein Nachkomme des Propheten Muhammad, Seinen jungen Gast, Mullá Husayn, durch die Erklärung bestürzte, Er sei ein Bote Gottes. Er nahm den Titel Báb (das Tor) an. Wie Johannes der Täufer verkündete Er, der Vorläufer eines anderen, Größeren, zu sein. Darüber hinaus beanspruchte Er den Rang eines unabhängigen Propheten, ausgestattet mit der Vollmacht, vorherrschende religiöse Bräuche zu ändern und Gebete und Gesetze zu offenbaren. Später werde Seine Sendung abgelöst durch die Sendung »Dessen, Den Gott offenbaren wird«.
Der Báb war in Shíráz, der Stadt der Dichter Háfiz und Sa’dí, am 20. Oktober 1819 geboren worden. Als Kind setzte Er Seinen Lehrer durch Tugendhaftigkeit und angeborenes Wissen in Erstaunen. Später setzten Seine Redlichkeit und Sein Gerechtigkeitssinn als Kaufmann in der Geschäftswelt hohe Maßstäbe.
Die Jahre nach der Erklärung des Báb waren erfüllt von Unruhe. Innerhalb eines Jahres mordeten die unwissenden persischen Muslim in ihrem blinden Fanatismus 4000 Bábí.
Den ersten, der an Ihn glaubte, traf eine Kugel aus dem Hinterhalt; Sein bedeutendster Jünger, Quddús, wurde auf dem Markt von Barfurúsh (Bábul) in Stücke zerrissen. Táhirih, die Dichterin und wichtigste Frau unter den Bábí, schleuderte ihren Mördern entgegen: »Ihr könnt mich töten, wann ihr wollt, aber die Gleichberechtigung der Frauen könnt ihr nicht aufhalten!« Der Rest von 313 Gläubigen, die im Grabmal des Shaykh Tabarsí in einem Wald am Kaspischen Meer Zuflucht gesucht hatten, wurden niedergemacht oder als Sklaven verkauft; ein Prinz brach sein Versprechen, sie frei nach Hause ziehen zu lassen.
Unter den vielen Büchern des Báb, die Er teilweise als Gefangener in den Bergen von Ádhirbáyján schrieb, ragen der Persische Bayán, der Arabische Bayán und das Qayyúmu’l-Asmá‘ hervor. Den Persischen Bayán übersetzte A. L. M. Nicolas, der im Irán geborene französische Konsul in Tabríz, der sich für den Lebenslauf und die Lehren des Propheten aus Shíráz begeisterte, in die französische Sprache.
Wofür der Báb Sein Leben opferte, das war die Liebe zu Bahá’u’lláh, der Herrlichkeit Gottes. Sein dramatischer Märtyrertod ereignete sich auf dem windgepeitschten Kasernenhof von Tabríz zur Mittagsstunde des 9. Juli 1850. Mit einem Seil wurde Er an einen Pfeiler gefesselt; 750 Mann feuerten auf Ihn, aber der Báb blieb unverletzt und führte eine Unterhaltung mit Seinem Sekretär zu Ende. Das Feuerkommando war nicht bereit, die Exekution zu wiederholen; ein anderes Regiment mußte anrücken. Als der Báb starb, erhob sich ein heftiger Sturm über der Stadt und blendete ihren Menschen die Augen, bis die Nacht hereinbrach. Innerhalb weniger Jahre kamen sämtliche Angehörigen des zweiten Exekutionskommandos grausam um: 250 Mann samt Offizieren starben in einem schlimmen Erdbeben, die übrigen erlitten als Strafe für eine Meuterei »das gleiche Schicksal, das ihre Hand dem Báb bereitet hatte«.1
1 GOTT GEHT VORÜBER S.59
Im Mittelpunkt des zweiten Abschnitts der Bahá’í-Geschichte steht Bahá’u’lláh als derjenige, den der Báb angekündigt hatte. Er war am 12. November 1817 in Tihrán, der Hauptstadt Persiens, geboren worden und bekam den Namen Husayn ‚Alí. Später nahm Er den geistigen Namen Bahá’u’lláh an, was auf arabisch »die Herrlichkeit Gottes« bedeutet und in der Offenbarung Johannis mit einem neuen Himmel und einer neuen Erde in Verbindung gebracht wird.
Husayn ‚Alí entstammte einer hochangesehenen, reichen Adelsfamilie. Eine glänzende Laufbahn im Staatsdienst stand Ihm offen, aber Er kümmerte sich nicht um die Tagespolitik und um äußerliche Macht. Sein Reich war nicht von dieser Welt. Dem Luxusleben Seiner Umgebung abgewandt, setzte Er sich spontan für die Sache des Báb ein. Er wußte wohl, daß dies Entbehrung, Leid und Verfolgung für Ihn selbst und Seine Lieben bedeutete. Der Schicksalsschlag traf Ihn, als Er im August 1852 in das Schwarze Loch, den Kerker von Tihrán, geworfen wurde. In diesem unterirdischen Verlies, umgeben von Dieben und Mördern, in schweren Ketten, die sich Ihm tief ins Fleisch schnitten und lebenslänglich Narben hinterließen, inmitten des Schmutzes, des Schreckens und des peinvollen Düsters wurde die Offenbarung Bahá’u’lláhs geboren. »Eines Nachts im Traum waren von allen Seiten diese erhabenen Worte zu hören: `Wahrlich, Wir werden Dich durch Dein selbst und durch Deine Feder siegreich machen. Sei nicht traurig über das, was Dir widerfahren ist, und fürchte Dich nicht, denn Du bist in Sicherheit. Binnen kurzem wird Gott die Schätze der Erde offenkundig machen – Menschen, die Dir beistehen werden durch Dich selbst und durch Deinen Namen, durch welchen Gott die Herzen derer belebt, die Ihn erkannt haben`«.1
1 Bahá’u’lláh »Brief an den Sohn des Wolfes«, Frankfurt 1966, S.34
Im Januar 1853 wurde Bahá’u’lláh mit Seiner Familie aus Persien verbannt. Er wandte sich nach Bagdád. Die Reise mitten im Winter ging über Kirmánsháhs gewundene Pfade durch das vereiste Gebirge westwärts nach der Stadt am Tigris. Die Jahre gingen ins Land, Bahá’u’lláhs Ansehen wuchs, viele Gelehrte besuchten Ihn, wandelten mit Ihm am Flußufer und erforschten Seine Ansichten.
Auf diesen Spaziergängen am Tigris und bei gelegentlichen Ruhepausen in einer Moschee, die als Zeuge jener Tage verblieben ist, verfaßte Bahá’u’lláh die »Verborgenen Worte«, Sinnsprüche über die Wesenszüge wahrer Religion. Sein wichtigstes Werk aus Baghdád ist das »Buch der Gewißheit«. Es behandelt Seine Lehre der fortschreitenden Gottesoffenbarung, wonach Propheten das Wort Gottes nach den Bedürfnissen und der Fassungskraft der Menschen offenbaren. Sein Einfluß wurde stärker, als es den Herrschern Persiens und der Türkei genehm war; sie beschlossen, Ihn weiter von Seinem Vaterland zu entfernen.
Am 22. April 1863 verließ Bahá’u’lláh Seinen Wohnsitz, überquerte den Tigris und pflanzte Sein Zelt in einem Garten auf, den er Ridván, den Garten des Paradieses, nannte. Hier erklärte sich seinen vertrauten als die Manifestation Gottes, die der Báb angekündigt hatte und die das seit Anbeginn der Geschichte verheißene Reich des Friedens einleiten soll.
Die nächsten Stationen Seines Verbannungsweges waren Konstantinopel (Istanbul) und Adrianopel (Edirne), wo Bahá’u’lláh öffentlich Seine Sendung verkündete. In Adrianopel offenbarte Er das Sendschreiben an die Könige: Er warnte die Herrscher des Ostens und des Westens, ihr Ungehorsam gegen Gott werde sie in den sicheren Untergang treiben. Sein mächtigster Feind, Násiri’d-DínSháh, wurde später am Vorabend seines Regierungsjubiläums ermordet, ‚Abdu’l-‚Azíz, der Sultan der Türkei, fiel schon 1876 in seinem Harem einem Anschlag von Ministern und Generälen zum Opfer.
Schließlich wurde Bahá’u’lláh 1868 in der Gefängnisstadt ‚Akká, der alten Kreuzritterfestung, eingekerkert. Selbst das Klima dieses verpesteten und verseuchten Flecks Erde schien sich während Seines Aufenthalts zu bessern. Dort, im Heiligen Land, schrieb Er das Buch Aqdas, Sein »Heiligstes Buch«. In diesem Gesetzeswerk schafft er viele überholte Gebote der alten Religionen ab, verordnet Pflichtgebete, legt einen neuen Kalender, Fest- und Fastentage fest, verurteilt üble Nachrede, Müßiggang und Grausamkeit gegenüber Tieren. Das Buch verbietet den Genuß von Rauschgiften und Alkohol, außer für wissenschaftliche Zwecke, ferner Sklaverei, Bettelei, Mönchstum und Glücksspiele. Die Einehe wird vorgeschrieben, die Abfassung eines Testaments zur Pflicht gemacht. Jeder Bahá’í hat seiner Regierung zu gehorchen. Unter den Bahá’í-Tugenden sind Sauberkeit, Keuschheit, Vertrauenswürdigkeit, Gastfreundschaft, Höflichkeit und Gerechtigkeitssinn besonders hervorgehoben.
Den einzigen Besuch aus dem Westen stattete 1890 Professor Edward G. Browne von der Universität Cambridge Bahá’u’lláh ab. Ein Satz aus Brownes Aufzeichnungen genügt, um den Eindruck zu ermessen, den dieser Besuch bei ihm hinterlassen hat: »Hier bedurfte es keiner Frage mehr, vor wem ich stand, als ich mich vor einem Manne neigte, der Gegenstand einer Verehrung und Liebe ist, um die Ihn Könige beneiden könnten und nach der sich Kaiser vergeblich sehnen«.1
1 GOTT GEHT VORÜBER S.221
Vor Seinem Hinscheiden 1892 schrieb Bahá’u’lláh ein Testament, in dem Er Seinen Sohn ‚Abdu’l-Bahá bevollmächtigte, Seine Lehren auszulegen. ‚Abdu’l-Bahás ursprünglicher Name war ‚Abbás Effendi; Er war in Tihrán in derselben Nacht des 22. Mai 1844 geboren worden, in der sich der Báb in Shíráz erklärte. Gefängnis und Verbannung teilte Er mit Seinem Vater. Noch als Kind wurde Er aufgefordert, einen Vers des Qur’án zu kommentieren; Er schrieb ein literarisches Meisterwerk. Seine hervorragende soziologische Arbeit war »Das Geheimnis göttlicher Kultur«.1
1 auszugsweise in »Bahá’í-Briefe«, Heft 4-7, S. 92-154
Während einer kurzen Periode der Freiheit reiste ‚Abdu’l-Bahá 1911 bis 1913 nach Ägypten, Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika. In Universitäten, Kirchen und Klubs, vor einer Vielzahl von Zuhörern, hielt Er Ansprachen, und viele Prominente suchten Seine Gegenwart auf. Professor Dr. David Starr Jordan, ein bedeutender Wissenschaftler und Präsident der Stanford University, sagte: »Sicherlich wird Er den Osten und den Westen vereinen, denn Er beschreitet den Pfad der Mystik mit praktischen Füßen«. Ein hoher Beamter der amerikanischen Bundesregierung suchte Seinen Rat, und Er empfahl ihm: »Sie können Ihrem Land am besten dienen, indem Sie in Ihrer Eigenschaft als Weltbürger bestrebt sind mitzuhelfen, daß das Prinzip des Föderalismus, das der Regierung Ihres eigenen Landes zugrunde liegt, endlich auf die Beziehungen angewandt wird, die jetzt zwischen den Völkern und Nationen der Welt bestehen«.1 In Sacramento, Kalifornien, sagte Er 1912 den Ausbruch des Ersten Weltkriegs für das Jahr 1914 voraus, brachte aber auch die Hoffnung zum Ausdruck, daß »das erste Banner des Weltfriedens« in diesem Land, in dem später die Charta der Vereinten Nationen unterzeichnet wurde, aufgerichtet werde. Die Freiheit war das, was Er in Amerika am meisten schätzte. »Amerika wird alle Nationen geistig führen«, prophezeite Er.
1 vgl. Shoghi Effendi »Das Ziel: die neue Weltordnung«, »Bahá’í-Briefe« 40, p1101.
In Anerkennung Seiner langjährigen Dienste an der Sache der internationalen Versöhnung und am öffentlichen Wohl verlieh die britische Regierung ‚Abdu’l-Bahá in Haifa im April 1920 die Ritterwürde. Im November des folgenden Jahres starb Er. Dr. J. E. Esslemont schrieb zu Seinem Andenken: »Er zeigte, daß es auch inmitten der Unrast und Hetze des modernen Lebens, inmitten der ringsum herrschenden Eigenliebe und des Kampfes um materiellen Wohlstand möglich ist, das Leben völliger Hingabe an Gott und des Dienstes am Mitmenschen zu führen, das Christus, Bahá’u’lláh und alle Propheten vom Menschen gefordert haben«.
Die Bahá’í glauben an ein Größeres Bündnis, nach welchem Gott verheißen hat, dem Menschen allezeit einen göttlichen Boten zu senden, einen Baum der Führung an der Straße des Fortschritts. In einem Kleineren Bündnis sagt jede Manifestation Gottes das Kommen des nächsten Gottgesandten voraus, wie Jesus Christus in der Prophezeiung über den »Geist der Wahrheit«, der die Gläubigen »in alle Wahrheit leiten werde«. Zum ersten Mal in der Religionsgeschichte sind nun, durch Bahá’u’lláh selbst und in Seiner Nachfolge durch ‚Abdu’l-Bahá, diese Bündnisse zu einer umfassenden Gesellschafts- und Verwaltungsordnung gestaltet worden. Grundlage und Zentrum des Gemeindelebens ist das Neunzehntagefest.
Alle 19 Tage, einmal in jedem Bahá’í-Monat, trifft sich jede örtliche Gemeinde zu einem Fest, das aus drei Teilen besteht: Lektüre heiliger Texte und gemeinsames Gebet, Berichte über Gemeindeangelegenheiten und Beratung, gemeinsamer Imbiß und Geselligkeit. Auf der Grundlage dieser Geistigkeit und Personenkenntnis können die örtlichen Geistigen Räte jedes Frühjahr ohne Kandidaturen und ohne jede Wahlbeeinflussung gewählt werden; die Wahl ist ein wichtiger Akt des Gottesdienstes, der in Gebetshaltung vollzogen wird. Die Räte selbst sind nur Gott und Seinem geoffenbarten Willen gegenüber für Ihre Entscheidungen verantwortlich; außerhalb der Ratssitzungen haben die Ratsmitglieder keine Vorrechte und Sonderbefugnisse. Die Nationalen Geistigen Räte und das Universale Haus der Gerechtigkeit, das als international leitende Körperschaft des Bahá’í-Glaubens 1963 erstmals gebildet wurde, werden nach den selben Regeln gewählt.
Neben diesem republikanischen Element lebte auch die persönliche Nachfolge der Manifestation Gottes fort. ‚Abdu’l-Bahá ernannte Seinen ältesten Enkelsohn, Shoghi Effendi, zum Hüter des Gottesglaubens und nannte ihn »das Zeichen Gottes« auf Erden. Niemand dürfte mehr überrascht gewesen sein als Shoghi Effendi selbst, der damals, 1921, in Oxford studierte.
Das Wirken Shoghi Effendis bis zu seinem Tode im November 1957 war von vielfältigen Projekten gekrönt. Am meisten Zeit verwendete er auf seine umfangreiche Korrespondenz mit Bahá’í-Zentren und Einzelpersonen in aller Welt. Er richtete persönlich die internationalen Bahá’í-Archive in Haifa, Israel, dem Weltzentrum des Glaubens, ein. Seine historischen und analytischen Schriften umfassen unter anderem die Werke »Gott geht vorüber«, »Der verheißene Tag ist gekommen« und »Die Weltordnung Bahá’u’lláhs«. Zu seinen unvergleichlichen Übersetzungen aus dem Persischen und Arabischen ins Englische zählen »Gebete und Meditationen Bahá’u’lláhs«, »Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs«, »Verborgene Worte«, »Das Buch der Gewißheit«, »Brief an den Sohn des Wolfes« und das Geschichtswerk »The Dawn Breakers« von Nabil. Shoghi Effendi besorgte die Herausgabe der Jahrbücher »The Bahá’í World« und traf Entscheidungen zu mannigfaltigen Problemen.
Während des Wirkens des Báb (1844-1850) breitete sich der Glaube nur in Persien und dem ‚Iráq aus. Elf Länder kamen unter der Führung Bahá’u’lláhs (1853-1892) hinzu. ‚Abdu’l-Bahás Leitung brachte die Zahl der Länder und Territorien auf 33; um 1950 hatte die Bahá’í-Religion in 101 Ländern Fuß gefaßt; ihr Schrifttum war in 60 Sprachen übersetzt. Mit elf Neugründungen waren es im Mai 1970 insgesamt 94 Nationale Geistige Räte, auf die sich das Universale Haus der Gerechtigkeit bei der Durchführung des gegenwärtigen Neunjahrplanes 1964 bis 1973 für die Verbreitung des Bahá’í-Glaubens stützen kann.
Grundlage dieses Glaubens ist die Einheit Gottes und die Einheit der Menschheit. Erkenntnis ist die größte Gabe Gottes an den Menschen; die Suche nach ihr muß frei und unbehindert sein. Religion und Wissenschaft müssen für das Wohl des Menschen zusammenwirken; sonst degeneriert die Religion zu Aberglauben, und die Wissenschaft wird ein Frankenstein-Ungeheuer. Die Erziehung muß umfassend sein und zur allgemeinen Pflicht werden. Eine Weltsprache muß auf demokratische Weise bestimmt und neben den Nationalsprachen in allen Schulen der Welt gelehrt werden. Die Frauen sollen auf allen Gebieten dieselben Chancen wie die Männer haben. Die häßlichen und haßerzeugenden Vorurteile der Nation, der Rasse, des Glaubens und der Klasse müssen ausgetilgt werden. Die Religion muß die Quelle einer wahren Liebe sein, die weit über Toleranz hinausgeht. Die Beseitigung von Armut ist nicht lediglich eine Frage der Verteilung; sie ist ein geistiges Problem, das alle Menschen guten Willens angeht. Es muß Arbeit für alle geben, so daß keine untätigen Armen und keine untätigen Reichen übrig bleiben. Dienst an der Gesellschaft ist Gebet; ehrbare Arbeit wird zum Rang des Gottesdienstes erhoben. Bahá’u’lláh drängte schon vor über hundert Jahren auf die Einschränkung der nationalen Kriegsrüstungen. Internationale Streitigkeiten müssen durch ein Weltgericht entschieden werden; hinter seinem zwingenden, endgültigen Urteilsspruch muß eine internationale Streitmacht stehen. Die Macht muß zur Diener in der Gerechtigkeit werden.
»Der Herr ist gekommen! Christus ist wiedergekehrt in der Herrlichkeit des Vaters!« Das ist der herausfordernde Anspruch und der höchste Lehrsatz des Bahá’í-Glaubens. Welche Beweise werden angeboten? Warum hat nicht jedes Auge den Herrn der Heerscharen erkannt? Der ungeschulte Verstand mißversteht Symbole als etwas Reales und bringt poetische Wahrheit mit praktischer Wahrheit durcheinander. Die Israeliten weigerten sich, Christus anzuerkennen, weil Er ihre Erwartungen, der Messias käme von einem unbekannten Ort, ein Schwert in der Hand, er würde König der Juden und befreite Israel vom römischen Joch, nicht buchstäblich erfüllte. Die herkömmliche Einstellung zu der Verheißung, »jedes Auge werde Ihn sehen«, geht buchstäblich und bildlich von der Vorstellung aus, die Erde sei eine flache Scheibe.
Beweise für Bahá’u’lláh liegen darin, daß Seine Lehren nicht von Menschen übernommen sind, daß Seine Prophezeiungen eingetreten sind, daß Seine Lehren die weltweite Bahá’í-Gemeinde hervorgebracht haben, in der sich alter Haß in dauerhafte Liebe verwandelt hat. Die Weltordnung Bahá’u’lláhs ist das Reich Gottes, um das die Christen beten, das Neue Jerusalem. Nicht auf die Buchstabengläubigen, sondern die »wartenden Knechte«, die »hungern und dürsten nach Gerechtigkeit«, wird gerechnet: Sie sollen sich die Herausforderung, Baumeister einer neuen Weltkultur zu werden, ans Herz wachsen lassen.
Die Bahá’í wissen, daß eine Wandlung der Herzen, eine Bekehrung im besten Sinne des Wortes, die einzige Veränderung ist, die der Menschheit dauerhaften Frieden und Gerechtigkeit bringt.
Die »Sieben Täler« von Bahá’u’lláh können als Gipfelpunkt im Reiche mystischer Verdichtung angesprochen werden. Dieser tiefgreifende Essay entstand als Antwort auf Fragen des Shaykh Muhyi’d-Dín, des Richters von Khániqayn, einer kleinen Stadt in Kurdistán. Offensichtlich war der Kadi ein Student und Anhänger der Súfí-Philosophie, einer mystischen Bewegung, die vor 1200 Jahren innerhalb des Islám entstand. Ziel des Súfí ist es, durch Meditation und Gebet, Kontemplation und Ekstase in die Gegenwart Gottes zu gelangen. Eine besondere Begriffswelt wurde entwickelt, um die Stufen geistigen Fortschritts darzustellen. Manche Súfí faßten die Lehrmeinung, sie könnten direkt, ohne Hilfe Muhammads oder anderer Propheten, zu Gott gelangen. Diese Ansicht führte sie folgerichtig zu der Behauptung, sie seien vom religiösen Gesetz befreit, und im Unterschied zur großen Masse der Gläubigen sei das Gewissen für sie selbst eine zuverlässige Führung. Die größten persischen Mystiker, Jalálu’d-Dín Rúmí und al-Ghazzálí, wandten sich gegen diese Theorie; sie bestätigten, daß der Mensch nur durch den Gehorsam gegen die vom Gesandten Gottes geoffenbarten Gesetze in die göttliche Gegenwart gelangen könne.
Shaykh Mubyi’d-Dín war zweifellos mit den Schriften des großen persischen Súfí aus dem 12. Jahrhundert, Farídu’d-Dín ‚Attár, vertraut. ‚Attár hatte den richtigen Namen; er war ein Parfumeur, bevor er Philosoph wurde. Sein bekanntestes Werk war »Mantiqu’t-Tayr« oder »Die Sprache der Vögel«. Darin wird die Reise der Seele durch sieben Täler beschrieben: Suche, Liebe, Erkenntnis, Loslösung, Vereinigung, Bestürzung und Nichtswerdung. Bahá’u’lláh verwendet ein ähnliches, wenn auch keineswegs gleiches Muster in Seinen persischen »Sieben Tälern«, um die sieben Stufen des Fortschritts der Seele zum Ziel ihres Daseins anzudeuten. Er schrieb dieses Werk nach Seiner Rückkehr aus der Einsamkeit der Berge um Sulaymáníyyi. Das Thema ist seinem Wesen nach zeit- und raumlos; es geht um die innersten Wahrheiten der Religion. Die geistige Wirklichkeit ist dieselbe in allen fest gegründeten Religionen, und sie ist die Grundlage des Glaubens. Das meint Bahá’u’lláh, wenn Er über Seinen Glauben sagt: »Dies ist der unwandelbare Glaube Gottes, ewig in der Vergangenheit, ewig in der Zukunft«. Die gesellschaftlichen Lehren Bahá’u’lláhs sind deutlich dem 20. Jahrhundert und den nachfolgenden Generationen angepaßt; sie weichen klar von den Werten vergangener Kulturen und Religionssysteme ab. Aber die »Sieben Täler« behandeln das Reich, das nicht von dieser Welt ist, und unterscheiden sich nicht grundlegend von der Bergpredigt oder von Muhammads Beschreibung Gottes, des Allerbarmers, des Allbarmherzigen.
Die »Sieben Täler« lehren, der Weg in die Gegenwart Gottes führe über das Hören auf die Botschaft der Manifestation Gottes für unsere Zeit. Ein gewöhnlicher und selbst ein außergewöhnlicher Mensch kann niemals hoffen, ein Christus zu werden. So sehr er sich auch müht, kann doch keiner seiner Körpergröße einen Zoll hinzufügen; eine Distel wird niemals Feigen tragen. Keiner kann beanspruchen, mit der Wesenheit Gottes identisch zu sein; denn keiner besitzt unendliche Macht, Erkenntnis und Güte. Aber jeder Mensch, wie niedrig auch seine Herkunft sei, kann die Attribute Gottes erwerben, indem er sich den göttlichen Gesetzen unterwirft und das Wort Gottes, wie es durch Seine Manifestationen geoffenbart wurde, aus seinem eigenen Niesen heraus wiederspiegelt. Der Mensch, der an das Ziel der mystischen Suche, in die Gegenwart Gottes, gelangt, ist derjenige, der die Manifestation Gottes für sein Zeitalter anerkennt und sich durch die Befolgung ihrer Gebote mit solchen himmlischen Eigenschaften bekleidet, die es ihm ermöglichen, seinem Geliebten näherzukommen. Ein solcher Mensch wird niemals von sich behaupten, er sei gottähnlich; vielmehr werden seine Taten für ihn sprechen.
In Persien erzählt man sich die Geschichte eines Mannes, der seinen Sohn mit sich in einen Garten nahm, wo viele Leute zum Gebet versammelt waren. Nach einer Stunde voll Gebeten und Gesängen sah sich der Knabe um und bemerkte, daß viele Andächtige nicht dem Gebet, sondern dem Schlaf hingegeben waren. Er fragte seinen Vater: »Sind wir nicht besser als alle, die schlafen, statt zu beten?« Der Vater antwortete schlicht: »Du könntest besser gewesen sein, hättest du nicht diese Frage gestellt.«
Die Verse von Rúmí im Tal der Einheit über Khidr beziehen sich auf die Erzählung im Qur’án (18,59-81) über den göttlichen Boten, dem sich Moses anschloß, um von ihm Führung zu erlangen. Sie bestiegen ein Schiff, in das Khidr ein Loch machte. Moses wundert sich darüber: »Hast Du ein Loch hinein gemacht damit Du seine Mannschaft ertränkst?« Später erklärt Khidr, »das Schiff gehörte armen Leuten, die auf dem Meere arbeiten, und ich wollte es beschädigen, da hinter ihnen ein König war, der jedes Schiff mit Gewalt nahm«. Diese Erzählung hat eine zweifache Bedeutung. Die erste ist, daß das Geschöpf die Taten seines Schöpfers nicht mit den eigenen, fehlerhaften Maßstäben messen sollte; die zweite, daß ein Unglück, das der Himmel schickt, gnädig und barmherzig sein kann.
Im Tal des Staunens wird ein Vers von Saná’í über die Unfähigkeit der reinen Vernunft, das Wort Gottes zu begreifen, zitiert. Der Dichter fragt, ob eine Spinne in ihrem Netz einen Phönix fangen könne. Der Phönix, ein mythischer Vogel mit tausend Jahren Lebenserwartung, spielt in der Gottesgelehrsamkeit zahlreicher Völker eine große Rolle. Er soll allein leben und einen flötengleichen Schnabel mit hundert Löchern haben; jedes Loch öffnet sich und bringt einen mystischen Laut hervor. Wenn der Tod naht, bereitet sich der Phönix einen Scheiterhaufen, tönt sein tragisches Lied und entzündet das Feuer mit seinen Federn. Die Kohlen verglühen bis auf einen letzten Funken, und dann erhebt sich wundersam ein neuer Phönix aus der Asche. Auf eine Anfrage hin erklärt Shoghi Effendi, der Hüter des Bahá’í-Glaubens, das Symbol des Phönix »hat nichts mit der Manifestation Gottes zu tun, aber es wird dichterisch gebraucht, um den Gedanken an etwas Unsterbliches oder an etwas aus der Zerstörung Aufsteigendes auszudrücken …«
Auch wenn der Inhalt der »Sieben Täler« esoterisch und dem Alltagsleben in der rauhen Wirklichkeit fern erscheint, gibt es eine breite, allgemeine, praktische Anwendung für dieses Entwicklungsdenken. Leitmotiv ist dabei, daß ein wahrhaft gott-trunkener Mensch in seinem Auftreten spontan seine Liebe zu Gerechtigkeit, Wahrheit, Echtheit, Güte und all den anderen Eigenschaften äußert, die von der Manifestation des Geliebten hervorgerufen werden.
Zu oft hat die Gesellschaft in ihrer Geschichte unter äußerlich frommen Menschen gelitten, die Säulen ihrer Kirchen und Zierrat ihrer Gemeinden und vor allem fest davon überzeugt waren, daß sie das »Heil« hätten und ungestraft gegen die Grundregeln anständigen Betragens verstoßen könnten. Diese »Erlösten« führten doppelte Sittenmaßstäbe ein, mit anderen Regeln für sich selbst als für das Fußvolk. Die Selbstgerechten waren auch immer bemerkenswert unaufgeschlossen für die Lehren und Gebote eines neuen Propheten. Jesus versuchte nicht, die »Gerechten«, die angesehenen Pharisäer und Schriftgelehrten, zu retten. Er spendete Seinen Segen nicht denjenigen, die überzeugt waren, sie hätten das Heil in Händen, sondern den Sündern, die dennoch nicht aufhörten, nach Gerechtigkeit zu hungern und zu dürsten. Wahre Mystik ist nicht die Zuflucht des Schurken, der Hafen des Selbstbewunderers oder das Asyl dessen, der der gesellschaftlichen Verantwortung flieht. Durch Sieben Täler geht die Straße des Fortschritts, die zur Erkenntnis Gottes und zum Dienst an der Menschheit führt.
Die »Vier Täler«, ein Sendschreiben, das in Bagdád nach den »Sieben Tälern« verfaßt wurde, waren an den gelehrten Shaykh ‚Abdu’r-Rahmán aus Karkúk, einer Stadt im irakischen Kurdistán, gerichtet. Sie legen vier Wege dar, auf denen das Ungeschaute gesehen wird, die vier Stufen des menschlichen Herzens und die vier Arten mystischer Wanderer auf der Suche nach dem Ersehnten, dem Gepriesenen, dem ewig Anziehenden, dem Geliebten. Die vier göttlichen Zustände kommen in dem Qur’án-Vers (57,3) zum Ausdruck: »Er ist der erste und der letzte, der Sichtbare und der Verborgene, und Er weiß um alle Dinge«.